Offene Fragen zum Aufsatz von Slavoj Zizek: "Die wahren
Zurückgelassenen werden aufbegehren" (Neue Züricher Zeitung vom
12.12.2017)
1.
Flüchtlinge ziehen auch die linke Aufmerksamkeit erst auf
sich, wenn sie die Grenzen europäischer Staaten überwinden oder davor
scheitern. Nicht als "nomadisches Proletariat" und nicht als
potentielles "revolutionäres Subjekt", sondern als passives Objekt staatlicher
Administration konfrontieren sie uns, ob wir wollen oder nicht, zu allererst
mit unserem Verhältnis zum Staat, seiner hoheitlichen und seinen sozialen
Funktionen. Sogar die schein-radikale Forderung nach unbegrenzter Aufnahme
aller Notleidenden stößt uns unvermittelt auf die Frage, wer die Aufnahme,
menschenwürdige Unterbringung und Versorgung sichern soll wenn nicht die
einzige Macht, die wir dafür verpflichten und belangen können: der bis auf
weiteres unverzichtbare Nationalstaat. Denn es gibt auf absehbare Zeit keine
supranationale Behörde, die dazu mächtig genug wäre.
Erst wenn das geklärt und akzeptiert ist, betreffen die
Geflüchteten uns zweitens als Anforderung an unser ethisch-moralisches
Empfinden, als Objekte unserer brüderlichen Empathie. Drittens, wie alles
Fremde-Neue: als kulturelle Herausforderung. Erst dann, viertens, treten sie
uns als Konkurrenten bei der Verteilung des Sozialprodukts und zuletzt als
potentielle Ko-Produzenten und Konkurrenten im Arbeitsprozess entgegen.
Diese Rangfolge im Problembewußtsein stellt die
Kausalbeziehungen der Gesellschaft auf den Kopf. So unverhandelbar es ist, die
bis hierher Geflüchteten als Gleichwertige zu akzeptieren und ihre
Menschenwürde aktiv zu verteidigen - viel mehr müssten wir nach Wegen suchen,
die Ursachen der Flucht zu beseitigen. Und die Ursachen liegen vor allem
anderen in dem begründet, was Zizek "unsere missliche Lage im System des
globalen Finanzkapitalismus" nennt. Daher müsste uns die Stellung der
Geflüchteten und noch mehr der in ihrer Heimat "Zurückgebliebenen" in
der materiellen Produktion der Lebensgrundlagen, sowohl auf globaler als auch
auf unserer nationalen Ebene, vorrangig angehen.
2.
Nicht nur juristisch, sozialstaatlich und kulturell, sondern
strukturell erweitern die Geflüchteten die aufnehmende Gesellschaft um eine
Dimension. (Historisch neu sind solche Prozesse nicht, die letzte große
Erweiterung erfuhr unsere Gesellschaft durch das Millionenheer anatolischer
Bauernsöhne, die als "Gastarbeiter" kamen und blieben.) Die jetzt bis
zu uns Geflohenen sind, wie Zizek richtig bemerkt, erst einmal
"nichts", ohne Platz im sozialen Gefüge des Aufnahmelandes. Und von
hier ist es nicht nur "ein langer Weg zum Proletariat im Marx'schen
Sinne," sondern überhaupt fraglich, welchen sozialen Status sie auf Dauer
und massenhaft in unserer Gesellschaft einnehmen können. Denn schon heute
übersteigt das Angebot an Arbeitskräften die Nachfrage, mit den bekannten
Folgen fortschreitender Aufspreizung der Qualifikationsniveaus und Einkommen,
beschleunigter Prekarisierung und Aussonderung der "Abgehängten". Das
dürfte schon ohne Zuwanderung in den nächsten Jahrzehnten bei uns zu sozialen
Verwerfungen führen, auf die wir in keiner Weise vorbereitet sind.
Doch die zu uns Geflüchteten waren ja nicht von Haus aus
"nichts", sondern gehörten in ihren Herkunftsländern zum Mittelbau
mehr oder weniger feudal geprägter Gesellschaften. Zum Unterschied von den
Arbeitermilieus dort und hier begreift Zizek sie "vielmehr als Avantgarde
jenes dynamischen und ambitiösen Teils der Bevölkerung, als jene, die willens
sind, aufzusteigen und weiterzukommen." Wenn das zutrifft, stellt ihre
Integration weder unsere Gesellschaft als ganze noch unsere Arbeiterklasse vor
grundlegend neue Strukturprobleme, sondern verschärft "nur"
Konflikte, die wir ohnehin in nächster Zeit gegen unsere herrschende Klasse
auszufechten haben, bei Strafe des Untergangs.
3.
Im globalen Maßstab stellt sich die Lage allerdings anders
dar. Wie Zizek schreibt und auch andere Quellen belegen, umfasst der
kapitalistische Sektor der Weltwirtschaft nur etwa 20 Prozent der Arbeitszeit
zur Produktion aller Güter und Dienstleistungen; 80 Prozent der Menschheit
versorgen sich selbst mit eigenen kargen Subsistenzmitteln, zwar ausgeplündert
und vielfach noch der notdürftigsten Grundlagen beraubt durch nationale
Komplizen der Großmächte, aber ohne Dazwischentreten kapitalistischen
Eigentumsrechts. Das erklärt, warum weltweit die Klasse der Lohnarbeiter
tatsächlich nicht mehr als 20 Prozent der erwerbstätigen Menschheit ausmacht.
Dies ist es, was die Brandstifter umtreibt. Kritische
Analysen der Fluchtursachen führen die rapide ansteigende Zahl kriegerischer
Konflikte fast ausnahmslos auf die Begierde großer (finanz-)kapitalistischer
Konzerne zurück, ihre Eigentums- und Ausbeutungsrechte auf immer größere Teile
der Erde auszudehnen.
Weltgeschichtlich stehen wir also heute wieder vor denselben
Fragen wie die "Dritte Welt" nach dem zweiten Weltkrieg: Muss - nein:
kann die Mehrheit der Menschheit es sich leisten, zur Steigerung ihres
Wohlstands einen Entwicklungsweg einzuschlagen, der sie zunächst der Herrschaft
imperialistischer Mächte ausliefert, um diese dann in langwierigen,
opferreichen Kämpfen zu überwinden? - Oder gibt es einen direkteren Weg zum
besseren Leben? Wie können die "Zurückgelassenen" eine nationale
Souveränität erkämpfen, die mit der Ausplünderung ihrer Ressourcen und der
militärischen Verwüstung ihrer Territorien Schluss macht? Welche Power haben in
diesem weltweiten Kampf die 80 Prozent und welche die 20 Prozent?
Noch einmal mit Zizek gefragt: "Können sich die
lebenden Toten des globalen Kapitalismus vereinen, all die Zurückgebliebenen,
jene, die sich den neuen Bedingungen nicht anzupassen vermögen?"
Und welche praktische Verantwortung hätten wir Linken dann
ihnen gegenüber? Wird die LINKE heute dieser Verantwortung gerecht?