Mittwoch, 18. Dezember 2019

Die Zukunft der SPD in der GroKo

Die SPD bleibt auch nach der Wahl ihres neuen Spitzentandems gespalten. Auf der einen Seite das Partei-Establishment mit dem festen Willen zur Fortsetzung der GroKo - auf der anderen die Minderheit, die hoffte, Veränderung wählen zu können. Die neu gewählte Parteiführung verkörpert mit ihrem "Gesprächsangebot" an die CDU/CSU die klassisch sozialdemokratische Taktik, mit "Links-blinken-rechts-abbiegen" die Unzufriedenen wieder einzufangen.
Gespalten ist auch das traditionelle Wählermilieu der SPD. Dessen Mehrheit glaubt, die dem Land und der "freien" Welt drohenden Unwetter am besten unter der GroKo trocken zu überstehen, selbst wenn deren Fortsetzung die SPD endgültig zum Blinddarm der Konservativen schrumpfen lässt. Bei vielen innerhalb und außerhalb der SPD basiert die Zustimmung zur GroKo auf der resignierten Ansicht, gegen die globale Wirtschaft sei ohnehin kein Kraut gewachsen, folglich sei die GroKo alternativlos.
Auch eine Linkspartei, die von den Idealen der Arbeiterbewegung abbiegt auf einen klassenlosen Kosmopolitismus, kann dann nicht mehr das Potential aufbieten, um das SPD-Establishment zur Wiederbelebung der alten Ideale zu drängen. Denn wie zu erwarten hat der entgrenzte Kapitalismus die Individuen ja nicht gestärkt, sondern geschwächt, entsolidarisiert und politisch handlungsunfähig gemacht. In ihm erscheinen die Existenznöte, die viele Menschen bedrücken, nur als Ausdruck ihres ganz persönlichen Scheiterns. Eine globalisierte Welt, in der jeder nur als Individuum für sich kämpfen kann, bietet keine Grundlage für sozialdemokratische Politik, sofern man diese nicht  mit „Fördern-und-Fordern“ verwechselt.
Verbunden ist das mit weit verbreiteter Skepsis gegenüber der Nation. Die Begeisterung für die EU steht für die neuen Werte des „Supranationalismus“. Die Nation war und ist es doch, die erst die Demokratie und den Sozialstaat möglich machte und erhält. Die Ablehnung dieser „supranationalen“ EU wäre eine Rückbesinnung auf das demokratische Recht auf solidarische Politik, und als solche eine Absage an die GroKo. Und anstelle des holden Traums von „offenen-Grenzen-für-alle“ eine Rückbesinnung auf internationale Solidarität. Denn Globalisierung und Internationalismus sind Gegensätze.
Mit dem weiteren Schwund der GroKo-SPD schwindet auch mehr und mehr die Aussicht auf die Parlamentsmehrheit links von der CDU. Als einzig mögliche Regierungskoalition bleibt dann nur noch Schwarz-Grün (mit oder ohne FDP und Tolerierung durch die AfD). So führt uns die SPD herrlichen Zeiten entgegen.

Freitag, 15. November 2019

Oskar Lafontaine zum rechtsterroristischen Putsch in Bolivien

Man bekommt Zustände, wenn man die Berichte der deutschen Medien über den Putsch in Bolivien liest. Jetzt zeigt sich wieder, in welchem Ausmaß die US-Propaganda Zeitungsredaktionen und Rundfunkanstalten in Deutschland beeinflusst. Spätestens seit dem Sturz von Allende in Chile 1973 dürfte bekannt sein, dass die verbrecherische US-Oligarchie nach folgendem Grundsatz verfährt: Solange wir die Rohstoffe der südamerikanischen Länder plündern und unseren Reibach damit machen können, dulden wir jedes Regime, sei es auch noch so undemokratisch und grausam. Sobald eine Regierung, wie die des Evo Morales in Bolivien, die Rohstoffe des Landes verstaatlicht um Sozialprogramme für die Bevölkerung zu finanzieren, muss sie weg.
Dabei ist der korrupten US-Oligarchie jedes Mittel recht, siehe Venezuela, wo in Folge der US-Sanktionen innerhalb eines Jahres 40.000 Menschen ums Leben gekommen sind, weil notwendige Medikamente fehlen. Im Irak mussten in den 90er Jahren aufgrund der US-Sanktionen 500.000 Kinder sterben, weil die US-Verbrecherclique keine Ruhe gab, bis sie auch Zugriff auf das irakische Öl hatte.
Die liebedienerische Bundesregierung unterstützt mehr oder weniger die ruchlose Außenpolitik der USA. Man muss wohl damit rechnen, dass Außenminister Maas, nachdem er schon dem brasilianischen Präsidenten Bolsonaro und dem selbsternannten Präsidenten Venezuelas, Guaidó, die Hand geschüttelt hat, jetzt auch bald der selbsternannten Präsidentin Boliviens, Áñez, den Hof machen wird.
Die Politiker der „hemmungslose Schurken-Supermacht“ USA (US-Politikberater Robert Kagan) gehören längst vor den Internationalen Strafgerichtshof.

Quelle: facebook #oskarlafontaine

Dienstag, 22. Oktober 2019

Oskar Lafontaine über "Ein Haus voller Narren und Esel"


Der britische „Guardian“ nennt das „House of Commons“ „ein Parlament der Esel, geführt von Fadenwürmern. Und nicht einmal sonderlich intelligenten.“ Die „Daily Mail“ schreibt auf ihrer Titelseite: „Das Haus der Narren“. Diese krasse Kritik übernimmt die “Frankfurter Allgemeine Zeitung” mit der Überschrift: „Ein Haus voller Narren und Esel“. Wie würde die altehrwürdige FAZ, das Leitorgan des gutsituierten Bürgertums, eine Volksvertretung bezeichnen, die:
  • an einer Rentengesetzgebung festhält, die zu millionenfacher Altersarmut führt und zur Folge hat, dass die Rentner im Durchschnitt 800 Euro im Monat weniger haben als die österreichischen Nachbarn
  • einen Mindestlohn von 9,19 Euro die Stunde billigt, der niedriger ist als in Nachbarländern und zwingend zu Altersarmut führt
  • ein Gesetz verabschiedet hat, das gut ausgebildete Beschäftigte dazu zwingt, jede beliebige schlecht bezahlte Arbeit anzunehmen
  • keine Vermögenssteuern erhebt, obwohl eine kleine Minderheit immer mehr Vermögen anhäuft, während die Hälfte der Bevölkerung kaum Vermögen bilden kann
  • Soldaten in völkerrechtswidrige Kriege schickt, obwohl die Mehrheit ihrer Wählerinnen und Wähler dagegen ist
  • Waffen an Diktaturen liefert, die Krieg führen, obwohl sie auch dafür keine Zustimmung in der Bevölkerung hat
  • eine Wohnungsbaupolitik macht, die dazu führt, dass Leute mit durchschnittlichen Löhnen nicht mehr in den Zentren der großen Städte wohnen können
  • eine Gesundheitspolitik zu verantworten hat, die dazu führt, dass immer mehr Ältere und Kranke nicht mehr menschenwürdig gepflegt werden
  • es zulässt, dass zweieinhalb Millionen Kinder in Armut leben und
  • in die schwarze Null so verliebt ist, dass die öffentliche Infrastruktur verfällt.
Die Beispiele ließen sich fortführen.
Dreimal darf man raten, welches Parlament hier gemeint sein könnte. Aber sicher können wir sein, dass die ehrwürdige FAZ dieses Parlament nicht mit solchen unparlamentarischen Worten an den Pranger stellen würde.
Quelle: Oskar Lafontaine via facebook

Dienstag, 18. Juni 2019

Notizen aus der Provinzhauptstadt: Dortmunder Sozialbericht zeichnet katastrophale Entwicklung.

DIE LINKE in Dortmund hat bei der Europawahl rund 700 Stimmen hinzugewonnen, aber relativ gesehen aufgrund der höheren Wahlbeteiligung Stimmenanteile auf nun 5,6 Prozent der Stimmen verloren. Damit liegen wir in Dortmund leicht über dem Bundesdurchschnitt. Das linke Spektrum insgesamt war bei dieser Wahl auch aufgrund vieler antretender und zum Teil neu aufgetretener Kleinparteien sehr zersplittert. Ein Ziel für die im kommenden Jahr anstehende Kommunalwahl wird es sein, diese fast 26.000 Stimmen wieder bei der LINKEn zu bündeln, um ihnen auch politische Wirkung zu verleihen. Das ist umso dringender, als der jetzt nach über zehn Jahren erneuerte Sozialbericht der Stadt - den die Fraktion DIE LINKE & PIRATEN intensiv vom Sozialamt eingefordert hat - katastrophale Defizite aufzeigt. Hier ein Auszug aus dem Newsletter unserer Ratsfraktion:

30 Prozent aller Dortmunder Kinder leben in einem Hartz IV-Haushalt. Fast ein Fünftel aller Dortmunder*innen lebt irgendwie vom amtlichen Existenzminimum (mehr als 18 Prozent). In den letzten zehn Jahren sind rund 15.000 Menschen zusätzlich in Hartz IV oder die Grundsicherung gerutscht. Die Arbeitsmarktdaten weisen auf grundsätzliche Probleme hin. Zwar feiert die Stadtspitze regelmäßig eine sinkende Arbeitslosenquote und eine steigende Zahl von sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätzen. Aus den Daten des Sozialberichtes geht aber hervor, dass diese zusätzlichen Stellen zu drei Vierteln aus Teilzeitstellen bestehen. Insgesamt 30.000 Menschen arbeiten mehr in Teilzeit als noch vor zehn Jahren. Das ist eine Verdoppelung dieser überwiegend prekären Jobs gegenüber den Vergleichsdaten aus 2007.

Auffällig – aber nicht überraschend – sind auch die völlig unterschiedlichen Lebensverhältnisse in den Dortmunder Stadtteilen. Im Süden beträgt die Transferleistungsquote nur 3,6 Prozent, in der Nordstadt dagegen sind zum Teil bis zu 44 Prozent aller Bewohner*innen auf staatliche Unterstützung angewiesen. Das hat mit einer „Sozialen Stadt“ nichts mehr zu tun. Es entspricht vielmehr den Warnungen linker Sozialwissenschaftler wie Prof. Christoph Butterwegge. Dieser hatte schon vor Jahren vor einer gespaltenen Stadt gewarnt, bei der die Lebenslagen immer weiter auseinander klaffen. Konflikte sind dann auf Dauer unvermeidbar.

Die neuen Daten wurden von Linken & Piraten selbstverständlich in die Kategorie „besondere Bedeutung und öffentliches Interesse“ eingestuft. Das heißt: Fraktionssprecher Utz Kowalewski hatte beantragt, das Thema als einen „Tagesordnungspunkt von besonderer Bedeutung“ ganz vorne auf die Tagesordnung der Ratssitzung im Mai zu setzen. Leider sah die Mehrheit das anders und behandelte den Sozialbericht unter „ferner liefen“.

Den neuen Sozialbericht gibt es als pdf unter: https://www.dortmund.de/de/rathaus_und_buergerservice/lokalpolitik/aktionsplan_sozial e_stadt/startseite_aktionsplan/index.html

Sonntag, 12. Mai 2019

Der Strategie-Streit der LINKEN muss weitergehen


Wegen einer zwar ungefährlichen, aber kraftraubenden Erkrankung konnte ich lange die öffentlichen Diskussionen um linke Politik nur aus der Ferne verfolgen und stellte dabei fest, dass sie auch ohne meine altklugen Ratschläge auskommt. Nun drängt es mich doch noch einmal zu einer Wortmeldung, aus aktuellem Anlass. Nach dem Formelkompromiss des letzten LINKEN-Parteitags im Streit um „offene Grenzen“ und nach dem Rückzug von Sahra Wagenknecht von ihren Parteiämtern ist es merkwürdig still um diesen Streit geworden, so dass manche innerhalb und außerhalb der Partei schon hoffen, ein unerklärtes Abrücken von „R2G“ oder von „aufstehen“ wäre schon der Sieg der Gegenseite. Doch auf Dauer würde die LINKE ein stilles Weiter-so nicht überleben.

Anlass zu meinen hier nur knapp umrissenen Überlegungen ist die schon öfter vorgetragene, Anfang Mai im „Stern“ wiederholte These des Kultursoziologen Andreas Reckwitz, der tiefgreifende ökonomische und technologische Strukturwandel der letzten Jahrzehnte habe die arbeitenden Klassen - Arbeiterklasse und kleine selbständig Erwerbstätige – mehr und mehr in drei etwa gleichgroße Blöcke (Schichten) umgruppiert: eine "neue Mittelschicht" gut qualifizierter Gewinner des Strukturwandels, die "alte Mittelklasse" als die verbliebenen Erben der ehemaligen "nivellierten Mittelstandsgesellschaft" (H.Schelsky), sowie die "neue Unterschicht" der gering Qualifizierten und "Abgehängten".

Marxist*innen kann diese Einteilung ebenso wenig überraschen wie Reckwitz‘ weitere Erläuterung, dass die Lebenslagen und Ansprüche dieser drei gesellschaftlichen Großgruppen sich erheblich unterscheiden: Die Angehörigen der „neuen Mittelschicht“ - die so etwa der klassischen Oberschicht der Arbeiterklasse entspricht, die Friedrich Engels „Arbeiteraristokratie“ nannte) - als aktiv Gestaltende des Wandels in den neuen Dienstleistungen, der Digitalisierung, der Bildungsexpansion usw. können sie die materiellen Mittel gewinnen für einen ambitionierten Lebensstil, der sich auch kulturell an den gesellschaftlich und global entgrenzten, individualistischen, auf permanente Selbstinszenierung gerichteten neoliberalen Wertewandel anpasst. Dann die übrig gebliebene „alte Mittelschicht“ aus Facharbeitern, Verwaltungsangestellten, kleinen Selbständigen, die großen Teils in die Verteidigung ihrer zunehmend unsicheren Existenzen gedrängt wird, worauf sie mit konservativer Sicherung des Altgewohnten gegen alles Neue und mit sozialer und nationaler Abschottung gegen alle Anderen reagiert. Schließlich die „neue Unterschicht“, die um ein menschenwürdiges Existenzminimum sowie erträgliche Arbeits- und Lebensbedingungen kämpft und sich dabei vielfach in Konkurrenz auch zu deklassierten Kleinbürgern, Zuwanderern usw. sieht.

An dieser Bestandsaufnahme, die ich grosso modo für zutreffend halte, setzen die folgenden Überlegungen an. Daraus ergibt sich, dass eine Sozialpolitik, wie sie den Markenkern der LINKEN bildet, nur bei der neuen Unterschicht auf überproportionale Zustimmung rechnen kann. Denn nur diese hat als einzige soziale Schicht ein starkes Eigeninteresse am Erhalt der Reste des ruinierten Sozialstaats. Und solange sie nur eine relativ einflussarme Minderheit der Gesellschaft ausmacht, liegt es in ihrem Interesse, zur Durchsetzung einer sozialeren und ökologisch verantwortbaren Politik sowohl mit der "neuen Mittelschicht" als auch mit Teilen des alten "Mittelstands" ein gesellschaftliches Bündnis anzustreben.

Nun stellt sich die Frage, wie bei derart unterschiedlichen Lebenslagen ein Bündnis dieser drei Großgruppen zustande kommen kann. Völlig konträr dazu liegt es jedenfalls, wenn die LINKE denjenigen Parteien, die in Programmatik und Praxis die Interessen der anderen erwerbstätigen Schichten vertreten - also in erster Linie SPD und Grünen, aber auch Piraten u.a. - Wähler abjagen will. Genau darauf zielen ausdrücklich jene Strömungen in der LINKEN, die sich einem Kosmopolitismus der "offenen Grenzen für Alle" verschrieben haben, das Nationale für nicht mehr zeitgemäß erklären, die großkapitalistische EU als angebliches Friedenswerk feiern und erhalten wollen, der Privatisierung öffentlicher Einrichtungen Vorschub leisten usw. Diese Strategie läuft darauf hinaus, anstelle der rechten Gegner die potentiellen Bündnispartner zu schwächen. Das Ergebnis wäre eine weitere Isolierung der LINKEN (was manche Wortführer*innen dieser Strömungen in prahlerischer Selbstüberschätzung in Kauf nehmen).

Nein, nicht mit linker Anpassung an liberale Ideologien können wir unsere Ziele erreichen. Neben den (öko-)liberalen Grünen und der (neo-)liberalen FDP eine dritte (links-)liberale Partei wäre nicht das, worauf das Wahlvolk am dringendsten wartet. Nein, unsere Ziele erreichen wir nur, wenn wir in den potentiellen Bündnisparteien diejenigen Kräfte stärken, die realistisch genug sind, um einzusehen, dass es nur einen einzigen Weg gibt, (wieder) regierungsfähig zu werden, nämlich gemeinsam. Und zwar wohlgemerkt, ohne dass eine der beteiligten Parteien sich in Richtung einer anderen verbiegen und ihre jeweilige Stammklientel verprellen muss wie die SPD in der GroKo!

Wer das nicht so sieht, mache sich die Zahlenverhältnisse klar, wie sie sich etwa anhand der aktuellen Sonntagsfragen darstellen. Danach hat die SPD auf absehbare Zeit keine Chance, weit über 20 Prozent der Wählerstimmen zu kommen, die Grünen erreichen mit 15 Prozent etwa das Limit ihres gesellschaftlichen Rückhalts, die LINKE bleibt mit maximal 10 Prozent auf ihre Stammklientel beschränkt; gemeinsam erreichen sie also um die 45 Prozent. Alle Hoffnungen, dass diese (grob geschätzten) Proportionen sich in absehbarer Zukunft entscheidend verschieben könnten, sind unernste Traumtänzerei.

Auf der Gegenseite kommen CDU/CSU und FDP zusammen auf ca. 40 Prozent. Folglich bringt jede von der CDU/CSU geführte Koalition immer mehr zusammen als SPD und Grüne ohne die LINKE. Das heißt, SPD und Grüne können nur entweder als Hilfstruppen der CDU/CSU mitregieren - oder gemeinsam mit der LINKEN regieren. Wer das bestreitet, ist ein Träumer oder ein Scharlatan, dem sein persönlicher Vorteil wichtiger ist als seine Wähler*innen.

Damit ein solches "R2G"-Bündnis dermaleinst zustande kommt und regierungsfähig wird, gilt es also vor allem, die gesellschaftlich wünschenswerte Vereinbarkeit der ursprünglichen Kernziele dieser drei Parteien herauszustellen, die nur gemeinsam das gewandelte (Selbst-)Bewusstsein der erwerbstätigen Klassen abbilden. Und die einzige Hoffnung der LINKEN für ihr langfristiges Überleben ist, dass diese realistische Einsicht in die gesellschaftliche Entwicklung der Bundesrepublik allmählich an Akzeptanz gewinnt. Daran mitzuwirken ist die alles entscheidende strategische Aufgabe der LINKEN.

Dienstag, 2. April 2019

Die Zukunft Europas ist nicht EU-konform. Was am Demo-Aufruf "Ein Europa für Alle" falsch ist.


Ein beachtliches Bündnis sozialer Verbände, unterstützt von linken und nach links blinzelnden Parteien, ruft "europaweit" (?) zu Demonstrationen kurz vor den Wahlen zum EU-Parlament auf: "Für die Zukunft Europas, gegen Nationalismus!" Anlass und Begründung des Aufrufs ist die Sorge, nach der Wahl könnten Nationalisten und Rechtsextreme mit weit mehr Abgeordneten als bisher ins Europaparlament einziehen und “das Ende der EU einläuten“.

Ob so ein Wahlergebnis wahrscheinlicher ist, als dass die EU sich in Kürze selbst zu Ende bringt, soll hier nicht erörtert werden - unterstellt wird damit jedoch unausgesprochen, die Wähler*innen hätten nur die Wahl zwischen Nationalismus-Rechtsextremismus einerseits oder der EU andrerseits. Bei bestem Willen kann dies behauptete Entweder-Oder nur das Ende beschleunigen, das man verhindern will.

Das Europa, das da gegen die Rechten geschützt werden soll, deckt sich dem Aufruf zufolge restlos und nahtlos mit der Europäischen Union. Und weil Nationalismus schlecht ist, muss die EU wohl gut sein, jedenfalls bleibt sie von jeglicher Kritik verschont. Kein Wort zu den antisozialen und antidemokratischen Diktaten der Troika, kein Wort zu den Kahlschlägen nach dem Maastricht-Vertrag und zum Fiskalpakt der "schwarzen Nullen", kein Wort gegen die Bankenrettung zu Lasten der Bevölkerungen, kein Wort gegen das katastrophale ökonomische Übergewicht Deutschlands durch seine Dumpinglöhne im EURO-System, kein Wort gegen das Aufrüstungsprogramm der EU, kein Wort gegen das Aushebeln demokratischer Verfahren durch Machtsprüche von Ministerrunden usw.

Es gäbe also mehr als genug Gründe, gegen diese EU zu stimmen und ihr "Ende einzuläuten", ohne damit auf den nationalistischen oder gar rechtsextremen Leim zu gehen. Wer jede Alternative zur EU als nationalistisch diffamiert, unterschlägt nicht nur die vielen guten, nicht nationalistischen Gründe zur Verteidigung staatlicher Souveränität, Sozialgesetzlichkeit und Demokratie - sondern verschafft obendrein den rechten EU-Gegnern ungewollt ein Alleinstellungsmerkmal: Wenn Ablehnung dieser EU nur rechts sein kann, werden die Rechten zur ersten Adresse für EU-Kritik aufgewertet.

Das ist natürlich genau das Bild, das die Rechten sich wünschen und das ihnen Stimmen bringt. Es lenkt ab von den Machenschaften der Regierungen, die selbst immer mehr Menschen den Rechten in die Arme treiben. Es lenkt ab davon, dass die Gefahr des Rechtsrucks in der EU viel mehr von der neoliberalen Politik der Herrschenden ausgeht als vom EU-Parlament. Es trifft schon genau zu, was attac Österreich erklärte (anders als attac Deutschland, die den Aufruf mitträgt): "Die EU ist ein idealer Nährboden für die extreme Rechte. Die jahrelange neoliberale EU-Politik hat zu einem Anstieg an Arbeitslosigkeit, Armut, Unsicherheit und Zukunftsängsten geführt. Die Rechten nutzen diese Verunsicherung und diese Ängste."

"Ein Europa für Alle" soll die EU sein? Nein, diese unkorrigierbar neoliberale EU ist Gegnerin "aller" Europäer*innen. Wer Europa gemeinsam mit Parteien verteidigt, die den Neoliberalismus im EU-Format zu verantworten haben, bekommt ein neoliberales Europa. Das darf nicht "Europas Zukunft" werden!

Sonntag, 24. März 2019

Was wir im EU-Parlament erreichen können

Mein Input für die Kreismitgliederversammlung

Der Bonner Europa-Parteitag der LINKS-Partei Ende Februar 2019 hat natürlich die krassen Gegensätze in der Bewertung der EU nicht aufgehoben. Nach wie vor streben die meisten Spitzenfunktionär*innen der Partei einen deutlichen Pro-EU-Kurs an und wollen mit SPD und Grünen „Mehr Europa wagen.“  – Wobei man so absichtlich wie falsch die EU mit ganz Europa gleich setzt. – Die Emanzipatorische Linke steht weiterhin für eine Überwindung des Nationalstaats und eine Politik der „Offenen Grenzen“. Das Forum Demokratischer Sozialismus (der Flügel der Parteivorsitzenden Katja Kipping) wollte in das Wahlprogramm die Forderung nach einer "Republik Europa" aufnehmen lassen, welche die bestehenden Nationalstaaten ablösen soll. (Dieser Antrag fiel mit immerhin 44 % der Delegiertenstimmen nur knapp durch.) Und Gregor Gysi, Präsident der Europäischen Linken, wird nicht müde zu bekennen: „Ja, wir sind Europäerinnen und Europäer.“ 
Andere Parteiströmungen sehen unverändert die EU als eine Agentur des großen Kapitals zum Generalangriff auf den Sozialstaat und die Demokratie. Sie sind daher nicht bereit, noch mehr nationale Souveränität an die EU-Institutionen abzugeben.

Dabei kann niemand leugnen, dass die Ziele, mit denen man dem breiten Publikum erst die EWG (Europäische Wirtschaftsgemeinschaft) und schließlich die WWU (Wirtschafts- und Währungsunion) mitsamt dem Euro schmackhaft machen wollte:

-die EU sei ein dauerhaftes Friedensbündnis,

-mit der Freizügigkeit und der gemeinsamen Währung würden Schritt für Schritt auch die Lebensverhältnisse und Sozialsysteme harmonisiert und verbessert,

-und der Wille der europäischen Völker solle sich in demokratischen Verfahren manifestieren,

diese Versprechungen in all den hunderten Verträgen zwischen den Regierungen im großen und ganzen Lippenbekenntnisse ohne praktische Umsetzung blieben. Die Institutionen und Verfahren der Union sind in keiner Weise demokratisch strukturiert und noch weniger demokratisch legitimiert.

Gerade das "Europaparlament" ist dafür ein krasses Beispiel. Es ist eigentlich gar kein Parlament im Sinne westlicher Demokratien. Zwar wird es von den Völkern der Mitgliedsländer seit 1979 direkt gewählt (wenngleich von Land zu Land nach unterschiedlichen Wahlverfahren), aber ihm fehlen wesentliche Rechte einer Volksvertretung: Die Gesetzgebung teilt es sich mit dem Rat der Regierungschefs, kann Gesetze (Richtlinien, Verordnungen, Entscheidungen) nur nach einer intransparenten Kungelei annehmen oder ablehnen. Es hat selbst kein Initiativrecht zu Gesetzen und Verordnungen. Es kann das Spitzenpersonal der Exekutive nur aus Vorschlägen des Rats auswählen, auch seine Mitsprache über den Haushalt der EU unterliegt einer hoch komplizierten Abstimmungsprozedur mit dem Rat und der EU-Kommission.

Wir Linken müssen uns also fragen, ob und wie wir in diesem bürokratischen Monstrum EU ein solches Scheinparlament im Interesse der unteren Klassen ausnutzen können. In der Öffentlichkeit gilt ja die LINKE immer noch als Anti-EU-Partei. Nur wenn es reale Ansatzpunkte dafür gibt, mithilfe der linken Parlamentsfraktion Gegenmacht aufbauen bzw. stärken zu können, nur dann dürften Linke sich da hinein wählen lassen.

Es bleibt zwar richtig, die Neugründung eines sozialen und demokratischen Europa von unten zu fordern, wie es jetzt auch im Wahlprogramm heißt, doch die Linke hat noch keine Antwort auf die Frage gefunden, wie das durchgesetzt werden soll. Solange Linke und Gewerkschaften, ungeachtet der in eine völlig andere Richtung laufenden realen Entwicklungen, an ihrer "kritischen Zustimmung" zu dieser EU festhalten, blockieren sie sich selbst, eine wirksame Gegenmacht zu entwickeln.

Netzwerke der Solidarität schaffen

Dies wird aber immer dringlicher, da die wirtschaftlichen Konflikte zwischen dem von Deutschland dominierten Zentrum und der südlichen Peripherie sich von Jahr zu Jahr zuspitzen, die EU in die Krise treiben und nationalistische Hetze anheizen. Immer mehr gerät der Kontinent in Aufruhr. Überall protestieren Menschen gegen eine Politik, die Armut und Ungleichheit verschärft und die Demokratie missachtet. Sie fordern eine andere Antwort auf die Krise, ein soziales Europa und wehren sich gegen die Arroganz der Mächtigen.

An den linken Fraktionen ist es, diesem Aufruhr auch eine parlamentarische Stimme zu geben. Das kann durchaus Gegenmacht von unten stärken - ohne schädliche linksliberale Illusionen zu erzeugen. Linke Politik muss dazu beitragen, Netzwerke der Solidarität und der Opposition gegen die neoliberalen Diktate der EU zu knüpfen, Netzwerke zwischen europäischen, nationalen, regionalen und kommunalen Bewegungen. Dem hat unsere Arbeit in Parlamenten sich einzufügen. Auch im Pseudoparlament der EU können wir dazu beitragen.

Das erfordert vor allem eine Strategie der europaweit koordinierten Mobilisierung für zivilgesellschaftlichen "Ungehorsam" gegen neoliberale Diktate der EU und Mobilisierung für zentrale Forderungen der Sozialpolitik und der Infrastruktur.

Auf der Basis gemeinsamer Aktionsprogramme über Ländergrenzen hinweg kann die Zusammenarbeit innerhalb der Fraktion der Vereinten Europäischen Linken/Nordische Grüne Linke (GUE/NGL) und mit anderen Fraktionen im EU-Parlament verstärkt werden. – Allerdings hat sich am Thema Zuwanderung und "offene Grenzen" auch drastisch gezeigt, wie weit die linke Opposition bei uns selbst noch von einem konsistenten, mehrheitsfähigen Alternativprogramm zum EU-Regime entfernt ist.

Immerhin wäre es sofort möglich und notwendig, sich auf wenige gemeinsame (!) Forderungen zu einigen. Das in Bonn beschlossene Wahlprogramm taugt dazu nicht in Gänze. In ihm gehen ganz Europa betreffende Forderungen und solche, die nur auf einzelstaatlicher Ebene realisierbar sind, durcheinander. Insbesondere Regelungen zu Arbeitseinkommen, Arbeitszeiten und den Beschäftigungsbedingungen sind auf absehbare Zeit nur auf nationaler Ebene verhandelbar, da sie stark mit der jeweiligen Produktivität der verschiedenen Volkswirtschaften korrelieren. Auch die meisten Systeme der sozialen Sicherung (Renten, Krankenversicherung, aber auch Wohnungswesen, Mieten usw.) unterscheiden sich von Land zu Land grundlegend und können nicht von heute auf morgen europäisch vereinheitlich werden.

Der nächste Schritt hin zu einem europaweiten linken Aktionsprogramm müsste also sein, aus dem Wahlprogramm diejenigen Programmpunkte herauszufiltern, die über Ländergrenzen hinweg unmittelbar zu verwirklichen wären, und sich mit anderen oppositionellen Kräften innerhalb und außerhalb des Parlaments darüber abzustimmen.

Donnerstag, 21. Februar 2019

Gemeinsamer Aufruf zur Mahnwache für Venezuela

Nein zum Putsch – Hände weg von Venezuela!

„Stoppt diesen neuesten Irrsinn der US-Regierung. Lasst das venezolanische Volk in Frieden. Sie
haben eine wirkliche Demokratie, hört auf, sie zerstören zu wollen, damit das eine Prozent ihr Erdöl
ausplündern kann.“
Pink-Floyd-Mitbegründer Roger Waters bei Twitter
Das ist ein Rückfall in eine koloniale und imperiale Praxis: Regierungen werden dazu aufgefordert,
sich zu unterwerfen, wodurch sie letztlich in den Vasallenstatus zurückkehren.“
Norman Paech, emeritierter Professor für Völkerrecht

Nach den USA und einer Reihe von rechtsgerichteten Regierungen
in Lateinamerika haben sich Teile der EU an die Seite
der Putschisten in Venezuela gestellt. Nur 12 der 28 EU-Regierungen,
darunter Deutschlands, Frankreichs und Spaniens
erkennen anstelle des demokratisch gewählten Präsidenten
Nicolás Maduro den rechten von den USA inthronisierten Oppositionspolitiker
Juan Guaidó als Präsidenten an, im Gegensatz
zu allen anderen EU-Regierungen und vielen weiteren
Staaten in Südamerika wie auch China und Russland – Guaidó
hatte sich am 23. Januar ohne jegliche Legitimität selbst zum
Interimspräsidenten des Landes erklärt. Bundesaußenminister
Heiko Maas (SPD) hat umgehend erklärt: „Wir sind nicht neutral,
wir stehen auf der Seite von Guaidó.“ Der Wissenschaftliche
Dienst des Bundestages stellt die Anerkennung des Oppositionspolitikers
durch die Bundesregierung und weitere
westliche Staaten in Frage. Es gebe "starke Gründe" für die
Annahme, dass es sich bei der Anerkennung Guaidós um eine
"Einmischung in innere Angelegenheiten” handelt, heißt es in
einer zehnseitigen Ausarbeitung der Bundestagsjuristen. Die
Autoren bezeichnen die Frage, ob die Anerkennung Guaidós
als unzulässige Intervention zu bewerten ist, als "durchaus berechtigt”.
Unter dem Vorwand von „Hilfslieferungen“ bereiten die USA
eine Militärintervention in Venezuela propagandistisch vor.
Venezuelas Regierung habe den Grenzübergang zur kolum-
„Stoppt diesen neuesten Irrsinn der US-Regierung. Lasst das venezolanische Volk in Frieden. Sie
haben eine wirkliche Demokratie, hört auf, sie zerstören zu wollen, damit das eine Prozent ihr Erdöl
ausplündern kann.“
Pink-Floyd-Mitbegründer Roger Waters bei Twitter
Das ist ein Rückfall in eine koloniale und imperiale Praxis: Regierungen werden dazu aufgefordert,
sich zu unterwerfen, wodurch sie letztlich in den Vasallenstatus zurückkehren.“
Norman Paech, emeritierter Professor für Völkerrecht
Nein zum Putsch – Hände weg von Venezuela!
Nein zum Putsch und zu jeglicher Einmischung durch die imperialistischen Staaten in
Venezuela!
Die legitime Regierung ist die des rechtmäßig gewählten Präsidenten Nicolás Maduro!
-bianischen Stadt Cúcuta geschlossen, um die Lieferung »humanitärer
Hilfe« zu verhindern, empörte sich US-Außenminister
Michael Pompeo über Twitter. Dagegen hat der Leiter
der Delegation des Internationalen Komitees vom Roten
Kreuz (IKRK) in Kolumbien, Christoph Harnisch, bekannt gegeben,
dass seine Organisation sich nicht an der Verteilung der
Hilfe aus den Vereinigten Staaten beteiligen wird, da es ein
Programm einer Regierung und keine humanitäre Hilfe sei.
Seit Jahren versuchen die USA, assistiert von der EU, den
Willen des venezolanischen Volkes, seinen Weg eigenständig
und unabhängig von den Diktaten des US-Imperialismus zu
bestimmen, zu brechen. Putsch- und Mordversuche, Destabilisierung,
Sanktionen und Desinformation haben bislang nicht
zum gewünschten Regime-Change geführt. Nun wird erneut
ein Bürgerkrieg angefacht.
Die Kampagne gegen die Regierung Venezuelas erinnert an
den Putsch in Chile 1973. Auch damals wurde maßgeblich von
den USA eine wirtschaftliche Krise provoziert, die das Militär
dann als Vorwand für den Sturz und die Ermordung des gewählten
sozialistischen Präsidenten Salvador Allende nahm.In
dieser Situation sind alle Demokraten aufgefordert, sich von
der verzerrenden und zum Teil lügenhaften Berichterstattung
der Massenmedien nicht verwirren zu lassen und den Kriegstreibern
und Putschisten in den Arm zu fallen.
Dies ist ein gemeinsamer Aufruf von folgenden Organisationen:
Attac Dortmund / Bündnis Dortmund gegen Rechts / Deutsche KommunistischePartei (DKP), Kreisverband
Dortmund / DIE LINKE, Kreisverband Dortmund Linksjugend (’solid) Basisgruppe
Dortmund / Vereinigung Verfolgter des Naziregimes - Bund der Antifaschist*innen (VVN-BdA) Dortmund
/ Dortmunder Friedensforum /
Wir rufen auf zu einer Mahnwache am Freitag, 22. Februar,
von 16 bis 18 Uhr vor der Reinoldikirche

Donnerstag, 31. Januar 2019

Hartz IV diszipliniert vor allem Beschäftigte zum Lohnverzicht


Eine brandneue Untersuchung von Ökonomen der TU Dortmund und der Uni Bonn hat jetzt wissenschaftlich bestätigt, dass die Arbeitsmarkt-Reformen der Regierung Schröder/Fischer von 2003-2005 – vor allem „Hartz IV“- nicht in erster Linie auf die Arbeitslosen zielten, sondern eine allgemeine Absenkung des Lohnniveaus in Deutschland herbei führten:
„Insbesondere bei gut verdienenden und langfristig beschäftigten Arbeitnehmern entfaltet Hartz IV durch den Wegfall der Arbeitslosenhilfe eine abschreckende Wirkung“, erläutert Prof. Philip Jung von der TU Dortmund. „Diese Gruppe war bereit, nach der Reform Lohnverzicht zu üben, um im Gegenzug Beschäftigungsgarantien zu erhalten.“ 
Dies politisch gewollte Lohndumping wurde zum unfairen Wettbewerbsvorteil der deutschen Exportwirtschaft, um andere – besonders europäische – Konkurrenten vom Markt zu drängen.


Donnerstag, 24. Januar 2019

Ist die Nutzung des EU-Parlaments im Interesse der Bürger möglich?


Notizen zur strategischen Einordnung der Kandidatur der LINKEN zur "Europawahl"


Die Macher der EU verfolgen von Anfang bis heute ganz andere Motive und Ziele als die Mehrheit der europäischen Bürger*innen:

- Die Entstehung des europäischen Binnenmarkts lag zu allererst im Interesse der USA-Nachkriegspolitik. Die USA nutzten den Wiederaufbau der schwer kriegsgeschädigten Volkswirtschaften Europas, um ihre Konkurrenten mit Marshallplan, Bindung der Währungen an den US-Dollar, OECD und IWF in eine antikommunistische Allianz des Kalten Kriegs unter US-amerikanischer Führung zu drängen. Dabei ging es ihnen vor allem um eine enge Zusammenarbeit der Schwerindustrien (Rüstung, Atomprogramm), den Abbau von Handelshemmnissen und die Freizügigkeit von Kapital und Arbeitskräften. Also im wesentlichen um rein wirtschaftliche und weltmachtpolitische Ziele.

- Auch Frankreich war von Marshallplan-Hilfen abhängig und musste sich daher den US-Bedingungen fügen. Daneben aber, weil es seinen eigenen Weltmachtanspruch nun nicht mehr gegen den alten Erzfeind Deutschland durchsetzen konnte, entschied Frankreich sich, den deutschen Rivalen in ein europäisches Vertragssystem zu fesseln und die überlegene westdeutsche Wirtschaftsmacht über supranationale Institutionen zu kontrollieren.

- Die westdeutschen Eliten sahen im gemeinsamen Markt vor allem den goldenen Weg, sich möglichst schnell aus der Kriegsverliererposition zu befreien und wieder zur alten wirtschaftlichen Vorkriegsstärke aufzusteigen. Zudem konnten sie nur im europäisch-atlantischen Verbund wieder eine Militärmacht werden. Sie träumten sogar zehn Jahre lang vom Griff nach Atomwaffen.

Die hehren Ziele, mit denen man dem breiten Publikum erst die Montanunion und EURATOM, dann die EWG (Europäische Wirtschaftsgemeinschaft) und schließlich die WWU (Wirtschafts- und Währungsunion) mitsamt dem Euro schmackhaft machte, nämlich:
-die EU sei ein dauerhaftes Friedensbündnis,
-mit der Freizügigkeit würden Schritt für Schritt auch die Lebensverhältnisse und Sozialsysteme harmonisiert und verbessert,
-und der Wille der europäischen Völker solle sich in demokratischen Verfahren manifestieren,
diese Versprechungen blieben in all den hunderten Verträgen zwischen den Regierungen nur leere Lippenbekenntnisse ohne praktische Umsetzung.

Ganz im Gegenteil:
-Der Beitritt zur EU war von Anfang an direkt mit der NATO-Mitgliedschaft verknüpft. Als eine der ersten Vergemeinschaftungen sollte die Verteidigungsgemeinschaft entstehen. Sie scheiterte jedoch am französischen Souveränitätsanspruch, und bis heute können die Staaten sich nicht auf eine - besonders von Deutschland geforderte - "Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik" (GASP) einigen. Das hinderte sie aber im Einzelfall weder an Kriegs- und Bürgerkriegseinsätzen auf europäischem Boden (Nordirland, Baskenland, Jugoslawien) noch an Dutzenden Kriegszügen in Afrika und Nahost. Ein "Friedensbündnis"?

-Die neoliberale Wende seit den 70er Jahren hat nicht nur jeden Fortschritt zu einer gemeinsamen Sozialpolitik blockiert, sondern den Mitgliedsländern rigide Spar- und Privatisierungsprogramme aufgezwungen. Solange die angeblich unabhängige und unpolitische Europäische Zentralbank jeder Regierung den Geldhahn zudrehen kann, ist eine Politik, die sich an demokratischen und sozialen Prinzipien orientiert, ausgeschlossen. Die EU-Kommission hat zur Umsetzung der Strategie "Europa 2020" viele weitere Kompetenzen im Rahmen des so genannten "Europäischen Semesters" und der "Economic Governance" (TwoPack, SixPack) erhalten, um die Politik der Mitgliedstaaten zu überwachen und sogar zu sanktionieren. Hinzu kommt der Fiskalpakt, der durch völkerrechtlich verankerte Schuldenbremsen den finanziellen Handlungsraum der nationalen Politiken weiter einschränkt, und der ganz außerhalb der EU-Verträge vereinbart wurde.

-Damit einher ging ein z.T. brutaler Demokratieabbau in den einzelnen Mitgliedsstaaten. Aber auch die Institutionen und Verfahren der Union selbst sind in keiner Weise demokratisch legitimiert noch demokratisch strukturiert. Gerade das "Europaparlament" ist dafür ein krasses Beispiel. Es ist eigentlich gar kein Parlament im Sinne westlicher Demokratien. Zwar wird es von den Völkern der Mitgliedsländer seit 1979 direkt gewählt (wenngleich nach von Land zu Land verschiedenen Wahlverfahren), aber ihm fehlen wesentliche Rechte einer Volksvertretung (Entscheidungsmacht gegenüber der Exekutive, Initiativrecht zu Gesetzen und Verordnungen, Wahlrecht der EU-Funktionäre, Budgetrecht).

Wir Linken müssen uns also fragen, wie wir in diesem bürokratischen Monster EU ein solches Scheinparlament im Interesse der unteren Klassen ausnutzen können. Nur wenn es reale Ansatzpunkte dafür gibt, mithilfe der linken Parlamentsfraktion Gegenmacht aufbauen bzw. stärken zu können, nur dann dürften Linke sich da hinein wählen lassen.

Solange Linke und Gewerkschaften, ungeachtet der in eine völlig andere Richtung laufenden realen Entwicklungen, an ihrer "kritischen Zustimmung" zu dieser EU festhalten, blockieren sie sich selbst, eine wirksame Gegenposition zu entwickeln. Es bleibt zwar richtig, die Neugründung eines sozialen und demokratischen Europas von unten zu fordern, doch die Linke muss sich die Frage stellen, wie das durchgesetzt werden soll. Die autoritär-neoliberale Politik ist in den Verträgen der EU dermaßen fest verankert, dass sie nur in EU-weiten Aufständen zu ändern sein dürfte. Dennoch haben viele Linke nicht die gebotene nüchterne Analyse der realen Situation vorgenommen, sondern setzen schlicht auf das Prinzip Hoffnung.

Andrerseits bleibt die Propaganda für einen "Lexit" (Left Exit) - also einen Austritt aus der EU "nach links", mit der Perspektive eines radikalen Wandels der gesellschaftlichen Machtverhältnisse auf nationaler oder gar europäischer Ebene - hohles Geschwätz, solange unten an der Basis keine breite, an vielen Fronten auf dieselbe Veränderung gerichtete Bewegung wenigstens in Umrissen erkennbar wird. Linke Politik muss dazu beitragen, sie zu schaffen, zwischen europäischen, nationalen, regionalen und kommunalen Bewegungen Netzwerke der Solidarität und der Opposition gegen das autoritäre EU-Regime zu knüpfen und zu festigen. Dem hat unsere Arbeit in Parlamenten sich einzufügen, auch im Pseudoparlament der EU können wir dazu beitragen.

Allerdings hat sich am Thema Zuwanderung und "offene Grenzen" auch drastisch gezeigt, wie weit die linke Opposition selbst noch von einem konsistenten, mehrheitsfähigen Alternativprogramm zum EU-Regime entfernt ist. Immerhin wäre es sofort möglich und notwendig, sich auf wenige gemeinsame (!) Forderungen zu einigen. Dazu könnten gehören: der Stopp der Austeritätspolitik und die Auflösung der Troika, eine europäische Schuldenkonferenz sowie ein Investitionsprogramm gegen Massenerwerbslosigkeit, mehr Geld für Bildung, Gesundheitsversorgung und eine europäische Energiewende.
In Zeiten verstärkter Binnenmarktwanderung und sozialer Katastrophen an der EU-Peripherie sind praktische Vorschläge einer Sozialunion vonnöten, etwa eine innereuropäische Übertragbarkeit von nationalen Renten- und Arbeitslosengeldansprüchen, die Einführung einer sozialen Basissicherung, eine europaweite Krankenversicherungspflicht, die armutsfeste Vereinheitlichung der nationalen Mindestlöhne auf 64 % der jeweiligen nationalen Durchschnittslöhne (wie sie derzeit in Portugal und Slowenien gelten; Frankreich kommt auf 62 %, das reiche Deutschland nur auf 48 %!).
Zum Investitionsprogramm: Die griechische Wirtschaft z.B. hat durchaus Wachstumspotentiale, aber die dafür notwendigen Investitionen können gegenwärtig kaum im Inland aufgebracht werden, und am Kapitalmarkt muss Griechenland hohe Risikoprämien zahlen. Deshalb kommt dem europäischen Investitionsplan eine zentrale Bedeutung zu.

Den Start könnte eine Kampagne für eine europäische Bürgerinitiative legen, die drei Kernziele umfasst: ein Ende der Kürzungspolitiken und Privatisierungen, eine Besteuerung der Reichen mit einer europäischen Vermögensabgabe, Investitionen in eine europaweite soziale Infrastruktur (Gesundheit, Bildung, Wohnen, Energie) und in eine europäische Energiewende. Oder auch eine soziale Mindestsicherung, garantierte Arbeits- und Tarifrechte, eine solidarische Flüchtlingspolitik.

Alban Werner schlug vor, dass die anti-neoliberale Linke EU-weit zu einem nicht staatlich autorisierten Referendum aufruft. Die Entscheidungsalternative wäre:
a) Es soll weitergehen wie bisher mit dem sozial-ökonomischen Kurs innerhalb der EU, ohne zusätzliche demokratische Einwirkungsmöglichkeiten der Bürger*innen, oder
b) Es soll in der EU einen prinzipiellen Kurswechsel geben hin zu einem sozial-ökologischen »Marshallplan« für Europa, der gute Arbeit für alle schafft, öffentliche Infrastrukturen stärkt sowie ausgebaute demokratische Mitwirkungsrechte für die Bürger*innen sowie ein entscheidungsmächtiges Parlament vorsieht. Wo die geltenden EU-Verträge dem entgegenstehen, sind sie zu ändern.

Europa ist in Aufruhr. Überall auf dem Kontinent protestieren Menschen gegen eine Politik, die Armut und Ungleichheit verschärft und die Demokratie missachtet. Sie fordern eine andere Antwort auf die Krise, ein soziales Europa und wehren sich gegen die Arroganz der Macht. An den linken Fraktionen ist es, diesem Aufruhr auch eine parlamentarische Stimme zu geben. Das kann durchaus Gegenmacht von unten stärken - ohne schädliche linksliberale Illusionen zu erzeugen.

Wolf Stammnitz
Dortmund







Donnerstag, 3. Januar 2019

Auszug aus: Die Linke und die "Open Borders" Von Angela Nagle | editiert auf Makroskop 04.12.2018

Einst beschränkte sich die Rede von „offenen Grenzen“ auf radikale marktwirtschaftliche Think Tanks und libertäre anarchistische Kreise. Nun ist sie integraler Bestandteil des liberalen Diskurses und führt die Linke in eine existenzielle Krise.
Heute ist die mit Abstand sichtbarste Anti-Globalisierungsbewegung die Anti-Migrationspolitik unter Donald Trump und anderen "Populisten". Die Linke scheint unterdessen keine andere Wahl zu haben, als sich vor Entsetzen über Trump und Nachrichtenberichte über die Jagd auf Migranten durch die Polizei- und Zollbehörden zurückzuziehen; sie kann nur gegen das reagieren, was Trump tut. Wenn Trump für Einwanderungskontrollen ist, dann wird die Linke das Gegenteil fordern.
Seitdem ist die Rede von "offenen Grenzen" in den liberalen Diskurs eingetreten. Während keine ernstzunehmende politische Partei der Linken konkrete Vorschläge für eine wirklich grenzenlose Gesellschaft macht, hat sie sich, indem sie die moralischen Argumente der No-Border-Linken und die wirtschaftlichen Argumente der marktwirtschaftlichen Think Tanks aufgreift, selbst in die Ecke gedrängt. Wenn "kein Mensch illegal ist", impliziert das, dass Grenzen oder souveräne Nationen keine moralische Legitimität mehr haben.

Nützliche Idioten

Offene Grenzen sind seit langem ein Ruf der Wirtschaft nach der "freien Marktwirtschaft". Ausgehend von neoklassischen Ökonomen haben sich diese Gruppen für eine Liberalisierung der Migration aus Gründen der Marktrationalität und wirtschaftlichen Freiheit ausgesprochen. Sie lehnen Migrationsbegrenzungen aus dem gleichen Grund ab wie sie Beschränkungen des Kapitalverkehrs ablehnen.

Dass offene Grenzen zu einer "linken" Position geworden sind, ist ein ganz neues Phänomen und steht in grundlegender Weise im Widerspruch zur Geschichte der organisierten Linken. Karl Marx' Position zur Einwanderung würde ihn heute in der modernen Linken zur Persona non grata machen. Obwohl Migration in der heutigen Geschwindigkeit und Größenordnung zu Marx' Zeiten undenkbar gewesen wäre, sah er die Auswirkungen der Migration im 19. Jahrhundert sehr kritisch. In einem Brief an zwei amerikanische Reisegefährten argumentierte Marx, dass die Einfuhr von irischen Einwanderern nach England sie in einen feindlichen Wettbewerb mit englischen Arbeitern zwang. Er sah es als Teil eines Systems der Ausbeutung, das die Arbeiterklasse spaltete und eine Erweiterung des kolonialen Systems darstellte.

Angesichts der obszönen Bilder von Billiglohn-Migranten, die von den Behörden als Kriminelle verfolgt werden, andere im Mittelmeer ertrinken, und des besorgniserregenden Anstiegs der Stimmung gegen Immigranten auf der ganzen Welt, ist es leicht zu verstehen, warum die Linke illegale Migranten davor bewahren will, zur Zielscheibe werden. Und das sollte sie auch! Aber auf der Grundlage des richtigen moralischen Impulses zur Verteidigung der Menschenwürde von Migranten, hat die Linke schließlich die Frontlinie zu weit nach vorne verlegt und das ausbeuterische System der Migration selbst wirksam mitverteidigt. Mit der Übernahme der Forderung nach "offenen Grenzen" – und einem moralischen Absolutismus, der jede Begrenzung der Migration als unsägliches Übel betrachtet – wird jede Kritik am ausbeuterischen System der Massenmigration effektiv als Blasphemie abgetan.

Die richtige Antwort ist daher nicht der abstrakte Moralismus, alle Migranten in einem imaginären Akt der Nächstenliebe willkommen zu heißen. Sondern die Ursachen der Migration im Verhältnis zwischen großen und mächtigen Volkswirtschaften und den kleineren oder sich entwickelnden Volkswirtschaften, aus denen Menschen migrieren, anzugehen. Laut den Zahlen des Census Bureau für 2017 sind etwa 45 Prozent der Migranten, die seit 2010 in den Vereinigten Staaten angekommen sind, Hochschulabsolventen. Die Entwicklungsländer kämpfen darum, ihre qualifizierten Staatsbürger zu halten, die oft zu hohen öffentlichen Kosten ausgebildet werden.

Die Gesellschaften radikal verändernde Massenmigration ist auf der ganzen Welt bei der Mehrheit der Menschen unbeliebt. Und die Menschen, bei denen sie unbeliebt ist, haben ein Wahlrecht. So stellt die Migration zunehmend eine für die Demokratie grundlegende Krise dar. Jede politische Partei, die regieren will, muss entweder den Willen des Volkes akzeptieren, oder sie muss den Dissens unterdrücken, um die Agenda der offenen Grenzen durchzusetzen. Viele Mitglieder der libertären Linken gehören zu den aggressivsten Befürwortern der letzteren Methode.
Die Migrationsexpansionisten haben so zwei Schlüsselwaffen. Eine davon sind die großen Geschäfts- und Finanzinteressen. Die andere, die von den linksgerichteten Einwanderungsbefürwortern fachkundig eingesetzte moralische Erpressung und öffentliche Scham.

So wird ein Produkt des Big Business und der Lobbyarbeit für den freien Markt von einer größeren Gruppe der urbanen Kreativ-, Technologie-, Medien- und Wissenswirtschaftsklasse mitgetragen. Sie dient dabei ihren eigenen objektiven Klasseninteressen, indem sie ihren kurzlebigen Lebensstil billig und ihre Karriere intakt hält, während sie die institutionalisierte Ideologie ihrer Industrien nachahmt.
Doch die Wahrheit ist, dass es sich bei der Massenmigration um eine Tragödie handelt. Und deren Moralisierung durch die obere Mittelschicht ist eine Farce.

Indem sie die Geschäftsinteressen der herrschenden Elite stützt, riskiert die Linke eine schwere existenzielle Krise und treibt immer mehr gewöhnliche Menschen in die Arme rechtsextremer Parteien. In diesem Moment der Krise ist der Einsatz zu hoch, um erneut zu versagen.


Dieser Artikel erschien ursprünglich in englischer Sprache in American Affairs Band II, Nummer 4 (Winter 2018): 17-30.