Mittwoch, 27. Dezember 2017

Die Flüchtlinge, die Zurückgelassenen und linke Verantwortung.

Offene Fragen zum Aufsatz von Slavoj Zizek: "Die wahren Zurückgelassenen werden aufbegehren" (Neue Züricher Zeitung vom 12.12.2017)

1.
Flüchtlinge ziehen auch die linke Aufmerksamkeit erst auf sich, wenn sie die Grenzen europäischer Staaten überwinden oder davor scheitern. Nicht als "nomadisches Proletariat" und nicht als potentielles "revolutionäres Subjekt", sondern als passives Objekt staatlicher Administration konfrontieren sie uns, ob wir wollen oder nicht, zu allererst mit unserem Verhältnis zum Staat, seiner hoheitlichen und seinen sozialen Funktionen. Sogar die schein-radikale Forderung nach unbegrenzter Aufnahme aller Notleidenden stößt uns unvermittelt auf die Frage, wer die Aufnahme, menschenwürdige Unterbringung und Versorgung sichern soll wenn nicht die einzige Macht, die wir dafür verpflichten und belangen können: der bis auf weiteres unverzichtbare Nationalstaat. Denn es gibt auf absehbare Zeit keine supranationale Behörde, die dazu mächtig genug wäre.

Erst wenn das geklärt und akzeptiert ist, betreffen die Geflüchteten uns zweitens als Anforderung an unser ethisch-moralisches Empfinden, als Objekte unserer brüderlichen Empathie. Drittens, wie alles Fremde-Neue: als kulturelle Herausforderung. Erst dann, viertens, treten sie uns als Konkurrenten bei der Verteilung des Sozialprodukts und zuletzt als potentielle Ko-Produzenten und Konkurrenten im Arbeitsprozess entgegen.

Diese Rangfolge im Problembewußtsein stellt die Kausalbeziehungen der Gesellschaft auf den Kopf. So unverhandelbar es ist, die bis hierher Geflüchteten als Gleichwertige zu akzeptieren und ihre Menschenwürde aktiv zu verteidigen - viel mehr müssten wir nach Wegen suchen, die Ursachen der Flucht zu beseitigen. Und die Ursachen liegen vor allem anderen in dem begründet, was Zizek "unsere missliche Lage im System des globalen Finanzkapitalismus" nennt. Daher müsste uns die Stellung der Geflüchteten und noch mehr der in ihrer Heimat "Zurückgebliebenen" in der materiellen Produktion der Lebensgrundlagen, sowohl auf globaler als auch auf unserer nationalen Ebene, vorrangig angehen.

2.
Nicht nur juristisch, sozialstaatlich und kulturell, sondern strukturell erweitern die Geflüchteten die aufnehmende Gesellschaft um eine Dimension. (Historisch neu sind solche Prozesse nicht, die letzte große Erweiterung erfuhr unsere Gesellschaft durch das Millionenheer anatolischer Bauernsöhne, die als "Gastarbeiter" kamen und blieben.) Die jetzt bis zu uns Geflohenen sind, wie Zizek richtig bemerkt, erst einmal "nichts", ohne Platz im sozialen Gefüge des Aufnahmelandes. Und von hier ist es nicht nur "ein langer Weg zum Proletariat im Marx'schen Sinne," sondern überhaupt fraglich, welchen sozialen Status sie auf Dauer und massenhaft in unserer Gesellschaft einnehmen können. Denn schon heute übersteigt das Angebot an Arbeitskräften die Nachfrage, mit den bekannten Folgen fortschreitender Aufspreizung der Qualifikationsniveaus und Einkommen, beschleunigter Prekarisierung und Aussonderung der "Abgehängten". Das dürfte schon ohne Zuwanderung in den nächsten Jahrzehnten bei uns zu sozialen Verwerfungen führen, auf die wir in keiner Weise vorbereitet sind.

Doch die zu uns Geflüchteten waren ja nicht von Haus aus "nichts", sondern gehörten in ihren Herkunftsländern zum Mittelbau mehr oder weniger feudal geprägter Gesellschaften. Zum Unterschied von den Arbeitermilieus dort und hier begreift Zizek sie "vielmehr als Avantgarde jenes dynamischen und ambitiösen Teils der Bevölkerung, als jene, die willens sind, aufzusteigen und weiterzukommen." Wenn das zutrifft, stellt ihre Integration weder unsere Gesellschaft als ganze noch unsere Arbeiterklasse vor grundlegend neue Strukturprobleme, sondern verschärft "nur" Konflikte, die wir ohnehin in nächster Zeit gegen unsere herrschende Klasse auszufechten haben, bei Strafe des Untergangs.

3.
Im globalen Maßstab stellt sich die Lage allerdings anders dar. Wie Zizek schreibt und auch andere Quellen belegen, umfasst der kapitalistische Sektor der Weltwirtschaft nur etwa 20 Prozent der Arbeitszeit zur Produktion aller Güter und Dienstleistungen; 80 Prozent der Menschheit versorgen sich selbst mit eigenen kargen Subsistenzmitteln, zwar ausgeplündert und vielfach noch der notdürftigsten Grundlagen beraubt durch nationale Komplizen der Großmächte, aber ohne Dazwischentreten kapitalistischen Eigentumsrechts. Das erklärt, warum weltweit die Klasse der Lohnarbeiter tatsächlich nicht mehr als 20 Prozent der erwerbstätigen Menschheit ausmacht.

Dies ist es, was die Brandstifter umtreibt. Kritische Analysen der Fluchtursachen führen die rapide ansteigende Zahl kriegerischer Konflikte fast ausnahmslos auf die Begierde großer (finanz-)kapitalistischer Konzerne zurück, ihre Eigentums- und Ausbeutungsrechte auf immer größere Teile der Erde auszudehnen.

Weltgeschichtlich stehen wir also heute wieder vor denselben Fragen wie die "Dritte Welt" nach dem zweiten Weltkrieg: Muss - nein: kann die Mehrheit der Menschheit es sich leisten, zur Steigerung ihres Wohlstands einen Entwicklungsweg einzuschlagen, der sie zunächst der Herrschaft imperialistischer Mächte ausliefert, um diese dann in langwierigen, opferreichen Kämpfen zu überwinden? - Oder gibt es einen direkteren Weg zum besseren Leben? Wie können die "Zurückgelassenen" eine nationale Souveränität erkämpfen, die mit der Ausplünderung ihrer Ressourcen und der militärischen Verwüstung ihrer Territorien Schluss macht? Welche Power haben in diesem weltweiten Kampf die 80 Prozent und welche die 20 Prozent?

Noch einmal mit Zizek gefragt: "Können sich die lebenden Toten des globalen Kapitalismus vereinen, all die Zurückgebliebenen, jene, die sich den neuen Bedingungen nicht anzupassen vermögen?"

Und welche praktische Verantwortung hätten wir Linken dann ihnen gegenüber? Wird die LINKE heute dieser Verantwortung gerecht?


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen