Dieser Aufsatz
basiert auf einem Vortrag für die IG Metall Hörde-Nord, gehalten am 14.04.15
Unter dem irreführenden, mehr verbergenden als aufklärenden
Schlagwort „Strukturwandel“ haben die meisten alten Industriestädte
Deutschlands ihre industrielle Basis zu großen Teilen eingebüßt und die
Arbeitsplatzverluste durch Dienstleistungsjobs auszugleichen versucht. So auch
Dortmund, das durch Abzug seiner alteingesessenen Industrien –
„Kohle-Stahl-Bier“ – an die 80.000 Arbeitsplätze verlor und (nur) 40.000 im
Dienstleistungssektor gewann.
Schon die Aufgabe der alten Standorte folgte ja nicht
blinden Naturkräften, sondern den strategischen Plänen weltmarktorientierter
Großkonzerne. Ebenso haben wir die neu entstandenen kommunalen Strukturen als
Bausteine übergreifender Wirtschafts- und Sozialstrategien zu begreifen und zu
beurteilen. Vor dem Hintergrund der Eurokrise stellen sich da auf den zweiten
Blick Zusammenhänge her, die trotz – oder wegen – ihrer gesellschaftlichen
Brisanz Politik und Medien geflissentlich übersehen und manch ahnungsloses
Stadtoberhaupt sogar empört von sich weisen würde, weil es sich seiner
ideologischen Einbindung in die strategischen Konzepte seiner Klasse nicht
bewußt wird. Aber Ignoranz war nie ein guter Nothelfer.
Statt der vertraglich zugesagten Ersatzarbeitsplätze heuerte
der Thyssen-Krupp-Konzern 1998 bei seinem Rückzug aus Dortmund die
Unternehmensberatung McKinsey an und schwatzte dem neuern OB Langemeyer ein
phantastisches Projekt auf, das „Dortmund-Project“. Es versprach, bis 2010
-
70.000 neue Arbeitsplätze zu schaffen,
-
die Arbeitslosenzahl unter 13.000 zu senken,
-
Wertschöpfung, Einkommen und Steueraufkommen um
"mindestens 50 %" zu steigern,
-
und einen Zuwachs der Einwohnerzahl um 30.000.
Und das alles durch kräftige
Förderung von drei Leitbranchen, die zur damaligen Zeit überdurchschnittlich
expandierten und in Dortmund günstige Bedingungen vorfanden: unternehmensnahe
IT-Dienstleistungen (Callcenters, Softwareentwickler usw.), Logistik, Mikrosystem-
und Nanotechnik. Später kamen Biotechnologie und Gesundheitsdienstleistungen
hinzu, noch später „Produktionstechnik“ und „Kreativwirtschaft“.
Nach einigen Jahren war deutlich zu erkennen, dass die
Wirtschaft in Dortmund tatsächlich eine überdurchschnittliche Dynamik des
„Strukturwandels“ aufweist, aber bei weitem nicht in den von McKinsey
angekündigten Größenordnungen. Seine oben
genannten Zielgrößen verfehlte das Dortmund-Project bei weitem.
Die Erwerbstätigkeit nahm zwischen 2000 und 2013 um
insgesamt 30.000 zu (auf über 308.000). Über die Qualität der neuen
Arbeitsverhältnisse machte die Wirtschaftsförderung lange Zeit keinerlei
Angaben. Laut DGB und Sozialforschungsstelle der Uni Dortmund entstanden sie
vor allem in Klein- und Kleinstbetrieben („Ich-AG's“), zu Niedriglöhnen, in Teilzeit,
Leiharbeit, Minijobs und Scheinselbständigkeit. Seit 2006 nahm auch die
sozialversicherungspflichtige Beschäftigung (SVB) um 23.000 Stellen zu, aber
per saldo ausschließlich durch Umwandlung von Vollzeit- in Teilzeitstellen. Und
im gleichen Zeitraum verdoppelte sich die Zahl der „geringfügig Beschäftigten“
(Minijobs) auf 62 000. Vor allem geringqualifizierte Helfertätigkeiten sind von
einer "Zerstückelung" der Arbeitsplätze betroffen.
Nach Ausbildungsabschlüssen aufgeschlüsselt, wuchs die
sozialversicherungspflichtige Beschäftigung (SVB) ausschließlich im Segment der
Hoch- und Höchstqualifizierten, der Akademiker (neudeutsch „High Potentials“:
+131 % gegenüber 1987). Hingegen sank die Zahl der Beschäftigten mit
abgeschlossener Lehre oder Fachschule (-12 %), die Stellen für Ungelernte
schrumpften sogar fast um die Hälfte (-47 % gegenüber 1987). Die Arbeitslosenquote
liegt bei den Ungelernten über 40 %. Diese Arbeitslosen mit geringer oder gar
keiner Berufsqualifikation bilden auch den harten Kern der verfestigten
Langzeitarbeitslosigkeit. Ende 2014 waren 17.400 Dortmunder/-innen als
Langzeitarbeitslose registriert; von diesen haben mehr als die Hälfte keine
abgeschlossene Ausbildung.
Infolge des derart gespaltenen Arbeitsmarktes wurde Dortmund
auch zur „heimlichen Hauptstadt der Aufstocker“,
die zu ihrem Arbeitslohn ergänzendes ALG 2 beziehen müssen (Ende 2014: 14.556,
mit der höchsten Steigerungsrate im Ruhrgebiet, ganz NRW und bundesweit).
Der „Strukturwandel“
nützte also ausschließlich einer hochqualifizierten Oberschicht und schadete
der breiten Masse der Dortmunder/-innen. Die Dortmunder Wirtschaftsförderung
(WF-DO) trägt große Mitschuld an diesem gespaltenen Arbeitsmarkt. Seit dem
Dortmund-Project fördert sie massiv einerseits solche Unternehmen, die
überproportional viele Akademiker beschäftigen (IT, MST, Biomedizintechnik,
„Kreativwirtschaft“), andrerseits solche, die besonders viele prekäre Jobs
anbieten (Logistik, Gesundheitswirtschaft).
Die Entwicklung hat dahin geführt, dass die Dortmunder
Wirtschaft inzwischen mehr „atypische“ (prekäre) Jobs bietet als
Normalarbeitsverhältnisse. Und dass wir heute einen total aufgesplitterten
Arbeitsmarkt haben, wo Kolleginnen und Kollegen nebeneinander für dieselbe
Arbeit unterschiedlich bezahlt werden, unterschiedliche Arbeitsverträge und
ungleiche Rechte haben. Eine gemeinsame Interessenvertretung wird immer
schwieriger.
Kommunale
Wirtschaftsförderung und europäische „Reformagenda“
Diese Befunde, Ergebnis auch der kommunalen Wirtschaftsförderung,
passen sich haargenau in die „Reformagenda“ ein, welche die Deutsche Bundesbank
ab 2010 als Ausweg aus der europäischen Krise vorgab. In ihrem Monatsbericht
vom Juli 2010 forderte sie für die gesamte Eurozone:
-
erstens „Lohnmoderation als Weg zu mehr Beschäftigung
und Wachstum“,
-
zweitens „Dämpfung der übersteigerten
inländischen Nachfrage“.
Als Instrument dafür sah sie zuallererst einen breiten
Niedriglohnsektor, wie er in Deutschland nach der Initialzündung durch die
Hartz-Schröder’schen „Arbeitsmarktreformen“ auswucherte und heute noch nicht
seinesgleichen in Europa findet.
In der Tat, wie das Dortmunder Beispiel zeigt, führte vor
allem die Deregulierung des Arbeitsmarktes mithilfe auch planmäßiger kommunaler Wirtschaftsförderung
genau zu der von der Bundesbank gewünschten „inneren Abwertung“, nämlich durch
drastische Entwertung der Ware Arbeitskraft sowohl zur Senkung der Lohnkosten der
deutschen Exportwirtschaft („Lohnmoderation“) als auch zur „Dämpfung der inneren
Nachfrage“ und befeuerte so den gnadenlosen Wettbewerb der Leistungsbilanzen,
in dem Deutschland jetzt Europas Süden zur deutschen Sonderwirtschaftszone
degradiert:
Gegenläufig zur Zunahme der prekären Arbeit in Dortmund sank
das Gesamtvolumen der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung (Anzahl der
Beschäftigten x Arbeitszeit). Infolge dessen kann die Wertschöpfung der
Dortmunder Wirtschaft seit zehn Jahren nur noch die Inflation ausgleichen, d.h.
real stagniert sie.
Die verfügbaren Einkommen pro Kopf wuchsen in Dortmund in
den letzten zehn Jahren nur noch durchschnittlich um +0,3 % jährlich
(inflationsbereinigt). Bei der oben dargestellten Spreizung des Arbeitsmarktes
bedeutet das: Einkommenszuwächse nur noch für die hochqualifizierte Oberschicht
– Einkommensverluste für die breite Mehrheit. (Ende 2013 bescheinigte das
Statistische Bundesamt den Dortmunder/-innen das höchste Armutsrisiko unter den
größten deutschen Städten. Amtlich lebt hier mehr als ein Viertel an und unter
der Armutsschwelle, mit stark steigender Tendenz seit Einführung der
Hartz-Gesetze.)
Die Folgen des Strukturwandels für den Lebensstandard der
Dortmunder/-innen sind:
-
sinkende Realeinkommen für die Mehrheit
(Zuwächse nur noch für höhere Einkommen)
-
stagnierende Massenkaufkraft und
Einzelhandelsumsätze,
-
Zunahme der Überschuldung und Insolvenzen,
-
hohe Kinderarmut.
Also genau nach dem Rezept der
Bundesbank: Einkommenssenkung („Lohnmoderation“) und Dämpfung der Nachfrage am
Binnenmarkt.
Kaputtsparen der
Kommunen wie ganzer Länder für den Wettbewerb
Vollbeschäftigung ist am kapitalistischen Arbeitsmarkt auf
absehbare Zeit nicht mehr drin. Wenn aber ein Fünftel der Wirtschaftskraft
einer Stadt brach liegt und ein Viertel der erwerbsfähigen Bevölkerung
unbeschäftigt oder zu niedrig entlohnt mitgezogen werden muss, ruiniert das nicht
nur die Sozialkassen und den städtischen Haushalt. Sondern es entwürdigt die
betroffenen Menschen zu Bittstellern und Almosenempfängern.
Dennoch bildet die Kehrseite des mit –zig Millionen aus der
Stadtkasse geförderten Strukturwandels die wuchernde Überschuldung der Städte,
erzwungen auch durch eine Bundes- und Länderpolitik, die den Kommunen immer
neue Aufgaben diktiert, ohne sie finanziell abzusichern. Die „Schuldenbremse“
in Bund und Ländern droht ab 2016 noch weitere Kürzungsrunden bei den Kommunen
an.
Dahinter steht dieselbe Ideologie, die Merkel, Schäuble und
Gabriel gegenwärtig ganz Europa aufdrängen. Finanzminister Schäuble erzählte
kürzlich im Interview, er habe Alexis Tsipras, damals noch griechischer
Oppositionsführer, schon vor der Wahl erklärt, er müsse nach einem Wahlsieg
ohnehin die Troika-Politik fortsetzen – oder er werde scheitern. Das sagt etwas
über die Machtverhältnisse in Europa aus. Die herrschende Klasse erklärt den
Beherrschten: „Wählen könnt ihr, was und wen ihr wollt, aber bildet euch bloß
nicht ein, dass dabei eine andere Politik herauskommt als unsere.“
Was Schäuble so zäh verteidigt, ist die angebliche Alternativlosigkeit
einer Sparpolitik, die buchstäblich über Leichen geht. Was alternativlos ist,
dagegen ist Widerstand zwecklos. Das geht nicht nur an die Adresse
Griechenlands und anderer Länder, in denen ein linker Wahlsieg drohen könnte;
es richtet sich auch nach innen, an uns. Dieselbe Wettbewerbsideologie, die
ganze Länder kaputt spart, um Banken zu sanieren und der deutschen
Exportwirtschaft Märkte zu öffnen, spart auch unsere Städte kaputt, um der
Privatwirtschaft Vorteile zu verschaffen.
Wir sind gut beraten, das in Rechnung zu stellen, auch wo es
„nur“ um kommunale Wirtschaftsförderung geht: Wettbewerb lässt immer nur die Stärkeren gewinnen. Ein solidarisches Zusammenleben sieht anders aus.