Mittwoch, 27. Dezember 2017

Die Flüchtlinge, die Zurückgelassenen und linke Verantwortung.

Offene Fragen zum Aufsatz von Slavoj Zizek: "Die wahren Zurückgelassenen werden aufbegehren" (Neue Züricher Zeitung vom 12.12.2017)

1.
Flüchtlinge ziehen auch die linke Aufmerksamkeit erst auf sich, wenn sie die Grenzen europäischer Staaten überwinden oder davor scheitern. Nicht als "nomadisches Proletariat" und nicht als potentielles "revolutionäres Subjekt", sondern als passives Objekt staatlicher Administration konfrontieren sie uns, ob wir wollen oder nicht, zu allererst mit unserem Verhältnis zum Staat, seiner hoheitlichen und seinen sozialen Funktionen. Sogar die schein-radikale Forderung nach unbegrenzter Aufnahme aller Notleidenden stößt uns unvermittelt auf die Frage, wer die Aufnahme, menschenwürdige Unterbringung und Versorgung sichern soll wenn nicht die einzige Macht, die wir dafür verpflichten und belangen können: der bis auf weiteres unverzichtbare Nationalstaat. Denn es gibt auf absehbare Zeit keine supranationale Behörde, die dazu mächtig genug wäre.

Erst wenn das geklärt und akzeptiert ist, betreffen die Geflüchteten uns zweitens als Anforderung an unser ethisch-moralisches Empfinden, als Objekte unserer brüderlichen Empathie. Drittens, wie alles Fremde-Neue: als kulturelle Herausforderung. Erst dann, viertens, treten sie uns als Konkurrenten bei der Verteilung des Sozialprodukts und zuletzt als potentielle Ko-Produzenten und Konkurrenten im Arbeitsprozess entgegen.

Diese Rangfolge im Problembewußtsein stellt die Kausalbeziehungen der Gesellschaft auf den Kopf. So unverhandelbar es ist, die bis hierher Geflüchteten als Gleichwertige zu akzeptieren und ihre Menschenwürde aktiv zu verteidigen - viel mehr müssten wir nach Wegen suchen, die Ursachen der Flucht zu beseitigen. Und die Ursachen liegen vor allem anderen in dem begründet, was Zizek "unsere missliche Lage im System des globalen Finanzkapitalismus" nennt. Daher müsste uns die Stellung der Geflüchteten und noch mehr der in ihrer Heimat "Zurückgebliebenen" in der materiellen Produktion der Lebensgrundlagen, sowohl auf globaler als auch auf unserer nationalen Ebene, vorrangig angehen.

2.
Nicht nur juristisch, sozialstaatlich und kulturell, sondern strukturell erweitern die Geflüchteten die aufnehmende Gesellschaft um eine Dimension. (Historisch neu sind solche Prozesse nicht, die letzte große Erweiterung erfuhr unsere Gesellschaft durch das Millionenheer anatolischer Bauernsöhne, die als "Gastarbeiter" kamen und blieben.) Die jetzt bis zu uns Geflohenen sind, wie Zizek richtig bemerkt, erst einmal "nichts", ohne Platz im sozialen Gefüge des Aufnahmelandes. Und von hier ist es nicht nur "ein langer Weg zum Proletariat im Marx'schen Sinne," sondern überhaupt fraglich, welchen sozialen Status sie auf Dauer und massenhaft in unserer Gesellschaft einnehmen können. Denn schon heute übersteigt das Angebot an Arbeitskräften die Nachfrage, mit den bekannten Folgen fortschreitender Aufspreizung der Qualifikationsniveaus und Einkommen, beschleunigter Prekarisierung und Aussonderung der "Abgehängten". Das dürfte schon ohne Zuwanderung in den nächsten Jahrzehnten bei uns zu sozialen Verwerfungen führen, auf die wir in keiner Weise vorbereitet sind.

Doch die zu uns Geflüchteten waren ja nicht von Haus aus "nichts", sondern gehörten in ihren Herkunftsländern zum Mittelbau mehr oder weniger feudal geprägter Gesellschaften. Zum Unterschied von den Arbeitermilieus dort und hier begreift Zizek sie "vielmehr als Avantgarde jenes dynamischen und ambitiösen Teils der Bevölkerung, als jene, die willens sind, aufzusteigen und weiterzukommen." Wenn das zutrifft, stellt ihre Integration weder unsere Gesellschaft als ganze noch unsere Arbeiterklasse vor grundlegend neue Strukturprobleme, sondern verschärft "nur" Konflikte, die wir ohnehin in nächster Zeit gegen unsere herrschende Klasse auszufechten haben, bei Strafe des Untergangs.

3.
Im globalen Maßstab stellt sich die Lage allerdings anders dar. Wie Zizek schreibt und auch andere Quellen belegen, umfasst der kapitalistische Sektor der Weltwirtschaft nur etwa 20 Prozent der Arbeitszeit zur Produktion aller Güter und Dienstleistungen; 80 Prozent der Menschheit versorgen sich selbst mit eigenen kargen Subsistenzmitteln, zwar ausgeplündert und vielfach noch der notdürftigsten Grundlagen beraubt durch nationale Komplizen der Großmächte, aber ohne Dazwischentreten kapitalistischen Eigentumsrechts. Das erklärt, warum weltweit die Klasse der Lohnarbeiter tatsächlich nicht mehr als 20 Prozent der erwerbstätigen Menschheit ausmacht.

Dies ist es, was die Brandstifter umtreibt. Kritische Analysen der Fluchtursachen führen die rapide ansteigende Zahl kriegerischer Konflikte fast ausnahmslos auf die Begierde großer (finanz-)kapitalistischer Konzerne zurück, ihre Eigentums- und Ausbeutungsrechte auf immer größere Teile der Erde auszudehnen.

Weltgeschichtlich stehen wir also heute wieder vor denselben Fragen wie die "Dritte Welt" nach dem zweiten Weltkrieg: Muss - nein: kann die Mehrheit der Menschheit es sich leisten, zur Steigerung ihres Wohlstands einen Entwicklungsweg einzuschlagen, der sie zunächst der Herrschaft imperialistischer Mächte ausliefert, um diese dann in langwierigen, opferreichen Kämpfen zu überwinden? - Oder gibt es einen direkteren Weg zum besseren Leben? Wie können die "Zurückgelassenen" eine nationale Souveränität erkämpfen, die mit der Ausplünderung ihrer Ressourcen und der militärischen Verwüstung ihrer Territorien Schluss macht? Welche Power haben in diesem weltweiten Kampf die 80 Prozent und welche die 20 Prozent?

Noch einmal mit Zizek gefragt: "Können sich die lebenden Toten des globalen Kapitalismus vereinen, all die Zurückgebliebenen, jene, die sich den neuen Bedingungen nicht anzupassen vermögen?"

Und welche praktische Verantwortung hätten wir Linken dann ihnen gegenüber? Wird die LINKE heute dieser Verantwortung gerecht?


Samstag, 16. Dezember 2017

Notizen aus der Provinzhauptstadt: „Smart City Dortmund“ oder wie man große Rosinen zu kleinen Brötchen schrumpft

Als der Stadtrat im Juli 2016 auf Vorschlag der Stadtspitze einen „Masterplan Digitales Dortmund“ in Auftrag gab, versprach er sich und den Dortmunder-innen damit einen Aufschwung der lokalen Wirtschaft, neue Geschäftsfelder für Unternehmen und digitale Start-ups, flächendeckende digitale Bildung in den Schulen und effektivere, bürgerfreundlichere Stadtämter. Wir, die Ratsfraktion LINKE&Piraten, betonten in einem zweitägigen Seminar die Chance, mithilfe umfassender Digitalisierung des Alltagslebens das allgemeine Bildungsniveau zu heben und die Stadtbewohner-innen zu echter Teilnahme an der Stadtpolitik zu aktivieren.

Kurz darauf ging der Rat noch einen Schritt weiter und  beschloss, aus Dortmund eine „Smart City Dortmund“ zu machen:
„Gemeinsam mit Wissenschaft, Wirtschaft und Zivilgesellschaft sollen Projekte zur intelligenten und vernetzten Stadtentwicklung initiiert und umgesetzt werden, die die Stadt zum Innovationslabor für neue Konzepte und Projekte machen und insbesondere den Norden Dortmunds zum „Schaufenster Smart City“ für die Gesamtstadt und für die Region werden lassen.“

Um diese Pläne umzusetzen luden die Stadt, die Industrie-und Handelskammer sowie der auf diesem Gebiet weltweit führende US-Konzern CISCO im Dezember 2016 handverlesene Vertreter der IT-Fachwelt zur Gründung einer „Allianz Smart City Dortmund – Wir.Machen.Zukunft“ ein. Im Ratsbeschluss dazu hieß es:
„Die Kommune organisiert den gesellschaftlichen Dialog und die Beteiligung der Zivilgesellschaft. Sie konzipiert, initiiert und verstetigt mit der „Allianz Smart City Dortmund“ einen Beteiligungsprozess bzw. eine Dialogplattform, die die Partner aus Wirtschaft und Wissenschaft dabei unterstützt, miteinander smarte Projekte zu entwickeln und gemeinsame Geschäftsfelder, Technologien und Netzwerke der Zukunft für sich zu erschließen. Die „Smart City Dortmund“ bündelt, stärkt und vernetzt vorhandene unternehmerische und wissenschaftliche Ressourcen, trägt Sorge für die Partizipation der Zivilgesellschaft und erprobt die smarte Nutzung von innovativen Informations- und Kommunikationstechnologien.“

Große Visionen, starke Sprüche. Es schien als ob wir mit unseren Forderungen nach Demokratisierung der Stadtpolitik und massenhafter Verbreiterung des Bildungsniveaus bei der Obrigkeit offene Türen einrennen. Zumal der Masterplan versicherte:
„Ein besonderes Augenmerk wird auf der Strahlkraft einer digitalisierten Stadtverwaltung für den Bereich Bildung liegen.“

Inzwischen wurden ca. zwei Dutzend von über einhundert geplanten oder schon gestarteten Projekten öffentlich vorgestellt. Das Ergebnis ist ernüchternd und entmutigend:

-       Die bisher bekannten Projekte wurden ausnahmslos von oben nach unten in Expertenteams konstruiert, als mehr oder weniger öffentlich gesponserte Plattformen, auf denen bestimmte IT-Unternehmen ihre Hard- und Software-Produkte präsentieren und vermarkten können.  Von den 79 Unternehmen, die in der „Allianz“ kooperieren (Stand März 2017), sind 46 nicht in Dortmund ansässig, meist weltweit tätige Technologie-Konzerne. Von den mehr als 11.300 eingetragenen Mitgliedsfirmen der IHK Dortmund waren bis November 2017 nur etwa drei Dutzend der „Allianz“ beigetreten.

-       Entsprechend technologisch abgehoben und bürgerfern stellen sich die Projekte dar. Soweit überhaupt kommen die Bürger darin nur rein passiv als Kunden, Anwender und Datenquellen vor, ohne selbst irgendwo Einfluss nehmen oder gar mitgestalten zu können. Als (potentielle) Nutzer von Energie- und Verkehrssystemen, besonders von E-Autos sind sie allerdings hoch willkommen. Nur drei Projekte bieten den Stadtbewohnern Plattformen (websites, Apps) für eine – thematisch begrenzte – Kommunikation untereinander.

-       Ebenso bleibt die breite Masse der Dortmunder Nicht-IT-Unternehmen mit ihren Digitalisierungsproblemen sich selbst überlassen, kein einziges Projekt bietet ihnen Hilfen beim digitalen Umbau betrieblicher Abläufe.

-       So oft in den Beschlüssen auch die Wichtigkeit von Bildung betont wird – nur ein einziges Projekt ist speziell auf jugendliche Nutzer zugeschnitten, aber auch dies behandelt sie nur als Nutzer. Die digitale „Bildung“ reduziert sich so auf die Fähigkeit, eine App aufs Smartphone zu laden und anzuwenden oder in einer fremden website zu navigieren.

-       Über den Datenschutz bzw. die mögliche Verwendung der in den Projekten gewonnenen Datenmengen hüllen sich die Macher der „Allianz“ in absolutes Schweigen. Die Fa. CISCO wurde aber schon vor Jahren der engen Zusammenarbeit mit US-Geheimdiensten überführt und hat das indirekt bestätigt.


Bei unserer ersten Auswertung der wenigen bisher zugänglichen Informationen bekräftigte unsere Fraktion die Absicht, eine breite Anwendung digitaler Techniken in allen Bereichen des städtischen Lebens aktiv voran zu treiben und dazu auch die Masterpläne und die „Allianz…“ zu nutzen – aber eben nicht technokratisch-bürokratisch von oben herab, sondern demokratisch und aktivierend.

Mittwoch, 6. Dezember 2017

Notizen aus der Provinzhauptstadt: Linke & Piraten wollen Mehreinnahmen der Stadt für soziale Verbesserungen nutzen.

Zwei von 17 Haushaltsanträgen auch zur Beschäftigungspolitik

Rekordeinnahmen bei der Gewerbesteuer. Höhere Schlüsselzuweisungen vom Land. Am 14.12.2017 will der Stadtrat den Haushalt für 2018 beschließen. Fraktionsvorsitzender Utz Kowalewski für LINKE & PIRATEN: „Das Konjunkturhoch müssen wir nutzen, um ganz konkrete Verbesserungen für die Dortmunder Bevölkerung zu erreichen.“ Unter unseren sozialpolitischen Forderungen stehen die dringenden Probleme der Nordstadt im Fokus. Und zwei Anträge zur Beschäftigungspolitik der Stadt.

Antrag 9: Übernahme von AGH-Kräften in das Tiefbauamt
Den in den Projekten des Tiefbauamtes beschäftigten externen Mitarbeitern aus dem Bereich der Arbeitsgelegenheiten (AGH) werden Perspektiven für eine Übernahme in den Bereich Stadtgrün des Tiefbauamtes eröffnet. Dies ist im Organisationsverfahren im Bereich Grünpflege zu berücksichtigen.
Begründung:
AGH-Stellen sind nur dann zu rechtfertigen, wenn mit ihnen eine konkrete Perspektive zur Eingliederung in den ersten Arbeitsmarkt verbunden ist. Ihre Tätigkeiten müssen zusätzlich sein und dürfen nicht in Konkurrenz zum ersten Arbeitsmarkt stattfinden. Gleichzeitig ist jedoch festzustellen, dass Menschen, die ohne eine ordentliche Bezahlung unter Sanktionsandrohung zur Arbeit angehalten werden, sich in ihrer Menschenwürde reduziert fühlen. Zudem sorgen nach Untersuchungen der Hans-Böckler-Stiftung AGHs durch den sogenannten Einsperreffekt für eine längere Verweildauer im SGB II-Bezug als ohne Arbeitseinsatz in einer AGH. Daher ist aus unserer Sicht erforderlich, dass mit dem AGH-Einsatz eine konkrete Übernahme in eine reguläre Beschäftigung in signifikanter Größenordnung verbunden ist.

Antrag 13: Erhöhung der Ausbildungsquote
Der Rat beschließt die bedarfsgerechte Erhöhung der Ausbildungsquote um mindestens 1 Prozent zum neuen Ausbildungsjahr 2019.
Begründung:
Bereits aktuell kommt es zu Problemen bei notwendigen Stellenbesetzungen bedingt durch die Altersfluktuation und den Aufgabenzuwachs in der Verwaltung sowie mangelnde Bewerber auf dem Arbeitsmarkt. So ist aktuell eine größere Anzahl an Stellen unbesetzt. Um eine funktionsfähige Verwaltung aufrechterhalten zu können, stellt sich die eigene Ausbildung als geeignetes Instrument dar, den Bedarf an Nachwuchskräften sicherzustellen.
Auf die Analyse des Personalrates zum Stellenplan für das Haushaltsjahr 2018 wird verwiesen.

"Entwicklung ist eine Fata Morgana"

"Es ist ein Irrtum zu glauben, dass mehr Wirtschaftswachstum die sozialen Probleme auf diesem Planeten lösen wird. Die Wirklichkeit beweist uns ständig das Gegenteil: Wirtschaftswachstum vertieft nicht nur die ökologische Ungleichheit weiter, sondern vergrößert die Kluft zwischen Reichen und Armen. Man darf nicht vergessen, dass Kriege mit Waffen aus Ländern geführt werden, die von diesem Geschäft profitieren. Dass Profit, Einkommen, Arbeitsplätze und technologischer Fortschritt geschaffen werden, um zu töten. „Wir sind hier, weil ihr unsere Länder zerstört“ ist seit langem ein Slogan selbstorganisierter Geflüchtetenorganisationen."
Alberto Acosta, Ökonomie-Professor aus Ecuador

Dienstag, 28. November 2017

GroKo? Minderheitsregierung? Egal, die Herrschaften bleiben eh‘ unter sich. Aber ihr "Weiter-so" funktioniert nicht mehr.

Nach dem Scheitern der Jamaika-Sondierungen wird jetzt die brave alte SPD so lange weich gekocht, bis sie freiwillig den Geist aufgibt. Noch vier Jahre Merkels Stallknecht, und niemand kann sich mehr erinnern, dass diese Partei jemals eine andere gesellschaftliche Rolle spielte als den Neoliberalismus rosa zu sprenkeln und den eigenen Funktionären warme Plätzchen zu sichern. War das ihr Wählerauftrag? War die Sozialdemokratie nicht als historische Gegenkraft gegen Kapitalherrschaft und Ausbeutung gegründet worden? Waren nach der schallenden Ohrfeige von den Wählern am 24.09.2017 nicht zwei Jahre "Erneuerung" angesagt? Alles vergessen außer dem "Weiter-so"?

Ob die Sozialdemokraten es erkennen oder nicht, sie stehen vor einer Entscheidung von historischer Tragweite. Seit Gerhard Schröder 2005 wegen der Hartz-Gesetze die Kanzlerschaft vergeigte und der ersten GroKo unter Angela Merkel Platz machen musste, hat die SPD in drei Großkoalitionen 18 Prozent ihrer Wählerstimmen verloren und rauschte von 38,5% auf 20,5% in den Keller. Jetzt noch eine GroKo, und sie kracht in vier Jahren nach Adam Riese auf ca. 15 Prozent ab. Von da an gibt es in Deutschland nur noch eine einzige „Volkspartei“, ohne die niemand mehr regieren kann – Merkels „marktkonforme Demokratie“ in Ewigkeit amen.

Warum brennen die führenden SPD-Köpfe jetzt trotzdem so heftig auf eine „stabile Regierung"? Weil der Wirtschaftslobby (zu der auch fast alle Spitzenfunktionäre der SPD zählen) die Muffe geht: Unübersehbar steht unsere Gesellschaft an einer Zeitenwende. Auf der Kippe steht der Status quo. Nicht nur Deutschland und Europa, die ganze „westliche" Welt steckt in einer tiefen Krise. Die großen Wirtschaftsmächte ringen darum, wer als Gewinner und wer als Verlierer aus der Krise herauskommt. Es geht also wieder mal um die Stärke des deutschen Kapitals in der Welt. Hier die wichtigsten Krisenmomente:

- Vordergründig leiden die führenden Industrieländer am Schrumpfen ihrer wirtschaftlichen Wachstumsraten.1 Eine kapitalistische Wirtschaft ohne Mengenwachstum mindestens in Höhe des Produktivitätsfortschritts erzeugt aber immer krassere soziale Gegensätze, "bad jobs", Arbeitslosigkeit, Armut, mit allen Folgen eskalierender Konflikte, bis hin zu verödeten Regionen, zerfallenden Staaten, Aufständen, Sezessionen, Bürgerkriegen; auf längere Sicht läuft sie Gefahr, am Widerspruch zwischen Produktivitätszuwachs und stagnierenden Märkten zu ersticken.

- Zum Krisenproblem wird aber auch die Fortsetzung der Wachstumsdynamik, weil sie schon lange und zunehmend Raubbau an den natürlichen Ressourcen betreibt und global unsere Lebensgrundlagen zerstört (Klima, Wasser, Boden, Vegetation, Artenvielfalt). Da dies Problem erwiesenermaßen mit marktwirtschaftlichen Methoden nicht gelöst werden kann (siehe die Ohnmacht der Klimakonferenzen gegenüber „den Märkten"), führt es zu Massenmigrationen in den ruinierten Weltregionen und aus diesen heraus in die Wohlstandsgesellschaften.

- Nach 1989 haben bewaffnete Konflikte weltweit massiv an Zahl, Umfang der Zerstörungen und zivilen Opfern zugenommen. Eine wesentliche Ursache, auch für Bürgerkriege, Warlords und Terrorarmeen, bildet die aggressive Konkurrenz der kapitalistischen Mächte um Märkte und Einflusszonen. Die Folge sind weiter anschwellende Flüchtlingsströme aus zerstörten und verelendeten Zonen, gegen die sich die "zivilisierten" Länder zunehmend abschotten und ent-demokratisieren (Anti-Terror-Gesetze, Flüchtlingslager, autoritäre Regimes usw.)
Nicht zuletzt wächst damit die Gefahr direkter militärischer Konfrontation der Großmächte.

- Die EU gilt noch vielen als Garant des Friedens zwischen den früheren europäischen Kriegsgegnern. Doch seit der Wirtschafts- und Finanzkrise 2008, die in vielen Ländern bis heute nicht überwunden ist, zerfällt die EU, und hinter der Friedensfassade trumpft der alte deutsche Vormachtanspruch wieder auf. In vielen Ländern, aber auch bei uns werden nationalistische und faschistische Bewegungen offen oder heimlich unterstützt, um mit Hetze gegen Flüchtlinge, Einwanderer, Muslime, die „faulen Griechen" usw. den Volkszorn auf äußere Feindbilder abzulenken.

- Nicht dramatische Schreckensszenarien einer angeblich drohenden „Explosion" der Weltbevölkerung, sondern die abgrundtiefe Kluft zwischen reichen und armen Weltregionen wird noch weit stärkeren Wanderungsdruck auf die reichen Staaten erzeugen, als wir uns das heute vorstellen können, und hier zu mehr und mehr gewaltsamer Abwehr führen.

Wer hat uns in diese Abwärtsspirale hineingetrieben? Unfähige Regierungen, korrupte Meinungsmacher, dumme "Eliten", raffgierige Spekulanten, kurzsichtige Unternehmer, egoistische Verbraucher, unmündige Wähler? Ja und nein. Sie alle haben ihre bestimmte Stellung im Gesellschaftssystem, nach dem das Zusammenleben einige Jahrhunderte lang funktionierte. Sowohl die Produktion des materiellen Reichtums als auch die zugehörige, von den Marktbeziehungen der Privateigentümer geprägte Lebensweise treibt uns in die Krisenspirale hinein. Und die Gier der Superreichen ist die schlimmste Krisenursache.

Das alles wissen die alten Hasen der „politischen Klasse“ so gut wie wir. Und sie wissen auch: Egal ob man die heutige Entwicklungsstufe der Menschheit "Kapitalismus", "Moderne", "das bürgerliche Zeitalter" oder sonstwie nennt, kennzeichnet sie eine Gesellschaft, in der eine Minderheit über die wichtigen Produktionsmittel als ihr Privateigentum verfügt, so dass die Mehrheit, die im wesentlichen nur ihre Arbeitskraft besitzt, diese an die Kapitaleigentümer verkaufen muss, um leben zu können. Aus diesem Klassengegensatz auf der Produktionsebene ergibt sich ihr unterschiedlicher Einfluss im gemeinsamen politisch-juristisch-ideologischen Überbau, den sie, die „Elite“, das Bürgertum aufgrund der Eigentumsordnung dominiert. Das ist der Status quo, den sie verteidigen. Dazu brauchen sie ihre „stabile Regierung“, egal wie.

Und wenn die SPD nicht umfällt?

Wie sich aus dem bisher Gesagten mit zwingender Logik ergibt, müsste eine Mehrheit der Bevölkerung, bestehend aus der Arbeiterklasse und Teilen des kleinen und mittleren Bürgertums, objektiv ein unmittelbares, starkes Eigeninteresse an einem Systemwechsel haben. Doch dem objektiven Interesse entspricht kein subjektives Wollen. Ganze Bibliotheken sind voll von Untersuchungen, mit welchen Methoden die herrschende Klasse es noch schafft, die Mehrheit an der Suche nach einer Alternative zu hindern. (Die platte Argumentation, ein anderes System sei abzulehnen, weil die Mehrheit kein anderes wünscht, ist daher so inhaltsleer wie die Aussage: "Die Mehrheit hat recht, weil sie die Mehrheit ist und Mehrheiten immer recht haben.")

Bekanntlich lässt sich aber die Zukunft kaum nach den Gesetzen der Logik vorhersehen und schon gar nicht nach diesen allein. Wir sagen, für etwas Neues muss die Zeit reif sein. Oder mit Karl Marx' Worten: "Eine Gesellschaftsordnung geht nie unter, bevor alle Produktivkräfte entwickelt sind, für die sie weit genug ist, und neue höhere Produktivkräfte treten nie an die Stelle, bevor die materiellen Existenzbedingungen derselben im Schoße der alten Gesellschaft selbst ausgebrütet worden sind." (K.Marx, Zur Kritik der Politischen Ökonomie, MEW Band 13, Berlin 1972, S.9)

Diese allgemeine Einsicht gilt selbstverständlich auch für die Strategie politischer Parteien, die eine neue Gesellschaftsordnung anstreben. Sie haben zu beachten, dass der Kapitalismus besonders auf vier Gebieten die Produktivkräfte noch erheblich weiter entwickeln und zugleich die materiellen Bedingungen für eine neue Gesellschaft "ausbrüten" kann:

- Die weltweite Ausdehnung der kapitalistischen Wirtschaft ("Globalisierung") kann noch riesige Arbeitskraftreserven mobilisieren und Märkte erschließen. - Diese Tendenz steht allerdings im labilen, sich täglich verschärfenden Gegensatz zu den eingangs skizzierten Krisenmomenten.

- Die Wissensproduktion mithilfe neuer Informationstechnik (Computerisierung) hebt die Fähigkeiten der menschlichen Arbeitskraft auf bisher unbekannte Höhen verwissenschaftlichter Produktion - und qualifiziert damit die Arbeiterklasse weiter zur Übernahme der Produktion und Verteilung in eigene Regie.

- Die digitale Vernetzung der Produktions- und Marktbeziehungen über die Grenzen der Einzelkapitale hinaus erzeugt Rationalisierungsschübe von noch nicht absehbaren Ausmaßen - und stößt zugleich an die Grenze der gegenwärtigen Eigentumsverhältnisse.

- Die Gentechnologie kann im Zusammenwirken mit einer echten, dezentralen Energiewende sowohl die Nahrungsmittelproduktion als auch den Ressourcenverbrauch so revolutionieren, dass der Kollaps des Ökosystems vermieden werden kann.

Ob bzw. wie weit „die Märkte" - die chaotischen Konjunkturen privater Investitionsentscheidungen! - zu so großen Sprüngen fähig sind, liegt noch im Dunkeln. Dennoch erzeugen oder verstärken diese gigantischen wirtschaftlichen Potentiale bei vielen Menschen Hoffnungen auf eine Verbesserung ihrer Lebenslage und die Überwindung der Krisen innerhalb der bestehenden Ordnung; und vielleicht noch mehr Menschen sehen darin den Spatz in der Hand, den sie einer unbekannten Taube auf dem Dach vorziehen. Diese Menschen bilden die eigentliche Massenbasis der Sozialdemokratie. Ihnen würde die SPD mit einer neuen GroKo in den Rücken fallen – oder aber mit einer linken Reformalternative ein neues politisches Ziel geben.

Dass eine Mehrheit trotz der unübersehbaren Endzeitsymptome der Gegenwart noch davor zurückschreckt, sich eine Zukunft über den Kapitalismus hinaus ernsthaft vorzustellen, ist also keineswegs nur der herrschenden Propaganda geschuldet, sondern Ergebnis einer durchaus nüchternen materiellen Abwägung: Wie immer in der Geschichte lässt sich die Mehrheit erst auf Neues ein, je mehr sie sich durch Tatsachen überzeugen kann, dass das Neue dem Altgewohnten überlegen ist. Die Folge ist, dass Altes und Neues meist lange nebeneinander bestehen, bis das Neue sich durchsetzt.

Es würde sich aber niemals durchsetzen, wenn es keine tatkräftige und zielklare Minderheit gibt, die mit seiner praktischen Verwirklichung anfängt. Dazu braucht es sowohl die LINKE als auch eine selbstbewußte, ihrer historischen Bedeutung bewußte SPD. Gemeinsam wären wir auch in der Opposition eine starke Gegenmacht, die zeigen kann, wie soziale Gerechtigkeit, Ökologie und Friedenspolitik auch gegen die Blockade einer kurzsichtigen Oberschicht praktisch zu verwirklichen sind.


1 Jährliche BIP-Zunahme von 2008 bis 2016 in der OECD durchschnittlich +1,1 % - in der BRD +0,95 % - in den 90‘er Jahren lag sie noch bei +2,6 % (OECD) bzw. +2,3 % (BRD). Dieser rückläufige Trend geht einher mit einem Zurückbleiben der Industrieproduktion hinter dem „Volkseinkommen" (Summe der Arbeitsentgelte plus Unternehmens- und Vermögenseinkommen)

Freitag, 10. November 2017

Ein „Godesberg“ für die LINKE? „Alternative innerhalb des Systems“ sei „alternativlos“, meint Heiner Flassbeck.

Heiner Flassbeck ist ein Ökonom, dessen Beiträge zur „Regimekritik“ des Neoliberalismus Spitze sind. Über seine Ratschläge zur Strategie der Linken kann ich nur den Kopf schütteln, sie zeugen von erstaunlich ahistorischer Kurzsichtigkeit. In einer Wortmeldung zu den Ergebnissen der Bundestagswahl polemisierte er jetzt gegen jene Linken, die sogar in Wahlprogrammen immer noch auf eine Zukunft jenseits des Kapitalismus setzen.

Den Kern seiner Einwände gegen sozialistische Zukunftsträume bringt schon seine Überschrift auf den Punkt: "Gibt es nur eine Alternative im Nirgendwo?" Ins Nirgendwo führe nämlich die linke "Flüchtlingsdebatte", und zwar vor allem, weil in linken Kreisen "der Kapitalismus" als solcher am Pranger stehe. Das hält Flassbeck für abwegig, weil heute niemand sagt (und sagen kann), wie eine nicht-kapitalistische Zukunft besser funktionieren soll als das gegenwärtige System.

Na und? frage ich, was unterscheidet darin die Endzeit der bürgerlich-kapitalistischen Ära von allen vorhergegangenen Epochen? War es nicht immer so, dass die Herrschenden ihre Herrschaft schon deshalb für ewig hielten, weil sie sich partout nicht vorstellen können, wie eine subalterne Klasse dahergelaufener Nobodys, die bis dato keinerlei politische Rolle spielte, arme Teufel, ungebildet, schlecht organisiert, mit der Macht unvertraut und ohne Plan, ein ganz neues Herrschaftssystem aus dem Boden stampfen könnte? Und haben die Nobodys nicht doch immer ihren ganz neuen Weg in unbekanntem Gelände suchen müssen - und gefunden?! Hatte das junge Bürgertum, als es erst in England, dann in Frankreich Revolution machte und seine bürgerliche Herrschaft erfand, etwa ein fix-und-fertiges Rezept in der Tasche, eine Roadmap in die Zukunft? Nein, Flassbeck, man muss nicht Geschichte studiert haben um zu erkennen, dass der Einwand, wir hätten keinen genauen Plan für's Leben jenseits des Kapitalismus, ahistorisch kurzsichtig ist. Wer von der Linken so einen Plan erwartet, wird zeitlebens der realen Entwicklung hinterher traben.

Zu kurz ist aber auch die Messlatte, die Flassbeck an jegliche Zukunftsvision anlegen will: „Die große Mehrheit will kein anderes System." „Kritische Linke bestätigen permanent, dass es keine Alternative außer dem Umbruch, der Revolution gibt, die aber die Menschen in den westlichen Gesellschaften mit großer Mehrheit ablehnen..."

Wie hat man sich dann also die Geburt einer neuen Zeit vorzustellen? Durch Ankreuzen auf dem Wahlzettel? Darf die Menschheitsgeschichte unter keinen Umständen fortschreiten, ehe nicht die Mehrheit zugestimmt und idealerweise das alte bürgerliche Parlament ihr Votum beglaubigt hat? In der wirklichen Geschichte können wohl große Menschenmassen (Mehrheiten??) überlebte Strukturen umstürzen, wenn diese nicht mehr ihren Bedürfnissen entsprechen. Aber dem Neuen, das regelmäßig von Minderheiten aus der Taufe gehoben wird, stimmt die Mehrheit erst nach und nach zu, je mehr sie sich praktisch überzeugen kann, dass es dem Altgewohnten überlegen ist. Die Folge ist, dass Altes und Neues meist lange nebeneinander bestehen, bis das Neue sich endgültig durchsetzt. Wer sich historische Schübe wie die Auflösung der bürgerlich-kapitalistischen Verhältnisse so idyllisch – vielmehr bürokratisch! – vorstellt, dass man sie an einem Wahlsonntag erledigen kann, liegt mindestens ebenso falsch wie jene Revoluzzer, die vom großen Kladderadatsch träumen.

An dieser Stelle geht es ans Eingemachte: Hier müsste nämlich auch ein Makroökonom sich fragen, was eigentlich (außer dem Wahlprogramm der Linkspartei, haha) geschichtliche Entwicklungen voran treibt. Hat der angeblich alternativlose Kapitalismus überhaupt eine Zukunft? Vielmehr wir, die Menschheit, in ihm? Ich meine damit hier jetzt nicht das Katastrophenszenario, das uns täglich mehr Menetekel an die Wand schreibt. Sondern die ernste Frage, wie weit das trägt, was Flassbeck als "Alternative innerhalb des Systems" empfiehlt: "höhere Löhne, Umverteilung von Reich zu Arm, bessere soziale Absicherung der Arbeitslosen und vom Staat Abhängigen" und alles wird gut?

Hier stößt der seriöse Wirtschaftsfachmann an die Grenzen seiner wissenschaftlichen Sorgfaltspflicht. Anstelle solcher wohlfeilen Patentrezepte hätte er zu fragen, welche systemischen Ursachen die doch unübersehbaren Krisenerscheinungen haben, die "den Kapitalismus" seinem Kollaps zutreiben. – Falsch, sagt Flassbeck, "den Kapitalismus" gibt es ja gar nicht. - Aber dessen Krise(n) gibt es, und sollte die Analyse ergeben, dass sie systemische Ursachen haben, etwa in den zunehmenden Widersprüchen einer Produktionsweise, die vom Privateigentum an den Produktionsmitteln und somit von Marktbeziehungen geprägt ist, mit der fortschreitenden Vergesellschaftung der Arbeit, dann müsste auch der Ökonom sich um die Zukunft Sorgen machen.

Flassbeck hinterfragt das aber nicht. Wenn die Leute keine andere Alternative wollen, meint er, hätten sie "damit vollkommen Recht. Denn es gibt kein anderes System, das man heute jenseits von Träumereien und Spinnereien als ernstzunehmende Alternative an den Mann und an die Frau bringen könnte." Basta! Also müssten wir uns mit dem abfinden, was wir den Privateigentümern vom gesellschaftlichen Reichtum vielleicht abringen können.

Und weil er das für die historische Perspektive hält, setzt er all seine und unsere Hoffnung auf "den Staat". – Wer aber ist "der Staat"? Flassbeck äußert sich dazu nicht weiter. Da erscheint der Staat als ein neutraler Dritter zwischen Reich und Arm, neben Kapital und Arbeit, sogar als demokratische Herrschaft über das Kapital. Kann das sein?

Unbestreitbar wird Wirtschaft schon seit Jahrtausenden staatlich organisiert. Genauer gesagt: mithilfe der Staatsmacht. Denn Staat ist Macht. Und zwar eine andere Art Macht als die wirtschaftliche. Wer sind die Träger der Staatsmacht? Individuen? Beamte? Gewählte “Volksvertreter“? “Die Wähler“? Nun, alle politische Macht basiert auf den verschiedenen Funktionen der Gesellschaftsklassen in der Produktion des gesellschaftlichen Reichtums. Vor allen anderen hier zu nennen: Kapital und Arbeit. Das Kapitalverhältnis, als gesellschaftliches Verhältnis des Privateigentums an den Produktionsmitteln und seiner Kehrseite, der Lohnarbeit, erzeugt aber ein asymmetrisches Abhängigkeitsverhältnis der Arbeit vom Kapital. Wer auch nur einen Tag in einem kapitalistischen Unternehmen beschäftigt war, wird das bestätigen. Dies Klassenverhältnis macht den Staat zum Machtinstrument der Kapitalistenklasse.

In ihm sind die grundlegenden, systemtypischen Konflikte nicht von kurzfristigen (Wähler-) Präferenzen erzeugt, nicht einmal an bestimmte Regierungsformen gebunden (etwa die parlamentarische Demokratie), sondern vom Niveau und der langfristigen Entwicklung der Produktivkräfte der Gesellschaft abhängig. Die zukunfts-entscheidende Frage ist also nicht, ob und wieweit “der Staat“ in demokratischer Willensbildung den Kapitalismus zügeln und humanisieren kann, sondern: Sind die dramatisch eskalierenden Widersprüche innerhalb der kapitalistischen Produktionsverhältnisse lösbar oder sprengen sie diese Verhältnisse in die Luft?

Solche Überlegungen liegen offenbar außerhalb von Flassbecks Gesichtskreis. Das macht seinen Ratschlag an die Linke zur platten Ideologie. Leider.

Soviel kann man zur vor uns liegenden Aufgabe schon sagen - und die LINKE sagt es (bei allen Streitigkeiten um die Strategie und Unklarheiten über Details des Übergangs):
Die Produktivkräfte haben ein Niveau erreicht, das sich nur noch mit "common-istischer" Organisation der Produktion und der Verteilung beherrschen lässt. Die Überwindung der privaten Macht über Produktionsmittel und -ergebnisse – und damit des Warentauschs – ist daher zur Existenzfrage der Menschheit geworden. Auf Gedeih und Verderb muss die Menschheit sie neu beantworten. Auch wenn die Gefahr wächst, dass Mehrheiten dies erst erkennen, wenn das Kind im Brunnen liegt.

Flassbeck schließt seine Polemik damit, der LINKEN einen "Godesberg-Moment" zu wünschen, nämlich den Verzicht auf jegliches Streben nach Systemüberwindung, „um wirklich etwas verändern zu können." – Frage: Hat die SPD nach ihrem Godesberg "den Kapitalismus“ so verändert, dass er uns nicht in seine Katastrophe(n) mitreißt? Frommer Wunsch, zu kurz gedacht, abgelehnt. Schade.


p.s.: Flassbeck bleibt dennoch ein großer, von allen Kritikern des wirtschafts- und finanzpolitischen Status-quo der unverzichtbarste.

Freitag, 3. November 2017

Notizen aus der Provinzhauptstadt: Linke Alternative zum Versagen der Wohnungspolitik in Dortmund

Vortrag für die LINKE-Dortmund Hörde

Wer als Dortmunder Bürger/in mit einem Durchschnittseinkommen heute eine Wohnung sucht, hat mindestens zwei dicke Probleme.
Das kleinere  von beiden – aber für viele schon kaum lösbar – ist, dass die neue Wohnung – sofern er/sie denn eine gefunden hat – im Regelfall deutlich teurer wird als die bisherige.

In den letzten acht Jahren zogen die „Angebotsmieten“ (so nennen Experten die Nettokaltmiete bei Neu- oder Wiedervermietung) zum Beispiel im Dortmunder Stadtbezirk Hörde jährlich um 5,7% an -- sogar stärker als in ganz Dortmund um jährlich 4,1%, und somit siebenmal so stark wie die Verbraucherpreise stiegen (0,8% p.a.).

Das hat zur Folge, dass die Mietbelastung des durchschnittlichen Haushaltseinkommens der Dortmunder-innen in etwas mehr als einem Jahrzehnt von 27% auf 34% zunahm (nur durch die Nettokaltmiete, hinzu noch die Nebenkosten, die noch schneller explodierten).

Das hat weiter zur Folge, dass inzwischen vier von zehn Dortmunder-innen -- also fast die Hälfte der Bevölkerung -- Anspruch auf einen „Wohnberechtigungsschein“ für eine Sozialwohnung hätten.

Jedoch ein solcher Schein hilft den meisten Wohnungsuchenden überhaupt nicht weiter. Denn das viel größere Problem ist inzwischen, in Dortmund überhaupt eine Wohnung zu finden, die ein Normalverdiener bezahlen kann.

Dortmund leidet akuten Mangel an Wohnraum im unteren Preisbereich. Der Mangel hat Ursachen.

1.    Dortmunds Einwohnerzahl wächst wieder. Und zwar um zuletzt 4.600 Neubürger in einem Jahr. Heute leben hier 25.000 mehr Menschen als 2009.

Die Stadtregierung bejubelt das als einen Erfolg ihrer Wirtschaftsförderung. (Dazu unten mehr.) Aber es ziehen nicht nur Leute mit hoher Mietleistungskraft her, sondern noch mehr „arme Schlucker“, etwa aus dem Osten und Südosten des Kontinents im Rahmen der EU-Freizügigkeit oder als schutzsuchende Flüchtlinge aus aller Welt.

2.    Der Wohnungsbau hält mit diesem verstärkten Andrang besonders im unteren Preissegment nicht Schritt.

Im vorigen Jahr wurden in Dortmund zwar über 1.000 neue Wohnungen genehmigt, aber darunter nur 274 Sozialwohnungen. Zum Beispiel sind am Phoenixsee in Hörde von 1.200 neuen Wohneinheiten nur 90 öffentlich gefördert und damit sozialgebunden.

3.    Der Bestand an vorhandenen Sozialwohnungen geht seit vielen Jahren kontinuierlich zurück.

Und das nicht etwa durch Abriss oder Nutzungsänderung, sondern weil nach der Tilgung der öffentlichen Darlehen die Mietpreis- und Belegungsbindung wegfällt.
In Dortmund gab es Ende 2016 für mehr als 125.000 Haushalte mit „Wohnberechtigung“ nur noch knapp 20.000 sozialgebundene Mietwohnungen. Allein in 2016 lief für weitere 2.200 ehemals geförderte Wohnungen die Sozialbindung aus. Im gleichen Jahr 2016, als 274 neue Sozialwohnungen genehmigt wurden, gingen also achtmal so viele verloren.

Das führt dazu, dass Jahr für Jahr mehr Wohnungsuchende beim Dortmunder Wohnungsamt auf der Warteliste stehen. Ende 2016 waren es mehr als 1.600; hinzu kommen 1.500 Asylbewerber und „UmF“ (unbegleitete minderjährige Flüchtlinge), die noch in Sammelunterkünften leben müssen und ebenfalls auf eine eigene Wohnung warten; zusammen also 3.100 Bewerber um ganze 274 Wohnungen = das heißt neun von zehn „Wohnberechtigten“ haben keine für sie bezahlbare Wohnung gefunden.

Das ist eine völlig verrückte Entwicklung. Aber keine unglückliche Ausnahmesituation eines ansonsten guten Systems, sondern es ist von vorn herein im System des Sozialen Wohnungsbaus so verrückt angelegt und politisch gewollt:

-       Der SWB fördert nämlich nicht bedürftige Mieter, sondern er fördert die Vermieter, die Kapitalanleger am privaten Wohnungsmarkt.

Indem der Staat einem Investor ein zinsvergünstigtes Darlehen gibt, verpflichtet sich dieser, die geförderten Wohnungen mit einer bestimmten Mietobergrenze nur an Haushalte mit WBS zu vermieten – aber nur bis das öffentliche Darlehen vollständig getilgt ist, also etwa nach 25 Jahren kann er dann die Wohnungen frei für jeden Preis vermieten, den der Markt hergibt. Neuerdings bietet der Staat neben den günstigen Darlehen auch noch Tilgungsnachlässe an, womit die Laufzeit der Sozialbindung sich noch weiter verkürzt.

-       Gewollt ist aber nicht nur diese systematische Fehlkonstruktion des öffentlich geförderten Geschäfts mit der Wohnungsnot, sondern gewollt ist auch eine „marktkonforme“ Politik, die das zunehmende Auseinanderklaffen von Angebot und Nachfrage noch verschärft:

Warum wachsen manche Städte und Regionen, während andere schrumpfen? Die meisten Stadtsoziologen und –ökonomen sind sich über den Hauptgrund einig: Die Menschen ziehen den Jobs hinterher. Und Jobs gibt es dort wo Kapital sich konzentriert. Kapitalistisch verfasste Märkte haben die Eigenschaft, Investitionen da zu vermehren, wo schon ähnliche Unternehmen und zugehörige Lieferketten vorhanden sind, die Wissenschaft nennt das „Clusterbildung“.

Die Dortmunder Wirtschaftsförderung hat das vor 20 Jahren erkannt und gezielte Hilfen für Hitech- und Logistik-Cluster zu ihrem obersten Prinzip erhoben. Die Rechnung ist aufgegangen, wie der Zuzug von Unternehmen und vielen Fachkräften in diese Cluster zeigt.

Was Märkte aber nicht leisten, ist, die Folgen der Kapitalkonzentration sozial abzufedern. Diese Folgen sind nicht alle positiv, sondern zum Teil prekär bis katastrophal. In den stagnierenden oder schrumpfenden Regionen, aus denen Kapital und Arbeitsplätze abwandern, sinkt die Lebensqualität – aber sie sinkt auch in den wachsenden Städten und Stadtteilen, die an Verkehrs- und Umweltbelastungen ersticken, Bauland wird teuer und vernichtet Freiflächen, Wohnungen werden knapp, die Mieten explodieren, kurz: die Lebensqualität sinkt.

Die genannten Zahlen zeigen uns, wie der Markt versagt. Wohnungen werden gebaut, aber nur um gut qualifizierte Fachleute anzulocken, für diese entstehen viele hundert Wohnungen in besten Lagen – unterversorgt hingegen bleibt die große Masse derer, die in den Kapital-Clustern keine Verwendung finden.

Da müsste dann die Stadt- und Regionalpolitik eingreifen und gegensteuern.

Jedoch ein Politikverständnis, das die ganze Welt nur noch als Markt versteht und folglich auch die Städte und Regionen selbst in den „Standortwettbewerb“ gegeneinander hetzt, eine solche Ideologie ist zu einer sozialen Wohnungsbaupolitik nicht mehr fähig oder hat sich davon bewußt verabschiedet. Da kommt dann so ein Phoenixsee in Hörde heraus mit 1.100 frei-finanzierten und nur 90 Sozialwohnungen.

Was ist dagegen zu tun? Was fordern wir? Welche Möglichkeiten haben wir, um die Wohnungspolitik in Dortmund sozialer zu machen?

1.    Die 25%-Regelung

1994 beschloss der Stadtrat, dass in Neubaugebieten Investoren 25% des Baulands an die Stadt abgeben müssen. 2014 wurde diese Regelung (von der LINKEN im Stadtrat energisch unterstützt) so erweitert, dass die Bauherren in neuen Baugebieten 25% der Wohneinheiten als Sozialwohnungen planen sollen. Das ist ein richtiger Schritt, um die Freiheit der Kapitalverwertung etwas zu begrenzen. Aber in der Praxis wird die Regel allzu oft umgangen und ausgehebelt, und wie die aktuellen Zahlen beweisen, reicht sie bei weitem nicht aus, um den Mangel an Sozialwohnungen zu überwinden. Da muss mehr geschehen.

2.    Die Stadt muss mehr günstige Wohnbauflächen aktivieren.

Im gesamten Stadtgebiet ist in Bebauungsplänen, Baulücken oder durch Nachverdichtung noch Bauland für ca. 7.700 Wohneinheiten ausgewiesen, die binnen zwei Jahren erstellt werden könnten. Aber diese Flächen sind sehr ungleichmäßig über die Stadt verteilt. Im Stadtbezirk Hörde kommen auf längere Sicht Grundstücke für ca. 1.900 WE in Frage (1.200 in B-Plänen, 100 in Baulücken und 600 im F-Plan), allerdings sind nur noch zwei größere Flächen sofort verfügbar. Unsere Fraktion in der Hörder Bezirksvertretung macht jetzt Druck, diese Flächen, die seit Jahren vor sich hin schlummern, endlich mit Vorrang zu entwickeln. Es werden nämlich in den nächsten vier Jahren weitere 200 Sozialwohnungen im Stadtbezirk wegfallen.
Ohne stellenweise Umwidmung bestimmter Freiflächen in Wohnbauland wird es also nicht mehr lange abgehen. Uns ist sehr wohl bewusst, dass wir damit ein ökologisches Tabu verletzen, denn natürlich braucht Dortmund auch dringend seine „grünen Lungen“. – Aber solange wir die markthörige Wirtschaftsförderung und die dazu passende Wohnungspolitik dulden, gibt es auf die Schnelle keinen anderen Ausweg.

3.    Die Stadt muss wieder selbst Wohnungen bauen.

Wie wir in der Nachkriegszeit lernten, ist auch katastrophaler Wohnungsmangel zu überwinden, wenn die öffentliche Hand den Wohnungsbau nicht nur dem Markt überlässt, sondern selbst als Bauherr auftritt. Unter den aktuellen Bedingungen, da die Kapitalzinsen so niedrig sind, dass vergünstigte öffentliche Darlehen für private Investoren nicht mehr lukrativ genug sind, um dafür Mietobergrenzen in Kauf zu nehmen, wird es wieder unumgänglich, dass die Stadt selbst baut.
Seit drei, vier Jahren hat das auch die Dortmunder Stadtspitze erkannt, was wir schon lange fordern, und hat – vorerst für 330 WE in fünf Baugebieten – einen Weg gefunden, über ein städtisches Sondervermögen tätig zu werden. Unsere Ratsfraktion erkundet jetzt, wie dies Modell verbessert und erweitert werden kann.

4.    Wir müssen die Landes- und Bundespolitik in die Pflicht nehmen.

Die vor-vorige Landesregierung NRW (CDU/FDP) hat die Gemeindeordnung so verändert, dass den Kommunen fast jede wirtschaftliche Betätigung untersagt werden kann. Die Städte und Gemeinden müssen darauf dringen, dass die jetzige CDU-FDP-Regierung das nicht benutzt, um den kommunalen Wohnungsbau noch weiter einzuschränken.

Gemeinsam mit unserer Bundestagsfraktion fordern wir außerdem,
-       - die sogen. „Mietpreisbremse“, die sich als pure Augenwischerei blamiert hat, so umzubauen und zu verallgemeinern, dass sie wirklich funktioniert.

-       - Wohnungsbaugenossenschaften müssen gegenüber privaten Kapitalunternehmen rechtlich gestärkt und bevorzugt werden. Auch dazu hat unsere Bundestagsfraktion konkrete Vorschläge gemacht.

Donnerstag, 19. Oktober 2017

Offener Brief an meine Parteivorsitzenden: Die falschen Freunde der Weltoffenheit

Liebe Katja Kipping, lieber Bernd Riexinger,

eure Sehnsucht nach einer neuen Linken verstehe ich gut, ohne sie zu teilen. Was jede-r sechste Ostdeutsche immer noch als vertraute politische Heimatluft schnuppert, steigt den meisten von uns "Wessis" wie abgestandener Mief der Party von gestern in die Nase. Der sozialistische Einheitsmief der Plattenbausiedlungen - Klassenkampf - "die Internationale erkämpft das Menschenrecht" - puh! Da wünscht sich mancheine-r eine Linkspartei, die mit der Zeit geht, modern, weltoffen, wie ihr sagt.

Die Moderne - wer den Begriff zurückverfolgt, stößt auf Erstaunliches: Die "Moderne" war ein Kampfbegriff in den Wendejahren der DDR, als die SED nicht nur ein neues Image, sondern ein neues soziales Bezugssystem suchte und sich zur gesamtdeutschen PDS umgründete. Blöd nur, dass Modernisierung - im größeren Deutschland noch brutaler als vorher - zum Synonym für die Unterwerfung alles Lebenden unter die Marktkonkurrenz wurde, für die Auflösung aller sozialen Bindungen und Sicherheiten, für die totale Zurichtung des Menschen auf die Logik der Kapitalverwertung. Das ist die Moderne, für die die SED-PDS den miefigen Realsozialismus eintauschte.

Weltoffenheit - nun ja, wahrhaft weltoffen sind die tausendstel-Sekunden-schnellen Finanzströme rund um den Globus, das Landgrabbing der Superreichen auf allen Kontinenten, die weltumspannenden Datennetze riesiger Kommunikationsindustrien. - Aber das meint ihr sicher nicht. Sondern Weltoffenheit als ideologische Haltung. Früher nannte man es Konsmopolitismus. Diese Ideologie war dem sozialistischen Internationalismus direkt entgegengesetzt und wurde von östlichen Ideologen wütend bekämpft. Ihre Entstehung und Funktion erklären Marxisten so:

Als vor etwa 150 Jahren der Kapitalismus sich zum Imperialismus auswuchs und eine Handvoll Großmächte den ganzen Globus in ihre Kolonialreiche, "Hinterhöfe" und Einflußsphären aufgeteilt hatte, wuchs die Gefahr, dass die bürgerliche Ideologie des Nationalismus bei den unterworfenen Völkerschaften zur Begründung nationaler Befreiungsbewegungen umgedreht wurde. Eine neue Ideologie musste her, die die "Arbeitsteilung" zwischen den reichen weltbeherrschenden Mächten und den von ihnen abhängigen, ausgeplünderten Weltregionen rechtfertigte. Die ganze Welt sei doch nur wie "ein Dorf", behaupteten nun die zeitgemäßen Geister, am besten sei es deshalb, Nationalstaaten und deren Grenzen schnellstens aufzuheben und das ganze Weltdorf von jeder staatlichen Bevormundung zu befreien, indem man es sozusagen in globalen "NGO's" organisiert, Interessengemeinschaften für alle menschlichen Bedürfnisse wie die UNO, die UNESCO, die Weltbank, den Internationalen Währungsfonds, Freihandelszonen, Verteidigungsbündnisse, Vereine für gegenseitige Hilfe, als Vorstufen einer künftigen Weltregierung, und die Wirtschaft natürlich in weltumspannenden Konzernen, alles ganz frei von staatlichem Zwang.

Soweit die Ideologie des Kosmopolitismus. Wie solche entgrenzten Dorfgemeinschaften funktionieren, können wir gut an der Europäischen Union studieren, die ja auch ihr beide und andere LINKE-Wortführer als scharfe Waffe gegen den Nationalismus verteidigt. Übrigens war die Macht, die den europäischen Zusammenschluss in den 1950er bis -70er Jahren am energischsten vorantrieb, nicht wie heute Deutschland, sondern die USA, die Europa als starken westlichen Eckpfeiler zur Einkreisung des "Reichs des Bösen" brauchten. Was lag da näher als die Umkehrung des nationalistischen Wahns, mit dem die Nazis ihren Weltherrschaftsanspruch begründet hatten, ins genaue Gegenteil, nämlich in das vorgebliche Ziel, alle Nationen schnellstens abzuschaffen und damit in Europa sofort loszulegen.

Dass diese Fehlspekulation der Westmächte auf eine schnelle Vereinigung Europas ausgerechnet den Nachfolgestaat des Nazireichs zur erdrückenden Vormacht Europas beförderte, war bei der Gründung der EWG nicht vorgesehen - aber doch eigentlich der einzig logische Ausgang dieser Geschichte. Denn Nationen und ihre Egoismen lassen sich nun mal nicht einfach per Weisung aus Brüssel, Washington oder Berlin auflösen, das ist ein sehr langer historischer Prozess (weit über das Ende des Kapitalismus hinaus, siehe dazu meine letzten Posts in diesem Blog). Im Kapitalismus führt aber die Konkurrenz der Nationen unvermeidlich zum Sieg der stärksten Macht über die schwächeren.

Statt die Konkurrenz der Nationen aufzuheben, zerfällt nun Europa insgesamt und jedes europäische Land immer dramatischer in "Modernisierungsgewinner", die es verstehen, auf der Globalisierungswelle obenauf mitzuschwimmen - überproportional gehäuft zu finden in den "jungen urbanen Milieus" - und den Massen der "Modernisierungsverlierer", die unter dem Druck der ihnen aufgezwungenen Konkurrenz gegeneinander in dumpfen Nationalismus zurück drängen.

Diesen letzteren muss der ahistorische "Supranationalismus" der EU mit seinen grenzüberschreitenden "vier Grundfreiheiten" (grenzenloser Waren-, Dienstleistungs-, Kapital- und Personenverkehr), die vorherrschende Ideologie der neoliberalen Eliten Europas, als Kampfansage vorkommen. Und so ist sie auch gemeint. Ihr beide, Katja und Bernd, und alle anderen linken Anhänger der kosmopolitischen Entgrenzung müsst euch also genau überlegen, wessen Geschäfte ihr da unterstützt, wenn ihr heute "offene Grenzen für Alle" fordert. Vielleicht denkt ihr nochmal drüber nach.

Mit solidarischem Gruß
Wolf Stammnitz

Die LINKE Dortmund

Samstag, 14. Oktober 2017

Schluss mit der linken Ignoranz gegenüber der Nation

Seit langem, eigentlich schon vor der Vereinigung von PDS und WASG schwelt in der (deutschen) Linken ein Streit um ihr Verhältnis zur Nation. An aktuellen Anlässen wie der Haltung zur EU, der Aufnahme und Integration von Geflüchteten, der Asylrechtspraxis, dem europäischen Grenzregime flammt der Streit immer wieder offen auf, eskaliert bis hin zu Unterstellungen und persönlichen Verdächtigungen, ohne dass eine politisch tragfähige Lösung in Sicht käme.

Den jüngsten Anlass bot die Analyse unserer Wahlaussagen zur "Flüchtlingspolitik" vor der Bundestagswahl. Wie mir scheint, verengt dies Reiz- und Schlagwort den Blick auf einen Teilaspekt des umfassenderen strategischen Fragenkomplexes, wie die gesellschaftliche Linke sich heute zur Nation, deren Souveränität, dem Nationalstaat und deren historischem Schicksal stellen soll. Mit einer halbwegs fundierten Klärung einiger Grundbegriffe hoffe ich den Streit zu versachlichen.

Die Entwicklung des Kapitalismus ist untrennbar mit der Entstehung der Nationen und der Nationalstaaten verbunden. Und da die Klasse, welche den Kapitalismus im Kampf gegen den Feudaladel durchsetzte und noch heute vorantreibt, die Bourgeoisie ist, wurde sie zur Trägerin und Führerin der Nation und ist es bis heute geblieben.

Der bürgerliche Nationalstaat macht die materiellen und geistigen Güter der Nation zu Privilegien der herrschenden Klasse. Daher, selbst nach fast zweihundert Jahren Parlamentarismus (in Deutschland), auch heute noch das grundlegende Misstrauen der Arbeiterklasse gegen den bürgerlichen Nationalstaat. "Die Arbeiter haben kein Vaterland. Man kann ihnen nicht nehmen, was sie nicht haben," schrieben die Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus, auf die sich die Linkspartei immer noch als Ahnherren beruft, Karl Marx/Friedrich Engels in ihr "Kommunistisches Manifest". Und dennoch hielten sie für unabdingbar, dass "das Proletariat zunächst sich die politische Herrschaft erobern, sich zur nationalen Klasse erheben, sich selbst als Nation konstituieren muß" (ebd).

Keine Rede also davon, die Nation im Zuge der Überwindung des Kapitalismus - oder sogar noch vor dessen Überwindung?! - auf den Mist zu werfen. Ganz im Gegenteil waren sämtliche namhaften Führer der Arbeiterbewegung sich immer einig, der Nation - so spät sie in der Geschichte auch erst auftritt - noch ein zähes, langes Leben vorauszusagen. Warum? Weil die nationale Zusammengehörigkeit sich auf viel älteren Grundlagen konstituiert: der Gemeinschaft der Sprache, des Territoriums, der Kultur, der Moral, Sitten, Lebensgewohnheiten usw. Sowas lässt sich nicht einfach "abschaffen", weder durch eine EU-Kommission noch durch einen linken Parteibeschluss.

Die kapitalistische Marktwirtschaft basiert auf der Konkurrenz privater Warenbesitzer, und zwar sowohl der Kapitalisten als auch der Arbeiter untereinander. Das schließt von Fall zu Fall Absprachen, Bündnisse, Verträge und entsprechende Koalitionen nicht aus. Aber bestimmend bleibt immer das Eigeninteresse jedes Marktteilnehmers, einen möglichst großen Anteil am Sozialprodukt für sich herauszuschlagen.

In dem Maß, wie das Kapital den Weltmarkt hergestellt hat, dehnte es die Konkurrenz auch auf die Verhältnisse zwischen den Nationen aus, und die Nationalstaaten sind es, die die Konkurrenzkämpfe gegeneinander ausfechten. Bis hin zu Treubrüchen, Krieg, Massenmord usw. Und unter diesen Bedingungen haben sie auch das nationale Territorium und seine Grenzen zu sichern. Da heute einfach mir-nichts-dir-nichts "offene Grenzen" zu fordern, geht an den realen Verhältnissen vorbei.

Auch zwischen den Nationen können schiedlich-friedliche Regelungen, Verträge und organisierte Kooperation sich mehr oder weniger lange in Kraft halten. Linke Politik muss selbstverständlich darauf zielen, solche internationalen Verständigungen möglichst umfassend und dauerhaft zu installieren. Aber es wäre weltfremde Träumerei, sich einen Kapitalismus (!) vorzustellen, bei dem der nationale Egoismus auf Dauer aufgehoben ist.

Um am Weltmarkt möglichst reiche Beute zu machen, ist das Bürgertum bestrebt, die ganze Nation hinter sich zu scharen. Dazu bedient es sich der Ideologie des Nationalismus, der die eigene Nation über andere erhebt. Als hundertprozentig bürgerliche Ideologie ist Nationalismus den Anschauungen und Zielen der Arbeiterklasse - und somit der LINKEN - diametral entgegengesetzt. Damit haben wir keinerlei "Schnittmenge". Allerdings müssen wir hier äußerst genau jeden falschen Anschein vermeiden.

Denn es gilt zu unterscheiden zwischen Ideeologien und den Tatsachen, auf die sie sich beziehen. "Deutschland zuerst" oder "Deutschland Deutschland über alles" als politiches Ziel zu proklamieren, ist nationalistische Ideologie und inhuman - aber die Konkurrenz in der Bevölkerung des kapitalistischen Deutschland um Arbeit, Wohnungen, Kitaplätze usw. ist eine unübersehbare Tatsache, welche die LINKE immer und immer wieder anprangern muss.

Linke Politik hat tragfähige und überzeugende Lösungen für solche Konflikte zu finden. Dazu gehört, die Dinge illusionslos bei ihren Namen zu nennen. Also auch auszusprechen, dass Menschen verschiedener Nationalität vom Kapital in Konkurrenz gegeneinander gezwungen werden, und zu verstehen, dass ihnen dann die eigene Haut näher ist als das internationalistische Ideal (das erst nach dem Ende des Kapitalismus zur Realität werden kann).


Ich denke, da muss die LINKE selbstkritisch feststellen, dass wir in der "Flüchtlingskrise" bis jetzt nur ein klitzekleines bisschen klüger sind als die Kanzlerin. Deren Ratlosigkeit war aber eine wesentliche Ursache für das Erstarken der AfD. Deswegen ist es durchaus angebracht, ja notwendig, unsere Lösungsvorschläge auf ihre Stichhaltigkeit ubd Plausibilität zu überprüfen. Einfach nur "offene Grenzen" zu fordern, ist unter kapitalistischen Verhältnissen sicher ein Kurzschluss.

Freitag, 6. Oktober 2017

LINKE:Die deutsche Politik hat sich "Europa“ unterworfen.Wer sich eine“sozialere EU“ wünscht muss den deutschen (National-) Staat umkrempeln

Nach der Bundestagswahl haben die maßgeblichen Pro-EURO-Romantiker in der LINKEN Oskar Lafontaine mehr oder weniger offen einer nationalistischen Haltung bezichtigt. So absurd der Vorwurf ist, markiert er doch ein zentrales Defizit vieler Linker in Bezug auf die Nation. In diesem Streit positioniere ich mich mit dem zustimmenden Abdruck eines Aufsatzes von Albert F. Reiterer:

INTERNATIONALISMUS UND RENATIONALISIERUNG 
Eine linke Strategie
Renationalisierung ist ein Reizwort. Für wen? Nicht nur im deutschen Sprachraum, vor allem aber dort, ist heute für Intellektuelle der Marker ihrer sozialen Existenz schlechthin ein spezifischer Universalismus. Für sie wirkt also der Begriff wie ein Fausthieb. Der Großteil der Bevölkerung hingegen ist an diesen Auseinandersetzungen, wie am gewöhnlichen politischen Diskurs insgesamt, wenig interessiert. Für die bedeutet somit auch dieser Slogan nicht allzu viel. Er ist zu abstrakt.
Wozu also mit diesem Ausdruck provozieren, wenn er das potenzielle Ziel-Publikum ohnehin kalt lässt?
Die Frage habe ich mir tatsächlich mehr als einmal gestellt. Ich war drauf und dran, ihn aus taktischen Erwägungen aufzugeben. Schließlich entschied ich mich doch, ihn weiter zu benutzen – wie ich glaube, aus einer Reihe guter Gründe.
Die Linke ist in unseren Breiten auf marginale Intellektuellen-Gruppen geschrumpft. Es wäre eine Verleugnung der Realität, dies nicht zur Kenntnis zu nehmen. Wir sind also Teil einer mehr intellektuellen als politischen Debatte und haben den Schritt in den politischen Diskurs noch nicht wirklich geschafft. In diesem intellektuellen Kontext aber macht das Konzept Sinn, gerade auch wegen seiner provokatorischen Wirkung. Es stellt sich nämlich quer zu jenem Universalismus der Eliten, welcher das gerade Gegenteil von Internationalismus ist, aber von vielen Linken grotesker Weise damit verwechselt wird.
Zusätzlich bedeutet es auch einen gewissen Bruch mit einer sozialistischen Tradition, welche in blauäugiger Weise noch immer die Dominanz intellektueller Philosophen-Könige in der Arbeiter-Bewegung übersehen möchte – und das nach dem Ende des 20. Jahrhunderts und seinen Katastrophen. Denn der herrschaftliche Charakter dieser Intellektuellen-Truppe stand jenem der globalen Elite in nichts nach. Es geht also, erstens, darum, die ständige Tendenz zur neuen Herrschaft einer kleinen Gruppe in Frage zu stellen, indem man auf die Gefahren verweist, welche das prinzipielle Überschreiten der Alltags-Lebenswelt der großen Masse mit sich bringt und mit sich bringen muss. Es geht, zweitens, auch darum, die eigene Stellung etwas zu relativieren.
Praktisch-politisch kommt dazu: Die radikale Linke des europäischen Südens ist inzwischen weitgehend souveränistisch orientiert. Da Souveränität ein Fetisch-Begriff der Staats-Theore­tiker ist, birgt dies durchaus auch Gefahren. Aber gleichzeitig ist es eine Orientierung auf ein sinnvolles politisches Aktions-Feld. Eine neue politische Aktivität muss also erst im Alltag des Kommunikationsverbunds einsetzen, den wir Nation nennen.
Die angeblich so universalistischen europäischen Eliten sind ihrerseits ja durchaus national verankert. Sie beziehen ihre Macht aus der herrschenden Nation und ihrer Politik. Wer sind die führenden Bürokraten in Brüssel, und welche Interessen vertreten sie? Wenn uns Varou­fakisirgend etwas mitgeteilt hat, so ist es die gerade ängstliche Abhängigkeit der EU-Finanz­minister von jedem Mienenspiel Schäubles. Alle bemühen sich, ihm nach dem Mund zu reden. Da kann er sich schon den Luxus leisten, das Wort zeitweise Dijsselbloem zu überlassen. Die deutschen Eliten und Politiker haben sich also „europäisiert“, indem sie die deutsche Ideologie und Politik auf Europa ausgedehnt haben. In dieser Struktur eine Machtprobe gewinnen zu wollen, heißt doch wohl, vor sich hin zu träumen. Allein aus diesen Gründen muss man diese Struktur verlassen, um nur die geringste Chance zu haben. Griechen, Portugiesen, Spanier und Italiener können gegen die Deutschen und ihre Hilfstruppen schlichtweg in diesem Rahmen nicht gewinnen, selbst wenn ihre Regierungen es wollten.
Die intellektuelle These Renationalisierung wird auf diesem sehr kurzen Weg zur politischen These des national organisierten sozialen Staats, des „Sozialstaats“. Den möchten die übernationalen Eliten nämlich so schnell wie möglich auf den Misthaufen der Geschichte verfrachten, und sie sind damit schon sehr weit gekommen. An die Stelle einer sinnvollen Politik mit Ansätzen eines kollektiven Vorsorgestaats im Rahmen einer Steuerung der ökonomischen Entwicklung, des Produktions- und Verteilungs-Apparats, trat Armuts-Politik: „Politik gegen Armut und Ausgrenzung“, wie es im EU-Programm so zynisch heißt.
Für diese Kräfte ist Renationalisierung eine Provokation. Ihre Stärke besteht u. a. darin, dass sie auf die teils naive, zum großen Teil aber durchaus bewusste Unterstützung von „Gutwil­ligen“ zählen können. Umso dringlicher ist es, dass Tabu zu brechen. Der Paukenschlag des Begriffs mag viele abschrecken. Aber er ist einmal notwendig, um manche aufzuwecken. So wie es heute bereits zum politischen Akt wurde, zustimmend Marx zu zitieren, so ist es die Berufung auf die nationale Lebenswelt der Bevölkerung erst recht. In Wirklichkeit führen wir damit einen Kulturkampf gegen die unerträgliche Arroganz der hegemonialen Öffentlichkeit: Wir stellen uns damit auf die Seite der Unterschichten. Im Gegensatz zur Rechten wissen wir aber, dass dies nur ein Schritt sein kann; dass wir an einer intellektuellen Debatte weder vorbei kommen, noch vorbei wollen; dass wir keine Bewunderer von primitiven Emotionen sind; dass wir einen rationalen Diskurs anstreben.

Albert F. Reiterer, 16. Dezember 2015

Freitag, 29. September 2017

Notizen aus der Provinzhauptstadt: Dortmunds SPD-Fraktion beschließt - "weiter-so" - Mietervertreibung für Luxussanierung

Am Vorabend der entscheidenden Ratssitzung nahm ich an einer Versammlung teil, zu der Mieterverein und Deutscher Mieterbund die Mieter der Godefriedstraße eingeladen hatten. Von den insgesamt 128 Wohnungen im Eigentum der Fa. Berke sind noch etwa 80 bewohnt. Etwa zwei Dutzend Mieter-innen waren gekommen. Die meisten sind verunsichert, eingeschüchtert, viele wütend, wie der Spekulant Berke sie mit Tricks, Falschinformationen und Arroganz zum Auszug drängt. Einige erklärten, sie würden keinesfalls freiwillig ausziehen, der Berke müsste sie rausklagen.

Entgegen anderslautender Propaganda braucht Berke den Ratsbeschluss zum Bebauungsplan, um 98 der Wohnungen in Luxuswohnungen umzuwandeln, noch einige im Dachgeschoss aufzustocken und nur 30 wieder als Sozialwohnungen zu vermieten, die dann aber nicht mal für die bisherigen Mieter zur Verfügung stehen sollen. Vom Stadtrat waren nur LINKE/Piraten, SPD und Grüne da. Die SPD kündigte ihre Zustimmung zu Berke's Plan an ("Mieter wehrt euch, aber wir stehen auf Berke's Seite"); die Grünen wollten sich enthalten. Dass die SPD dem Berke zu Willen ist, bezeichneten mehrere Mieter-innen als unverständlich, skandalös, "das Allerletzte" usw.

Meine Fraktion war noch ohne Beschluss in die Versammlung gekommen. Schnell wurde aber deutlich: Wenn die LINKE glaubwürdig für soziale Gerechtigkeit eintreten will, darf sie bei so einer Mietervertreibung durch einen Spekulanten nie und nimmer mitmachen. Auch wenn für die Gesamtstadt 30 neue Sozialwohnungen rausspringen würden, darf das keinesfalls zu Lasten und auf Kosten der alteingesessenen Mieter gehen. Politisch macht es einen entscheidenden Unterschied, ob eine Verwaltung sich an geltendes Recht zu halten hat (wie ein SPD-Sprecher es kategorisch forderte) - oder eine gewählte Volksvertretung in vorauseilendem Gehorsam einem Spekulanten gegen die Bevölkerung Recht gibt, neues Baurecht verschafft. Das kann keine linke Politik sein und würde uns noch in zehn Jahren anhängen - mit Recht. Soll Berke doch auch den Rat verklagen!


Am nächsten Tag war die LINKE/Piraten die einzige Fraktion im Stadtrat, die den Spekulantenplan ablehnte.

Dienstag, 26. September 2017

Notizen aus der Provinzhauptstadt: Dortmunds Oberbürgermeister (SPD) empfiehlt „Weiter so!“

Dem Dortmunder OB Sierau verdarb der Erdrutschverlust der SPD in ihrer einstigen „Herzkammer“ Dortmund (minus 8,2 %) nicht die Sonntagsruhe. Den Ruhr-Nachrichten gab er zu Protokoll: „Für Dortmund bedeutet das erst mal gar nichts. Der Rat besteht drei Jahre weiter, wie er ist.“

Seit Gerhard Schröders Kanzlerwahl (1998) ist die SPD am Ort von 56,7 % auf 31,3 % geschrumpft, bei 10 von 13 Wahlen in dieser Zeit zum Bundestag, Landtag und Stadtrat (mit drei Ausnahmen 2012/2013) verlor sie hier 75.000 Wähler-innen. Das lässt einen Apparatschik kalt. Solange er noch über die stärkste Fraktion gebietet – die Mehrheit der Bevölkerung hat er schon lange nicht mehr hinter sich – macht er „weiter so“. Wer so blind ins Verderben rennt und das ihm anvertraute Gemeinwesen auf den Hund bringt, gehörte eigentlich wegen erwiesener Unfähigkeit sofort abgesetzt.

Doch auch Sierau wird bald merken, dass das Ergebnis vom 24.09.2017 die Kommunen noch schlimmer belasten wird als die GroKo. Zum Beispiel kann die Noch-Arbeitsministerin Andrea Nahles den von Dortmund aus geforderten Kommunalen Arbeitsmarkt-Fonds noch viel schwerer aus der Opposition heraus gegen Schäuble u.Co durchsetzen als in der Regierung.

Aber dafür darf sie bald als Oppositionssprecherin lautstark all die soziale Gerechtigkeit fordern, mit der nach der GroKo auch Jamaika die Reichen im Land verschont. Sonnenklar ist, dass die SPD, um sich in der Opposition zu erholen, nur bei ihren potentiellen Bündnispartnern wildern kann, bei der LINKEN und den Grünen. Indem sie mit super-sozialen Sprüchen von ihrer asozialen Agenda-2010-Politik ablenkt, wird sie versuchen, die zur LINKEN und den Grünen abgewanderten Wähler-innen wieder zurück zu holen. Allein bei dieser Wahl waren das bundesweit über 800.000.

Es spricht allerdings viel dafür, dass die Grünen sich beim Krötenschlucken an der Seite von Merkel, Seehofer und Lindner verschlucken und in vier Jahren als Kleinpartei um den Wiedereinzug ins Parlament bangen müssen. Sollten sie sich jedoch nicht an der Regierungsbeteiligung selbst zerlegen, dürften sie diese auch 2021 fortsetzen wollen.

Das sind keine guten Aussichten für einen baldigen Politikwechsel zu R2G. Bei dieser Wahl standen einer rechten Parteien-Mehrheit mit zwei Dritteln der Wählerstimmen (unter Einschluss der AfD) nur SPD und LINKE mit zusammen etwa 30 % gegenüber. Selbst wenn es gelänge, vor der nächsten Wahl 2021 die SPD und auch die Grünen für einen anti-neoliberalen Politikwechsel zu gewinnen, müsste dies Bündnis den rechten Parteien fast 5 Millionen Stimmen entziehen, um regieren zu können. Es ist schwer vorstellbar, welche außergewöhnlichen Ereignisse in Europa und der Welt eine solche Wechselstimmung erzeugen könnten – statt die Wähler-innen noch weiter nach rechts zu treiben.

Somit bleibt der LINKEN als vorerst einzige realistische Option nur die konsequente Opposition auf Grundlage unseres Wahlprogramms. Das schließt Versuche ein, die uns aufgezwungene Konkurrenz mit der SPD durch Absprachen über gemeinsames Vorgehen, dort wo es Schnittmengen gegen die Rechten gibt, aufzubrechen. Aber eben auf Grundlage unseres Wahlprogramms.


Dies sollte auch für LINKE in Länderparlamenten und Landesregierungen gelten. Und es gilt genauso auf der kommunalen Ebene. Eine vorausblickende SPD müsste sich auch hier aus der Umklammerung der Neoliberalen in einer informellen GroKo befreien und zu sozialdemokratischer Politik zurück finden. Wir sollten alle Schnittmengen mit unserer Programmatik nutzen, um sie dabei zu unterstützen.

Freitag, 1. September 2017

Notizen aus der Provinzhauptstadt: Auswirkungen der Digitalisierung auf die Gesellschaftsstruktur und Eigentumsformen

Beitrag zum Workshop „Digitalisierung/ Smart City“ der Ratsfraktion Die LINKE&Piraten Dortmund

Die effiziente Produktion und Verteilung von Gütern sind gerade keine besonderen Vorzüge der Marktwirtschaft. Zwar hämmert uns die herrschende Marktideologie ständig ein, am Beginn allen Wirtschaftens stehe der Eigennutz des Individuums, folglich sei Konkurrenz das natürliche Funktionsprinzip menschlicher Gesellschaften, folglich der Kapitalismus die effizienteste Gesellschaftsstruktur, weil auf privatem Eigentum an den Produktionsmitteln und Konkurrenz basierend, und folglich sei der Markt die effizienteste Methode der Bedürfnisbefriedigung ---

--- doch diese Ideologie entspricht weder den historischen Tatsachen noch unserem alltäglichen Erleben. Gesellschaft entwickelt sich nicht aus individuellem Eigennutz, sondern aus der Kooperation und mit dieser. Kooperation, die Produktivität des gemeinsamen Schaffens ist die Quelle, ohne die es die Menschheit gar nicht gäbe. Tatsächlich beruhen wesentliche Bereiche unserer alltäglichen Daseinsvorsorge auf dem Prinzip der Kooperation und des Netzwerks.

Und nun stärkt die digitale Vernetzung zwei Triebkräfte der Entwicklung, die sich nicht nur als Kapital in Geld ausdrücken lassen - es war übrigens Karl Marx, der das herausfand:
-           Zum einen die arbeitsteilige Kooperation,
-           zum anderen Wissen, Information und Wissenschaft,
diese beiden Produktivkräfte erscheinen uns heute zwar als Eigenschaft des Kapitals, dessen Eigentümer sie sich zunutze macht – aber keine von beiden gehört rechtmäßig zu seinem Eigentum wie Maschinen, Grundstücke, Waren. Der Kapitalist verfügt über sie nur in dem Maß, wie er sie an sein Eigentum an Produktionsmitteln binden kann.

Auch „Wissen ist Macht.“ Wissen erwerben und mit anderen arbeitsteilig kooperieren kann jeder arbeitsfähige Mensch. Eine der größten Veränderungen durch Digitalisierung ist die Öffnung des Zugangs zu Kultur und Bildung. Es findet eine Demokratisierung von Wissen statt.

Und in einer Gesellschaft, in der die Wertschöpfung in hohem Maß von der Wissenschaft, vom gesellschaftlichen Informationsniveau, vom allgemeinen Bildungsstand abhängt, in einer solchen Gesellschaft wird, wie Marx es kommen sah, „die Schöpfung des Reichtums unabhängig von der auf sie angewandten Arbeitszeit“. – Und wird somit unabhängig von der Kapitalverwertung. Eine Gesellschaft, in der Information (= geteiltes Wissen) zur wichtigsten Produktivkraft wird, lässt sich nicht mehr an’s Privateigentum fesseln.

Die Wirtschaftswissenschaftlerin Elinor Ostrom kam schon vor einigen Jahren zu dem Ergebnis, dass für eine nachhaltige Bewirtschaftung von Gemeingütern – Commons - die Kooperation der Betroffenen effizienter ist als staatliche Kontrolle und auch effizienter als das privatkapitalistische Eigentum – für ihre Forschung über eine Ökonomie jenseits von Markt und Staat erhielt sie 2009 den Nobelpreis.

Während linke Strategien des 20. Jahrhunderts sich vor allem auf die Lohnarbeit stützten, kann die Linke des 21. Jahrhunderts verstärkt auf die Produktivität der Gemeingüter setzen, die kürzere Arbeits- und längere Lebenszeiten, eine ökologischere Produktion und insgesamt ein besseres Leben für alle möglich machen.

Die Veränderungen finden bereits direkt vor unseren Augen statt. Das Industrieproletariat, der Kern der Arbeiterklasse, verändert sich. Ausbildung und Arbeitsorganisation haben sich für viele schon verändert. Wie wir gestern hörten, führt die Vernetzung von Produktionslinien einerseits sowohl zur Vernichtung von noch mehr Einfacharbeitsplätzen als auch zur Ausbreitung des Typus "Freelancer", des scheinselbständigen „Click“- oder „Crowdworkers", des nicht mehr lohnabhängigen, aber weiterhin von übermächtigen Auftraggebern abhängigen Arbeitskraft-Unternehmers. Diese Abhängigkeitsstruktur wird durch die Digitalisierung noch verstärkt. Schlagworte dazu sind Cloudsourcing (Teilarbeiten werden im Netz ausgeschrieben) und Crowdworking (Arbeitsgruppen werden im Netz gebildet, möglicherweise ohne sich jemals persönlich zu treffen).

Die Jobs, die u.a. in der Computer- und Roboterbranche entstehen, können die Jobvernichtung keineswegs kompensieren. Das betrifft in Dortmund tendenziell 30.000 Einfacharbeitsplätze, besonders im Dienstleistungssektor. Die Fahrer von Liefer- und Zustelldiensten tragen derzeit am radikalsten die Konsequenzen der digitalen Revolution. Wer behauptet, Erwerbslosigkeit und Prekarisierung würden durch das Konzept „Smart City“ vermindert, der lügt.

Aber nicht nur die Struktur der Arbeiterklasse wird die Digitalisierung einschneidend verändern, sondern auch die kapitalistischen Eigentumsverhältnisse. Schon jetzt verliert Dortmund jährlich an die 600 Kleinunternehmen, während die Zahl der Unternehmen insgesamt stagniert. Da kleinere Betriebe Modernisierungsinvestitionen viel schwerer bewältigen als größere, wird die Digitalisierung den Verdrängungsprozess deutlich verstärken.

Politisch ist deshalb zu fordern, dass die Wirtschaftsförderung der Stadt zusammen mit der ARGE und der Arbeitsagentur ein Monitoring aufbaut, das die Digitalisierungsfolgen beobachtet, um in der "Allianz Smart City Dortmund" mit der lokalen Wirtschaft Maßnahmen gegen Arbeitslosigkeit, Prekarisierung und zur Sicherung von Selbständigen und Kleinbetrieben zu ergreifen.

Nicht zuletzt müssen wir radikale Arbeitszeitverkürzungen fordern. Konkret:
- das Recht auf befristete Teilzeit und eine kurze Vollzeit, die auf die 30-Stunden-Woche zuläuft,
- das Recht auf Sabbaticals im Lauf des Erwerbslebens – solche Auszeiten sind gut gegen stressbedingte Krankheiten und für Weiterbildung/Qualifizierung bzw. berufliche Neuorientierung.
- das Recht auf Nicht-Erreichbarkeit und einen echten Feierabend.
- das Recht auf Weiterbildung, besonders in neuen Technologien.

Auf längere Sicht ist zu erwarten, dass das anwachsende, hochqualifizierte Prekariat der "Clickworker" eigene gewerkschaftliche und politische Interessenvetretungen entweder in Besitz nimmt oder neu schafft, und zwar weitgehend international vernetzt. Das verdient unsere volle Unterstützung, in engem Kontakt mit der Dienstleistungsgewerkschaft VERDI.

Die digitale Technologie führt aber auch zur Entstehung freier, kooperativer Geschäftsmodelle außerhalb des Marktmechanismus. Heute sind gut 50 Prozent der Weltbevölkerung (3,5 Milliarden Menschen) elektronisch vernetzt. Daraus folgen schon weltweit Ansätze einer "Allmende-Produktion". Zuerst im Bereich der Information selbst. In Netzwerken, in denen kostenlose Informationsgüter die kommerziell erzeugten verdrängen.

Mehr und mehr auch darüber hinaus in Dienstleistungssektoren, Energieversorgung, Handwerk, Landwirtschaft usw. Das bedeutet zum Beispiel, gezielt Genossenschaften zu stärken und insgesamt das Ausprobieren anderer Formen von Eigentum und Wirtschaften zu fördern.

Ein Beispiel in unserer Nähe: Allein die stark von Digitalisierung geprägte Kreativwirtschaft ist ein riesiger Sektor geworden. 2014 hat in Deutschland knapp eine Viertelmillion Unternehmen (249.000) mit über einer Million Erwerbstätigen 146 Milliarden Euro Umsatz erwirtschaftet.

Technologisch sind wir auf dem Weg zu enormen Produktivitätsfortschritten, zur Automatisierung belastender und entnervender Arbeit und zu fast kostenlosen Gütern.
– Gesellschaftlich sind wir noch Gefangene einer Welt, die von Krisen, vermachteten Märkten und der Ausbreitung prekärer Armutsjobs beherrscht ist.

Der entscheidende innere Widerspruch des heutigen Kapitalismus ist der zwischen der Möglichkeit kostenloser, allen verfügbarer Allmendeprodukte einerseits – und einem System von Großkonzernen, Banken und Regierungen, die versuchen, ihre Kontrolle über die Informationen aufrecht zu erhalten.

Das historische Ziel, auf das die Digitalisierung zutreibt, ist also nicht die Abschaffung der Arbeit, sondern die Befreiung des schöpferischen Menschen vom Zwang zur Lohnarbeit. Die Digitalisierung eröffnet die Möglichkeit einer solidarischen Ökonomie, die die kapitalistische Verwertungslogik aufbricht.

Politisch geht es heute um eine öffentlich organisierte Infrastruktur, die es ermöglicht, dass sich die Keimzellen einer neuen Ökonomie der Kooperation entwickeln und alle Menschen daran teilhaben können.

Eine intelligente Stadtpolitik von links kann und muss die Digitalisierung städtischer Infrastrukturen verbinden mit ihrer Vergesellschaftung und Demokratisierung.
Statt in Expertenteams über rein technikzentrierte Innovationen zu fachsimpeln, müssen wir die Auseinandersetzung suchen, wem eigentlich die Stadt und ihre Infrastrukturen gehören, und wer unter welchen Bedingungen an stadtpolitischen Entscheidungen teilnehmen kann.

Also: Stadt für alle, die in ihr leben.