Mittwoch, 30. November 2016

Im „Rentenwahlkampf“: Räuber gegen Diebe

Helmut Kohl’s unvergessener Rentenminister (O-Ton Norbert Blüm: „Eins ist sicher: die Rente“ – bis die Sozis Schröder, Münte und Riester über sie herfielen) – eröffnete den „Rentenwahlkampf“ mit Klartext, wie wir es von ihm kennen. In der ZEIT (27.10.16) las er seinen „lieben Parteifreunden von der Jungen Union“ die Leviten, trifft damit aber alle, die nach seiner Amtszeit bis heute an den Renten herumdoktern. Er erinnerte an ein paar elementare Wahrheiten, die seither in allen Renten“reformen“ systematisch ausgehebelt wurden und von denen die heutigen „Experten“ anscheinend noch nie gehört haben – oder was noch schlimmer ist: die sie als eifrige Lobby der Versicherungskonzerne bewusst leugnen.

Wahrheit 1: „Eines bleibt immer gültig: Die Jungen zahlen für Alten… Es wird immer nur der Kuchen gegessen, der jetzt gebacken wird… Bezahlt wird die Rente stets aus dem aktuellen Sozialprodukt.“ (Blüm) – Das heißt: Wenn die lieben jungen Freunde morgen eine den Lebensstandard sichernde Rente bekommen wollen, müssen sie den Alten heute deren Lebensstandard sichern.

Wahrheit 2: „Das ist das Prinzip der Gegenseitigkeit im Zeitverlauf, der generationsübergreifenden Solidarität.“ (Blüm) Die Kampfparole „Jede Generation sorgt für sich selbst“ hält Blüm für eine Nobelpreis-würdige Dummheit: „Ich habe nämlich noch kein Baby gesehen, das sich selbst stillt und wickelt. Von der Wiege bis zur Bahre sind wir alle aufeinander angewiesen.“

Wahrheit 3: Seit es den Kapitalismus gibt, bildet die Versorgung der nicht arbeitsfähigen Angehörigen der Arbeiterklasse – Kinder, Hausfrauen, Kranke, Invaliden, Arbeitslose, Alte – einen unverzichtbaren Anteil der Reproduktionskosten der Arbeitskraft. Wer den Anspruch der Rentner*innen auf einen angemessenen Lebensstandard angreift, vergreift sich an der Lohnsumme der ganzen Arbeiterklasse. Die weitere Absenkung des Rentenniveaus im Verhältnis zu den Löhnen, worin die bürgerlichen Wahlkämpfer-innen von Nahles bis Seehofer jetzt wetteifern, ist also ein Angriff auf das gesamte Lohnniveau der abhängig Beschäftigten.

Wahrheit 4: „Geburtenrückgang und die steigende Lebenserwartung sind primär kein Rentenproblem. Die Zukunft der Rente hängt in erster Linie von der Produktivität der Arbeit ab… Es kommt also nicht so sehr auf die ‚Kopfzahl‘ der Geburten an, sondern mehr darauf, wie produktiv die Arbeit derjenigen ist, die geboren werden… Weniger Arbeiter erzeugen mehr, und weniger Beitragszahler können mehr Rentner finanzieren.“ (Blüm) – Wenn die Arbeitslöhne steigen, wächst auch die Belastbarkeit mit Rentenbeiträgen. Blüm gibt dafür ein einfaches Rechenbeispiel: Bei 10 % Rentenbeitrag auf 100 € Einkommen bleiben 90 € übrig, bei 20 % auf 200 € bleiben 160 € übrig.

Wahrheit 5: „Es gibt keinen Sparstrumpf, aus dem das Geld von gestern für die Rentenzahlungen heute entnommen werden könnte… Es gehört zu den Lebenslügen der Privatversicherung, sich als unabhängig von der Wirtschaftsentwicklung zu gerieren, indem sie ihre gestern eingesammelten Beiträge heute verteilt. Es nützt das schönste Kapitaldeckungsverfahren nichts, wenn das eingesetzte Kapital keine Nutzung findet.“ (Blüm) – Das haben wir am Renditenverfall der privaten Lebensversicherungen in der Finanz- und Wirtschaftskrise gesehen. Und das gilt selbstredend auch für Riesterverträge und Betriebsrenten, Frau Nahles.

Danke, Norbert Blüm, für diese klare Ansage.


Freitag, 25. November 2016

Angela Weiterso: Die Patin der AfD

"Wieder hat sie die Agenda 2010 gelobt und gemeint, nur so könne Europa sein Wohlstandsversprechen einlösen. Die Millionen im Niedriglohnsektor, in Hartz IV, in Leiharbeit, schlecht bezahlten Werkverträgen oder in befristeten Jobs können nur mit kalter Wut reagieren. Merkel ist die Patin der AfD.
Eine Bemerkung zum Schluss: In fast allen Kommentaren zeigen die „Qualitätsmedien“ ihre Voreingenommenheit und Blindheit und versuchen, der Partei DIE LINKE, die als einzige Partei gegen Lohndrückerei, Rentenkürzung und Sozialabbau ist und in der Steuer-, Sozial- und Wirtschaftspolitik Vorschläge macht, die der AfD die Grundlagen entziehen würden, AfD-Nähe zu unterstellen. So täuschen die Medien darüber hinweg, dass CDU, CSU, SPD, FDP und Grüne in der Steuer-, Sozial- und Wirtschaftspolitik die gleichen Grundsätze vertreten wie die AfD und werden so zu den unfreiwilligen Trotteln der AfD-Propaganda."

Oskar Lafontaine (auf facebook)

Donnerstag, 24. November 2016

Notizen aus der Provinzhauptstadt: Ratsfraktion DIELINKE&Piraten beantragt Umbau der Wirtschaftsförderung zur Beschäftigungsförderung

"Kein Blatt Papier" passt zwischen Stadtspitze und Wirtschaftslobby (IHK), brüstet sich der sozialdemokratische (!) Oberbürgermeister Sierau. Kein Wunder, denn der Genosse liest den Bossen alle Wünsche von den Augen ab, bevor sie sie ausgesprochen haben. 12 Millionen € verbrennt die Stadt jedes Jahr für "Wirtschaftsförderung", doch von den 5.850 sozialversicherten Beschäftigungen, die im vorigen Jahr in Dortmund neu entstanden, gingen maximal bis zu 475 auf kommunale Projekte zurück. Die Hauptmasse verdanken wir schlicht und einfach der noch anhaltenden Exportkonjunktur, von der auch manche Dortmunder Unternehmen satt profitieren.

Wenn die Wirtschaftsförderung in ihrem Wirtschaftsplan für 2017 prahlt: "Dortmund ist eine attraktive Stadt, in der es sich gut leben lässt," dann müsste sie wahrheitsgemäß hinzu fügen: „...sofern man Arbeit hat und der Lohn zum guten Leben reicht!“ Mindestens jede-r vierte Dortmunder-in kann das von sich nicht behaupten. Jedes dritte Dortmunder Kind lebt in einem Hartz-IV-Haushalt.

Schon vor zweieinhalb Jahren ahnte die Stadtspitze – und gab damit dem jahrelangen Druck der LINKEN-Ratsfraktion endlich Recht: "Notwendig ist ein kommunal gesteuerter, öffentlich geförderter Arbeitsmarkt zur Integration von Langzeitarbeitslosen." Doch darum soll sich kümmern, wer will - getan hat sich seither null (außer Appellen an die Bundesregierung, die auf dem Ohr absolut taub ist). Beschäftigungspolitik? Kein Thema für die Wirtschaft und folglich auch nicht für die Wirtschaftsförderung: Wenn diese von ihren "Kunden" spricht, wie jetzt bei einer Kundenbefragung durch das FORSA-Institut, interessiert ausschließlich die Zufriedenheit der Unternehmer, die Beschäftigten zählt sie nicht zu ihren Kunden, von Arbeitsuchenden gar nicht zu reden. Nach deren Zufriedenheit mit der Wirtschaftsförderung wurde also nicht gefragt.

Damit das Geld der Bürger nicht immer weiter zum Fenster rausgeworfen wird, stellt die Fraktion LINKE-Piraten im Stadtrat jetzt einen Antrag für den städtischen Haushaltsplan 2017:

„Beschäftigungsförderung

1.    Der städtische Zuschuss an die Wirtschaftsförderung Dortmund wird auf 6 Millionen €  reduziert. Mit den freiwerdenden Haushaltsmitteln wird im Rahmen der „Kommunalen  Arbeitsmarktstrategie 2020" die Schaffung von sozialversicherungspflichtiger, tariflich  entlohnter Einfacharbeit in geeigneten Projekten von Beschäftigungsträgern gefördert.

2.    Der Rat beauftragt die Verwaltung, zeitnah ein Konzept zum grundlegenden Umbau der  Wirtschaftsförderung Dortmund in eine „Beschäftigungsförderung für solidarisch organisierte  Arbeit“ auszuarbeiten und dem Rat zur Beschlussfassung vorzulegen.

Begründung: Wie die Fachwelt und die Dortmunder Wirtschaftsförderung selbst erkannt haben, besteht ein dringender Bedarf an HelferInnen-Arbeitsplätzen, um die verfestigte Langzeitarbeitslosigkeit in Dortmund nachhaltig zu  senken. Wie aber der Wirtschaftsplan 2017 der städtischen Wirtschaftsförderung erneut mit Zahlen belegt, steht die  Beschäftigungswirkung der Wirtschaftsförderung in keinem vertretbaren Verhältnis zur  dramatischen Schieflage am Dortmunder Arbeitsmarkt und auch nicht zum jährlichen Aufwand.  Besonders ist zu kritisieren, dass die Verwaltung den Aufbau eines  Integrationsarbeitsmarktes für Langzeitarbeitslose ausschließlich vom Ausgang des Streits in der Bundesregierung über die Finanzierung eines Arbeitsmarktfonds abhängig macht, statt auch im Budget der eigenen Wirtschaftsförderung Mittel dafür freizustellen. Insbesondere die Gründungsförderung und die Standortkommunikation betätigen sich auf Feldern, die nur minimal zur Senkung der Langzeitarbeitslosigkeit beitragen und bei den Kammern, Wirtschaftsverbänden sowie kommerziellen Agenturen besser aufgehoben sind als in der öffentlichen Verwaltung.

Ohnehin stehen die Dortmunder Beschäftigungsträger nach dem Auslaufen des  Arbeitsmarktinstruments „Bürgerarbeit" zusätzlich vor dem Problem, die entstandenen Lücken  personell und finanziell zu schließen. Dazu bedürfen sie verstärkter Förderung durch die Stadt.

Im Verhältnis zu diesen Herausforderungen setzt die Wirtschaftsförderung mit den oben  genannten Aktivitäten arbeitsmarkt- und sozialpolitisch einen falschen Schwerpunkt. Dieser ist zu korrigieren. Der Wirtschaftsplan der Wirtschaftsförderung ist entsprechend zu ändern. Die Verwaltung  wird verpflichtet, in Abstimmung mit Dortmunder Beschäftigungsträgern ein Konzept zur  Ausweitung der kommunalen Beschäftigungsförderung, mit dem Schwerpunkt auf Einfacharbeit, zu  sozialverträglichen Bedingungen, zeitnah aufzustellen und dem Rat zur Beschlussfassung  vorzulegen.“

Freitag, 11. November 2016

Trump, Europa und die Linke

Vielleicht denkt mein Parteivorsitzender Bernd Riexinger nach der Wahl in den USA noch einmal darüber nach, ob das so stimmen kann, was er ein paar Tage vorher in die linke Strategiedebatte warf (ND 29.10.16). Bis dahin schätzte ich an ihm, dass er die linke Reformstrategie nach vorn erweitern wollte, so z.B. (mit Katja Kipping): „Soziale Rechte, Demokratie und Weltoffenheit sind heute nur noch im Vorwärtsgang zu verteidigen … Europa braucht eine demokratische Revolution … setzt dem Europa der Banken und Konzerne ein Europa von unten entgegen … stärker die (Selbst-)Organisation der Menschen fördern … für einen neuen Verfassungsprozess von unten, in dem die Menschen die Initiative haben.“ So wollte er die „Empörung von links besetzen.“

Alles nicht so ernst gemeint? Oder Angst vor der eigenen Courage bekommen? Jetzt verlangt er, weil die Kritik an der EU von rechts dominiert werde und die LINKE klar von den Rechten unterscheidbar sein müsse: Schluss mit der „oberflächlichen Eliten- und Währungskritik“, es werde „Zeit, dass die europäische Linke aufhört, verbissen über die Währungsfrage zu diskutieren.“ Und mit der Währungsfrage haut er gleich alle linken „Exit-Illusionen“ in die Pfanne.

Auch wenn er dafür den Begriff eines „dritten Pols“ aufgreift, der seit einiger Zeit durch die linke Debatte geistert und ursprünglich die gesellschaftliche Opposition sowohl gegen den herrschenden Machtblock als auch gegen die sich radikalisierende Rechte meinte, läuft das bei ihm auf die De-facto-Parteinahme für jene Kräfte hinaus, die die EU bewahren und „reformieren“ wollen. Seine hierfür vorgebrachten Argumente sind aber allesamt unhaltbar.

1.    Linke Elitenkritik oberflächlich? Nicht von der Rechten unterscheidbar?

Wer Donald Trump wählte, weil er/sie sich von ihm eine andere Politik als die des Wallstreet-Establishments erhofft, wird schnell noch einmal enttäuscht werden. „Amerika“ wird nicht wieder so „great“ werden wie früher, die Klimakatastrophe wird vor den Farmern in MiddleWest nicht halt machen, es werden neue Spekulationsblasen platzen und weitere Millionen Existenzen ruinieren, Trumps Populismus wird sich schnell als hohle Prahlerei offenbaren.

Sicher trifft es zu, dass Trump auch in erheblichem Maß Enttäuschung und berechtigte Wut auf das „Establishment“ für sich mobilisieren konnte. Diese Stimmung gewinnt auch in Europa an Boden. Da wäre es natürlich eine absurde Strategie, den Populismus hier bekämpfen zu wollen, indem wir uns schützend vor das EU-Establishment stellen. Das tut Bernd R. auch nicht. Er wendet sich nur gegen „oberflächliche“ Elitenkritik.

Ist es oberflächlich, wenn wir der hierzulande herrschenden Klasse vorwerfen, sie würde über internationale Verträge die Demokratie aushebeln, um sich ungestörter den gesellschaftlich erzeugten Reichtum anzueignen und die sozialen und Menschenrechte außer Kraft zu setzen? Was ist oberflächlich an der Kritik, unsere Elite habe die EU-Institutionen genau so verfasst und durchgesetzt, dass sie ihre elitäre Vorherrschaft über das eigene Volk und Europas Völker absichern und verstärken? Derlei Kritik von links kommt ja überwiegend sehr konkret und sachkundig daher. Das unterscheidet sie fundamental vom Populismus. Darum geht es doch wohl nicht. Worum es vielmehr geht ist, was die Kritik für praktische Konsequenzen haben soll oder nicht.

2.    Wie wichtig ist die Währungsfrage?

Bernd Riexinger warnt vor der Illusion, „primär“, „in erster Linie“ über die Abschaffung des Euro größere Verteilungsspielräume zu bekommen. Denn, so behauptet er: „Ein ‚Sozialstaat in einem Land‘ ist aber auf Dauer kaum möglich.“ Das Scheitern des Keynesianismus in einem Land sei „notwendig“ (er meint zwangsläufig, unvermeidlich). Beweis? Nur der misslungene Eiertanz der Ära Mitterand in Frankreich in den 80er Jahren zwischen Volksfront und imperialistischem Auftrumpfen in Konkurrenz und Kooperation mit Deutschland. Nun gibt es ja ganze Bibliotheken voll mit dem Streit über die Zukunftsfähigkeit des Keynesianismus. Aber davon abgesehen habe ich noch von niemand die Ansicht gehört oder gelesen, mit der Ablösung des Euro durch einen flexibleren Verbund nationaler Währungen werde der Kapitalismus sozialer und humaner. Wer will denn welches linke Projekt über die Währungsfrage „abkürzen“, wie R. mutmaßt?

Anerkennen müsste aber auch er, dass die Währungsunion genau so konstruiert ist und quasi automatisch funktioniert, dass sie die Umverteilung von unten nach oben in Europa und auch in Deutschland enorm beschleunigt und unsere Kämpfe dagegen enorm erschwert. Schon deshalb muss sie weg. Und das so schnell wie möglich.

3.    Euro, Exit und Krise

Bernd Riexinger warnt eindringlich, die Rückkehr zu nationalen Währungen wäre mit einem länger anhaltenden Krisenprozess mit unklarem Ausgang, neuen Finanzspekulationen, deutlichen Wohlstandsverlusten und verschärften Verteilungskämpfen verbunden. Damit hat er wahrscheinlich Recht.

Allerdings sind alle mir bekannten Fachleute unter den Exit-Befürwortern sich einig, dass das Kapital dazu nicht erst die Linke braucht, sondern schon selbst auf den Kollaps dieses Währungssystems zutreibt, mit allen Krisenerscheinungen für die Völker Europas und auch für uns in Deutschland, die R. aufzählt. Bei allen mir bekannten linken Alternativvorschlägen geht es folglich, anders als R. implizit suggeriert, nicht darum, dass eine falsche linke Strategie eine Krise verursachen würde, sondern darum, der absehbar sich zuspitzenden Krise des Euroregimes zuvorzukommen und einen Ausweg mit geringstem Schaden für die Menschen zu verabreden, zu dem die Elite weder willens noch fähig ist.

4.    Die Kräfteverhältnisse

Die Verteilungsspielräume für eine soziale Politik, schreibt Riexinger, „hängen in erster Linie von der Position in der kapitalistischen Weltwirtschaft ab.“ Es tut mir leid, Genosse Vorsitzender, das klingt fatal nach der Standortlogik, die wir tagein-tagaus von den Spitzen der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften zu hören kriegen, und es wird nicht besser, wenn ein Spitzenmensch der LINKEN es nachbetet. Spielräume? Das Spiel heißt Klassenkampf, an anderer Stelle sagst du es ja selbst. Das bedeutet: In erster Linie (!) hängt das „Spiel“ vom Kräfteverhältnis zwischen Kapital und Arbeit ab und nicht von weltwirtschaftlich zu erobernden „Spielräumen“.

Tatsächlich, aus diesem Kampf gibt es keinen Exit, da hat er Recht. Doch in Bezug auf das Kräfteverhältnis müssen wir wohl oder übel als erstes die Tatsache anerkennen, dass die Kapitalistenklasse, einschließlich Eigentümer und Befehlshaber der größten Konzerne und Finanzimperien, weiterhin national verankert und organisiert ist. Da darf die Linke nicht auf die bürgerliche Verkürzung des „Globalisierungs“-Begriffs hereinfallen. Wenn R. schreibt: „Entscheidend ist, dass die EU einem neuen Niveau der Verflechtungen des Kapitals und damit wirtschaftlicher Abhängigkeit entspricht,“ ist er schon auf die propagandistische Verkürzung des Begriffs hereingefallen. Globalisierung vollzieht sich heute ja nicht als Zusammenwachsen der Multis zu einem europaweiten Monopol („Verflechtung“), sondern als die trans- und multinationale Ausdehnung der weiterhin national verankerten Kapitalblöcke und ihre europa- und weltweiten Kämpfe um Marktbeherrschung, um Vorherrschaft sowohl in (zeitweiligen) Kooperationen als auch in Konkurrenz, und diese letztere ist und bleibt als die „natürliche“ Bewegungsform des Kapitals vorherrschend. Warum das so wichtig ist? Damit wir die gegenwärtige und absehbare Bedeutung der Nationalstaaten im Kräfteverhältnis von Kapital und Arbeit richtig einschätzen, sie nicht über- aber auch nicht unterschätzen.

Es stimmt eben gerade nicht mit den Tatsachen überein, dass mit der EU das Kapital sich eine neue staatliche Ebene geschaffen habe, wie R. behauptet. In den Kernbereichen staatlicher Machtausübung, als da sind: Außen- und Sicherheitspolitik, Innen- und Rechtspolitik, Steuer-, Finanz- und Haushaltspolitik setzen die nationalen Kapitalistenklassen nach wie vor auf ihre nationalstaatliche Hoheit und liefern sich in der EU erbitterte Kämpfe, die sich voraussichtlich mit der Eurokrise weiter verschärfen werden.

Weil das so ist – und nicht weil Gewerkschaften und Sozialverbände so borniert und rückständig wären – spielen sich nach wie vor fast sämtliche sozialen Kämpfe in Europa auf den Hoheitsgebieten der jeweiligen Nationalstaaten ab. Das ist eine Tatsache, über die Schöngeister wie Jürgen Habermas, Jeremy Rifkin oder Ulrich Beck zwar gern hinwegträumen, an denen die linke Strategie aber nicht vorbei kommt: Wer den „Sozialstaat“ verteidigen will, muss ihn auf nationalstaatlicher Ebene verteidigen.

Riexingers Fazit, dass ein koordinierter „left exit“ in einigen Eurostaaten nur möglich wird aufgrund einer umwälzenden Verschiebung der Kräfteverhältnisse hin zu einer linken Hegemonie, stimme ich natürlich uneingeschränkt zu. Wenn er daraus aber schließt: „Dann wäre es wiederum vermutlich auch möglich, eine grundlegende Reform der EU durchzusetzen,“ dann ziehe ich mit derselben Berechtigung genau den Umkehrschluss: Die Kräfte, die notwendig wären, die EU-Eliten zu einer ganz anderen – demokratischen, sozialen, solidarischen – EU-Politik zu zwingen, würden auch ausreichen, um einen ganz anderen europäischen Staatenbund von unten zu schaffen.


Und wenn er am Schluss auf die vielfältigen Teilkämpfe hinweist, die eine Neugründung Europas von unten vorbereiten können, ergänze ich: Zu ihnen gehören die staatliche Haushalts- und Fiskalpolitik und damit auch der Kampf um Währungssouveränität unverzichtbar dazu. Nicht vorrangig vor allen anderen, aber neben den anderen eben auch.

Dienstag, 8. November 2016

Notizen aus der Provinzhauptstadt: „Wirkungsorientierter Haushalt“ - Kleinlauter Bericht über das Versagen neoliberaler Stadtpolitik

Nun schon im vierten Jahr erstellt die Dortmunder Stadtverwaltung neben dem gesetzlich vorgeschriebenen Haushaltsplan ein propagandistisch eingefärbtes Zahlenwerk, das sich „Wirkungsorientierter Haushalt“ (WOH) nennt und den Bürgern die Schwerpunkte der Stadtpolitik nahe bringen soll. Ausgeheckt haben dies Verfahren neoliberale Thinktanks wie die Bertelsmann-Stiftung. In der Dortmunder Version umfasst es sechs Zielfelder: Wirtschaft und Beschäftigung, Kinder-Jugend-Bildung, Sicherheit und Ordnung, Soziales, Umwelt, Lebensqualität. Mit insgesamt 18 „strategischen Zielen“ von a wie „attraktiver Unternehmensstandort“ bis z wie „zivilgesellschaftliches Engagement“. Zwar musste die Verwaltung schon vorab einräumen, dass sie die Zielerreichung nur „bedingt“ beeinflussen kann: Von 65 Kennzahlen, an denen sie die Erfolge messen will, sind nur elf auf kommunaler Ebene steuerbar. Dennoch legt der neueste Zwischenbericht über den WOH 2015 den historischen Bankrott der heutigen Kommunalpolitik bloß.

Der weitaus größte Brocken der „strategisch“ eingesetzten Haushaltsmittel (202 Millionen €, rund ein Viertel von insgesamt 802 Millionen des WOH) soll dem Ziel dienen: „Menschen in Dortmund werden vor Armut und deren Folgen geschützt.“ Hinter der großmäuligen Behauptung marschieren alle staatlichen Hilfen zum Lebensunterhalt für Arbeitslose, Alte, Menschen mit Behinderungen und Zuwanderer auf. Allesamt durch Bundes- und Landesgesetze genauestens reglementiert, schützt keines dieser Almosen wirklich vor Armut, von einem menschenwürdigen Leben gar nicht zu sprechen.

Die auf das Soziale bezogenen Kennzahlen beweisen zudem die stetig sich verschlimmernde soziale Schieflage in unserer Gesellschaft. Der Anteil der ALG-II-Beziehenden an Dortmunds Wohnbevölkerung wächst von Jahr zu Jahr, und zwar schneller als die Einwohnerzahl (2012: 173 auf 1.000 – 2013: 175 auf 1.000 – 2014: 178 auf 1.000 – 2015: 180 auf 1.000). Ebenso der Anteil der Aufstocker an den sozialversichert Beschäftigten. Die Altersarmut, ablesbar am Anteil der Bezieher von Grundsicherung unter den Jahrgängen ab 65 aufwärts, ist binnen Jahresfrist von 63:1.000 auf 69:1.000 angestiegen.

Das Soziale liegt aber nur an zweiter Stelle im WOH und wird bei weitem übertroffen vom Zielfeld Kinder-Jugend-Bildung (345 Millionen €). Auch hier schmückt sich die Stadt mit fremden Federn. Der Ressourceneinsatz besteht größtenteils aus – weit ungenügenden – Landeszuweisungen, bei entsprechend strengen gesetzlichen Vorgaben zur Mittelverwendung.

Die städtischen Ziele auf dem Feld Kinder-Jugend-Bildung versprechen blühende Landschaften: „Jedem Kind steht eine bedarfsgerechte Betreuungsmöglichkeit zur Verfügung.“ – „Die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen wird in Ausführung des gesetzlichen Auftrages konsequent gefördert und vor negativen Einflüssen geschützt.“ – „Jugendliche in Dortmund erreichen einen Schulabschluss und gelangen von der Schule/Hochschule reibungslos in das Arbeitsleben.“ Hält das erste Versprechen der Nachprüfung noch mit Einschränkungen stand, muss das zweite mit vielen Fragezeichen versehen werden, so steht das dritte in krassem Gegensatz zur Realität: Dortmund hat unter allen Großstädten in NRW seit Jahren unverändert die höchste Schulabbrecherquote, und jährlich finden Hunderte Schulabgänger nicht reibungslos, sondern überhaupt nicht ins Arbeitsleben.

Unter „ferner liefen“ folgt das Zielfeld Wirtschaft und Beschäftigung. Hierfür wurden vom gesamten WOH 2015 nur 3,3 Prozent aufgewendet (26 Millionen €). Daran bestätigt sich einmal mehr, was wir seit eh und je kritisieren: Den seit zehn Jahren ungebrochenen Zuwachs an sozialversichert Beschäftigten überlässt die Kommune fast ganz ohne eigenes finanzielles Zutun den „Marktkräften“. Die Folgen zeigen sich einerseits im Überhandnehmen von Teilzeit- und Leiharbeit, anderseits im Übergewicht hoch qualifizierter Spezialistenjobs gegenüber Einfacharbeit. Dieser unsozialen Schieflage, Auswuchs auch einer jahrzehntelangen neoliberalen Wirtschaftsförderung, kann jetzt nur noch mit hohem Mitteleinsatz für öffentlich geförderte Beschäftigung gegengesteuert werden. Zwar scheint diese Einsicht allmählich auch einigen Wirtschaftsförderern zu dämmern, doch bis zu einem Umsteuern der Kommunalfinanzen ist der Weg noch weit.

Schließlich bildet das Schlusslicht der kommunalen Strategie, wie könnte es anders sein unter dem Diktat der Wachstumsideologie: Umwelt- und Klimaschutz. Der in Dortmund hierfür zuständige Dezernent ist sich als einziger im ganzen Verwaltungsvorstand zu schade für verlogene Schönrednerei und Verschweigen von Fehlentwicklungen, als einziger spart er nicht mit kritischen Bewertungen.


Was für ein Offenbarungseid der neoliberal gewendeten SPD, in ihrer „Herzkammer“ Dortmund!