Donnerstag, 3. Januar 2019

Auszug aus: Die Linke und die "Open Borders" Von Angela Nagle | editiert auf Makroskop 04.12.2018

Einst beschränkte sich die Rede von „offenen Grenzen“ auf radikale marktwirtschaftliche Think Tanks und libertäre anarchistische Kreise. Nun ist sie integraler Bestandteil des liberalen Diskurses und führt die Linke in eine existenzielle Krise.
Heute ist die mit Abstand sichtbarste Anti-Globalisierungsbewegung die Anti-Migrationspolitik unter Donald Trump und anderen "Populisten". Die Linke scheint unterdessen keine andere Wahl zu haben, als sich vor Entsetzen über Trump und Nachrichtenberichte über die Jagd auf Migranten durch die Polizei- und Zollbehörden zurückzuziehen; sie kann nur gegen das reagieren, was Trump tut. Wenn Trump für Einwanderungskontrollen ist, dann wird die Linke das Gegenteil fordern.
Seitdem ist die Rede von "offenen Grenzen" in den liberalen Diskurs eingetreten. Während keine ernstzunehmende politische Partei der Linken konkrete Vorschläge für eine wirklich grenzenlose Gesellschaft macht, hat sie sich, indem sie die moralischen Argumente der No-Border-Linken und die wirtschaftlichen Argumente der marktwirtschaftlichen Think Tanks aufgreift, selbst in die Ecke gedrängt. Wenn "kein Mensch illegal ist", impliziert das, dass Grenzen oder souveräne Nationen keine moralische Legitimität mehr haben.

Nützliche Idioten

Offene Grenzen sind seit langem ein Ruf der Wirtschaft nach der "freien Marktwirtschaft". Ausgehend von neoklassischen Ökonomen haben sich diese Gruppen für eine Liberalisierung der Migration aus Gründen der Marktrationalität und wirtschaftlichen Freiheit ausgesprochen. Sie lehnen Migrationsbegrenzungen aus dem gleichen Grund ab wie sie Beschränkungen des Kapitalverkehrs ablehnen.

Dass offene Grenzen zu einer "linken" Position geworden sind, ist ein ganz neues Phänomen und steht in grundlegender Weise im Widerspruch zur Geschichte der organisierten Linken. Karl Marx' Position zur Einwanderung würde ihn heute in der modernen Linken zur Persona non grata machen. Obwohl Migration in der heutigen Geschwindigkeit und Größenordnung zu Marx' Zeiten undenkbar gewesen wäre, sah er die Auswirkungen der Migration im 19. Jahrhundert sehr kritisch. In einem Brief an zwei amerikanische Reisegefährten argumentierte Marx, dass die Einfuhr von irischen Einwanderern nach England sie in einen feindlichen Wettbewerb mit englischen Arbeitern zwang. Er sah es als Teil eines Systems der Ausbeutung, das die Arbeiterklasse spaltete und eine Erweiterung des kolonialen Systems darstellte.

Angesichts der obszönen Bilder von Billiglohn-Migranten, die von den Behörden als Kriminelle verfolgt werden, andere im Mittelmeer ertrinken, und des besorgniserregenden Anstiegs der Stimmung gegen Immigranten auf der ganzen Welt, ist es leicht zu verstehen, warum die Linke illegale Migranten davor bewahren will, zur Zielscheibe werden. Und das sollte sie auch! Aber auf der Grundlage des richtigen moralischen Impulses zur Verteidigung der Menschenwürde von Migranten, hat die Linke schließlich die Frontlinie zu weit nach vorne verlegt und das ausbeuterische System der Migration selbst wirksam mitverteidigt. Mit der Übernahme der Forderung nach "offenen Grenzen" – und einem moralischen Absolutismus, der jede Begrenzung der Migration als unsägliches Übel betrachtet – wird jede Kritik am ausbeuterischen System der Massenmigration effektiv als Blasphemie abgetan.

Die richtige Antwort ist daher nicht der abstrakte Moralismus, alle Migranten in einem imaginären Akt der Nächstenliebe willkommen zu heißen. Sondern die Ursachen der Migration im Verhältnis zwischen großen und mächtigen Volkswirtschaften und den kleineren oder sich entwickelnden Volkswirtschaften, aus denen Menschen migrieren, anzugehen. Laut den Zahlen des Census Bureau für 2017 sind etwa 45 Prozent der Migranten, die seit 2010 in den Vereinigten Staaten angekommen sind, Hochschulabsolventen. Die Entwicklungsländer kämpfen darum, ihre qualifizierten Staatsbürger zu halten, die oft zu hohen öffentlichen Kosten ausgebildet werden.

Die Gesellschaften radikal verändernde Massenmigration ist auf der ganzen Welt bei der Mehrheit der Menschen unbeliebt. Und die Menschen, bei denen sie unbeliebt ist, haben ein Wahlrecht. So stellt die Migration zunehmend eine für die Demokratie grundlegende Krise dar. Jede politische Partei, die regieren will, muss entweder den Willen des Volkes akzeptieren, oder sie muss den Dissens unterdrücken, um die Agenda der offenen Grenzen durchzusetzen. Viele Mitglieder der libertären Linken gehören zu den aggressivsten Befürwortern der letzteren Methode.
Die Migrationsexpansionisten haben so zwei Schlüsselwaffen. Eine davon sind die großen Geschäfts- und Finanzinteressen. Die andere, die von den linksgerichteten Einwanderungsbefürwortern fachkundig eingesetzte moralische Erpressung und öffentliche Scham.

So wird ein Produkt des Big Business und der Lobbyarbeit für den freien Markt von einer größeren Gruppe der urbanen Kreativ-, Technologie-, Medien- und Wissenswirtschaftsklasse mitgetragen. Sie dient dabei ihren eigenen objektiven Klasseninteressen, indem sie ihren kurzlebigen Lebensstil billig und ihre Karriere intakt hält, während sie die institutionalisierte Ideologie ihrer Industrien nachahmt.
Doch die Wahrheit ist, dass es sich bei der Massenmigration um eine Tragödie handelt. Und deren Moralisierung durch die obere Mittelschicht ist eine Farce.

Indem sie die Geschäftsinteressen der herrschenden Elite stützt, riskiert die Linke eine schwere existenzielle Krise und treibt immer mehr gewöhnliche Menschen in die Arme rechtsextremer Parteien. In diesem Moment der Krise ist der Einsatz zu hoch, um erneut zu versagen.


Dieser Artikel erschien ursprünglich in englischer Sprache in American Affairs Band II, Nummer 4 (Winter 2018): 17-30.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen