Sonntag, 26. April 2015

Riesige Mengen PCB in Bergwerken bedrohen uns alle.


Neuer Behördenskandal um die RAG

Spätestens seit den 80-er Jahren ist die hoch giftige und Krebs erregende Wirkung von PCB (Polychlorierte Biphenyle) allgemein bekannt. Seit 2001 ist seine Verwendung international geächtet. Doch Dr. Harald Friedrich, vormals Abteilungsleiter für Gewässerschutz und Abfallentsorgung im NRW-Umweltministerium unter Ministerin Bärbel Höhn, entdeckte erst vor kurzem, dass die Ruhrkohle AG (RAG) in ihren 70 Bergwerken an Ruhr, Emscher, Lippe, Saar und Ems mehr als 11.500 Tonnen PCB-haltiges Hydrauliköl versenkt hat. Die für die Kontrolle der RAG zuständigen Bergämter – nicht dem Umwelt-, sondern dem Wirtschaftsministerium unterstellt – haben 30 Jahre lang nicht nur weggeguckt, sondern aktiv alle Augen zugedrückt und den Verbleib des PCB-Öls unter Tage genehmigt.

Direkte Gesundheitsschäden trugen zunächst Tausende Bergleute davon, bis hin zu ungezählten (weil nicht erfassten) Krebstoten. Aber nicht nur das. Vom Grubenwasser ausgewaschen und mit diesem hochgepumpt, gelangt das Gift in die Flüsse, in die Nordsee, und über den Verzehr von Fischprodukten gefährdet es die gesamte Bevölkerung. Doch den PCB-Gehalt des Grubenwassers haben die Aufsichtsbehörden nie regelmäßig kontrolliert. Erst seit den ersten Medienberichten darüber wird es in die Kontrollen einbezogen. Angeblich lägen die Werte unterhalb der zulässigen Grenzwerte – aber nur weil die RAG seither unerlaubterweise die Grubenwässer vor den Messungen verdünnt.

Ab 2018, dem Ende der deutschen Steinkohleförderung, wächst die Gefahr in die Dimension einer Langzeitkatastrophe. Bis dahin pumpt die RAG immer soviel Grubenwasser ab, dass der Wasserstand unterhalb von etwa 1.000 Metern Tiefe bleibt. Ab 2018 aber will sie aus Kostengründen die Wasserhaltung soweit reduzieren, dass der Wasserstand unter der gesamten Ruhr-Emscher-Lippe-Region auf 500 bis 600 Meter unter NN ansteigt. Umso leichter kann dann PCB-verseuchtes Grubenwasser über Risse und Brüche im Gestein bis in den Grundwasserbereich und sogar bis an die Erdoberfläche hochgedrückt werden.

Technisch lässt sich das PCB auch herauslösen und unschädlich entsorgen. Aber zuständig für diese „Ewigkeitskosten“ ist ab 2018 nicht mehr die RAG, sondern die „RAG-Stiftung“ – und in deren Satzung steht: Wenn ihr Stiftungsvermögen nicht ausreicht, haften die Bundesrepublik und die Kohleländer. Also wir, die betroffenen Bürger dürfen dann wählen, ob wir lieber PCB-vergiftete Fische und Feldfrüchte essen – oder mit unseren Steuern die sehr teure Entsorgung des PCB aus dem Grubenwasser bezahlen. Die Aktionäre der RAG lachen sich ins Fäustchen: „Nach uns die (PCB-) Sintflut.“

Montag, 20. April 2015

Notizen aus der Provinzhauptstadt: Kommunaler Strukturwandel – Umrüstung des Hinterlands für die deutsche Neuordnung Europas. Beispiel Dortmund



Dieser Aufsatz basiert auf einem Vortrag für die IG Metall Hörde-Nord, gehalten am 14.04.15

Unter dem irreführenden, mehr verbergenden als aufklärenden Schlagwort „Strukturwandel“ haben die meisten alten Industriestädte Deutschlands ihre industrielle Basis zu großen Teilen eingebüßt und die Arbeitsplatzverluste durch Dienstleistungsjobs auszugleichen versucht. So auch Dortmund, das durch Abzug seiner alteingesessenen Industrien – „Kohle-Stahl-Bier“ – an die 80.000 Arbeitsplätze verlor und (nur) 40.000 im Dienstleistungssektor gewann.

Schon die Aufgabe der alten Standorte folgte ja nicht blinden Naturkräften, sondern den strategischen Plänen weltmarktorientierter Großkonzerne. Ebenso haben wir die neu entstandenen kommunalen Strukturen als Bausteine übergreifender Wirtschafts- und Sozialstrategien zu begreifen und zu beurteilen. Vor dem Hintergrund der Eurokrise stellen sich da auf den zweiten Blick Zusammenhänge her, die trotz – oder wegen – ihrer gesellschaftlichen Brisanz Politik und Medien geflissentlich übersehen und manch ahnungsloses Stadtoberhaupt sogar empört von sich weisen würde, weil es sich seiner ideologischen Einbindung in die strategischen Konzepte seiner Klasse nicht bewußt wird. Aber Ignoranz war nie ein guter Nothelfer.

Statt der vertraglich zugesagten Ersatzarbeitsplätze heuerte der Thyssen-Krupp-Konzern 1998 bei seinem Rückzug aus Dortmund die Unternehmensberatung McKinsey an und schwatzte dem neuern OB Langemeyer ein phantastisches Projekt auf, das „Dortmund-Project“. Es versprach, bis 2010
-       70.000 neue Arbeitsplätze zu schaffen,
-       die Arbeitslosenzahl unter 13.000 zu senken,
-       Wertschöpfung, Einkommen und Steueraufkommen um "mindestens 50 %" zu steigern,
-       und einen Zuwachs der Einwohnerzahl um 30.000.
Und das alles durch kräftige Förderung von drei Leitbranchen, die zur damaligen Zeit überdurchschnittlich expandierten und in Dortmund günstige Bedingungen vorfanden: unternehmensnahe IT-Dienstleistungen (Callcenters, Softwareentwickler usw.), Logistik, Mikrosystem- und Nanotechnik. Später kamen Biotechnologie und Gesundheitsdienstleistungen hinzu, noch später „Produktionstechnik“ und „Kreativwirtschaft“.

Nach einigen Jahren war deutlich zu erkennen, dass die Wirtschaft in Dortmund tatsächlich eine überdurchschnittliche Dynamik des „Strukturwandels“ aufweist, aber bei weitem nicht in den von McKinsey angekündigten Größenordnungen. Seine oben genannten Zielgrößen verfehlte das Dortmund-Project bei weitem.

Die Erwerbstätigkeit nahm zwischen 2000 und 2013 um insgesamt 30.000 zu (auf über 308.000). Über die Qualität der neuen Arbeitsverhältnisse machte die Wirtschaftsförderung lange Zeit keinerlei Angaben. Laut DGB und Sozialforschungsstelle der Uni Dortmund entstanden sie vor allem in Klein- und Kleinstbetrieben („Ich-AG's“), zu Niedriglöhnen, in Teilzeit, Leiharbeit, Minijobs und Scheinselbständigkeit. Seit 2006 nahm auch die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung (SVB) um 23.000 Stellen zu, aber per saldo ausschließlich durch Umwandlung von Vollzeit- in Teilzeitstellen. Und im gleichen Zeitraum verdoppelte sich die Zahl der „geringfügig Beschäftigten“ (Minijobs) auf 62 000. Vor allem geringqualifizierte Helfertätigkeiten sind von einer "Zerstückelung" der Arbeitsplätze betroffen.

Nach Ausbildungsabschlüssen aufgeschlüsselt, wuchs die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung (SVB) ausschließlich im Segment der Hoch- und Höchstqualifizierten, der Akademiker (neudeutsch „High Potentials“: +131 % gegenüber 1987). Hingegen sank die Zahl der Beschäftigten mit abgeschlossener Lehre oder Fachschule (-12 %), die Stellen für Ungelernte schrumpften sogar fast um die Hälfte (-47 % gegenüber 1987). Die Arbeitslosenquote liegt bei den Ungelernten über 40 %. Diese Arbeitslosen mit geringer oder gar keiner Berufsqualifikation bilden auch den harten Kern der verfestigten Langzeitarbeitslosigkeit. Ende 2014 waren 17.400 Dortmunder/-innen als Langzeitarbeitslose registriert; von diesen haben mehr als die Hälfte keine abgeschlossene Ausbildung.

Infolge des derart gespaltenen Arbeitsmarktes wurde Dortmund auch zur „heimlichen Hauptstadt der Aufstocker“, die zu ihrem Arbeitslohn ergänzendes ALG 2 beziehen müssen (Ende 2014: 14.556, mit der höchsten Steigerungsrate im Ruhrgebiet, ganz NRW und bundesweit).

Der „Strukturwandel“ nützte also ausschließlich einer hochqualifizierten Oberschicht und schadete der breiten Masse der Dortmunder/-innen. Die Dortmunder Wirtschaftsförderung (WF-DO) trägt große Mitschuld an diesem gespaltenen Arbeitsmarkt. Seit dem Dortmund-Project fördert sie massiv einerseits solche Unternehmen, die überproportional viele Akademiker beschäftigen (IT, MST, Biomedizintechnik, „Kreativwirtschaft“), andrerseits solche, die besonders viele prekäre Jobs anbieten (Logistik, Gesundheitswirtschaft).

Die Entwicklung hat dahin geführt, dass die Dortmunder Wirtschaft inzwischen mehr „atypische“ (prekäre) Jobs bietet als Normalarbeitsverhältnisse. Und dass wir heute einen total aufgesplitterten Arbeitsmarkt haben, wo Kolleginnen und Kollegen nebeneinander für dieselbe Arbeit unterschiedlich bezahlt werden, unterschiedliche Arbeitsverträge und ungleiche Rechte haben. Eine gemeinsame Interessenvertretung wird immer schwieriger.

Kommunale Wirtschaftsförderung und europäische „Reformagenda“

Diese Befunde, Ergebnis auch der kommunalen Wirtschaftsförderung, passen sich haargenau in die „Reformagenda“ ein, welche die Deutsche Bundesbank ab 2010 als Ausweg aus der europäischen Krise vorgab. In ihrem Monatsbericht vom Juli 2010 forderte sie für die gesamte Eurozone:
-       erstens „Lohnmoderation als Weg zu mehr Beschäftigung und Wachstum“,
-       zweitens „Dämpfung der übersteigerten inländischen Nachfrage“.
Als Instrument dafür sah sie zuallererst einen breiten Niedriglohnsektor, wie er in Deutschland nach der Initialzündung durch die Hartz-Schröder’schen „Arbeitsmarktreformen“ auswucherte und heute noch nicht seinesgleichen in Europa findet.

In der Tat, wie das Dortmunder Beispiel zeigt, führte vor allem die Deregulierung des Arbeitsmarktes mithilfe  auch planmäßiger kommunaler Wirtschaftsförderung genau zu der von der Bundesbank gewünschten „inneren Abwertung“, nämlich durch drastische Entwertung der Ware Arbeitskraft sowohl zur Senkung der Lohnkosten der deutschen Exportwirtschaft („Lohnmoderation“) als auch zur „Dämpfung der inneren Nachfrage“ und befeuerte so den gnadenlosen Wettbewerb der Leistungsbilanzen, in dem Deutschland jetzt Europas Süden zur deutschen Sonderwirtschaftszone degradiert:

Gegenläufig zur Zunahme der prekären Arbeit in Dortmund sank das Gesamtvolumen der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung (Anzahl der Beschäftigten x Arbeitszeit). Infolge dessen kann die Wertschöpfung der Dortmunder Wirtschaft seit zehn Jahren nur noch die Inflation ausgleichen, d.h. real stagniert sie.

Die verfügbaren Einkommen pro Kopf wuchsen in Dortmund in den letzten zehn Jahren nur noch durchschnittlich um +0,3 % jährlich (inflationsbereinigt). Bei der oben dargestellten Spreizung des Arbeitsmarktes bedeutet das: Einkommenszuwächse nur noch für die hochqualifizierte Oberschicht – Einkommensverluste für die breite Mehrheit. (Ende 2013 bescheinigte das Statistische Bundesamt den Dortmunder/-innen das höchste Armutsrisiko unter den größten deutschen Städten. Amtlich lebt hier mehr als ein Viertel an und unter der Armutsschwelle, mit stark steigender Tendenz seit Einführung der Hartz-Gesetze.)

Die Folgen des Strukturwandels für den Lebensstandard der Dortmunder/-innen sind:
-       sinkende Realeinkommen für die Mehrheit (Zuwächse nur noch für höhere Einkommen)
-       stagnierende Massenkaufkraft und Einzelhandelsumsätze,
-       Zunahme der Überschuldung und Insolvenzen,
-       hohe Kinderarmut.
Also genau nach dem Rezept der Bundesbank: Einkommenssenkung („Lohnmoderation“) und Dämpfung der Nachfrage am Binnenmarkt.

Kaputtsparen der Kommunen wie ganzer Länder für den Wettbewerb

Vollbeschäftigung ist am kapitalistischen Arbeitsmarkt auf absehbare Zeit nicht mehr drin. Wenn aber ein Fünftel der Wirtschaftskraft einer Stadt brach liegt und ein Viertel der erwerbsfähigen Bevölkerung unbeschäftigt oder zu niedrig entlohnt mitgezogen werden muss, ruiniert das nicht nur die Sozialkassen und den städtischen Haushalt. Sondern es entwürdigt die betroffenen Menschen zu Bittstellern und Almosenempfängern.

Dennoch bildet die Kehrseite des mit –zig Millionen aus der Stadtkasse geförderten Strukturwandels die wuchernde Überschuldung der Städte, erzwungen auch durch eine Bundes- und Länderpolitik, die den Kommunen immer neue Aufgaben diktiert, ohne sie finanziell abzusichern. Die „Schuldenbremse“ in Bund und Ländern droht ab 2016 noch weitere Kürzungsrunden bei den Kommunen an.

Dahinter steht dieselbe Ideologie, die Merkel, Schäuble und Gabriel gegenwärtig ganz Europa aufdrängen. Finanzminister Schäuble erzählte kürzlich im Interview, er habe Alexis Tsipras, damals noch griechischer Oppositionsführer, schon vor der Wahl erklärt, er müsse nach einem Wahlsieg ohnehin die Troika-Politik fortsetzen – oder er werde scheitern. Das sagt etwas über die Machtverhältnisse in Europa aus. Die herrschende Klasse erklärt den Beherrschten: „Wählen könnt ihr, was und wen ihr wollt, aber bildet euch bloß nicht ein, dass dabei eine andere Politik herauskommt als unsere.“

Was Schäuble so zäh verteidigt, ist die angebliche Alternativlosigkeit einer Sparpolitik, die buchstäblich über Leichen geht. Was alternativlos ist, dagegen ist Widerstand zwecklos. Das geht nicht nur an die Adresse Griechenlands und anderer Länder, in denen ein linker Wahlsieg drohen könnte; es richtet sich auch nach innen, an uns. Dieselbe Wettbewerbsideologie, die ganze Länder kaputt spart, um Banken zu sanieren und der deutschen Exportwirtschaft Märkte zu öffnen, spart auch unsere Städte kaputt, um der Privatwirtschaft Vorteile zu verschaffen.

Wir sind gut beraten, das in Rechnung zu stellen, auch wo es „nur“ um kommunale Wirtschaftsförderung geht: Wettbewerb lässt immer nur die Stärkeren gewinnen. Ein solidarisches Zusammenleben sieht anders aus.

Dienstag, 14. April 2015

Ein »Geheimplan« und das Demokratieverständnis derer, die sich die Unterwerfung der griechischen Regierung erhoffen


Tom Strohschneider im nd-blog „linksbündig“, 13.04.15

»Prüft« die SYRIZA-geführte Regierung etwa Neuwahlen? Nun, wer das Griechenland-Fachblatt »Bild« liest, wird auch nicht schlauer. Die Postille für das angewandte Vorurteil weiß allerdings von einem »Geheimplan« zu berichten, der schon im ersten Satz der Enthüllung zur Erwägung schrumpf: In Athen »denkt die griechische Regierung über Neuwahlen nach!« Das Ausrufungszeichen ist wichtig, denn es signalisiert Bedeutung, wo keine ist. »Wir haben nichts zu verlieren«, wird dann noch ein namenloser Minister zitiert.
Richtig ist: SYRIZA hätte womöglich etwas zu gewinnen bei Neuwahlen, denn in Umfragen steht die linke Partei gut da - weil sie den Gläubigern und der Regierung in Berlin die Stirn bietet. Richtig ist auch: SYRIZA folgt einem Demokratieanspruch, der hierzulande Unverständnis produziert oder jedenfalls nicht verstanden wird - was ziemlich viel über den Stand des demokratischen Denkens in Deutschland aussagt.
Denn die Logik, die SYRIZA verfolgt, ist einfach und vernünftig. Man sieht sich durch die Wahlen Ende Januar mit einem Mandat ausgestattet, das auf einigen zentralen Pfeilern ruht: Schluss mit der Kürzungspolitik, welche die Vorgängerregierungen im Gegenzug für Kredite akzeptiert hatten, mit denen vor allem Banken gerettet wurden und die weder das Problem der Schulden noch die Wirtschaftskrise gelöst haben; Sofortmaßnahmen gegen die katastrophale soziale Lage im Land, die unmittelbare Folge der Kürzungsdiktate ist; sowie: Verbleib im Euro.
Was bedeutet das für die Gespräche um die Auszahlung der von den Gläubigern bisher aus politischen Gründen blockierten Gelder aus dem laufenden Kreditprogramm? Wenn keine Lösung gefunden wird, in der die Kernpunkte des Wählermandats vom 25. Januar einen Ausdruck finden, kann SYRIZA kein Abkommen abschließen - es sei denn, die Linkspartei würde sich gegen jene Mehrheit wenden, auf deren Basis sie in Brüssel und gegen Berlin überhaupt erst verhandelt.
Man könnte das demokratisch nennen. Ebenso demokratisch ist es, für den Fall, dass die Gläubiger die SYRIZA-Regierung auflaufen lassen, darüber nachzudenken, wie dann weiter verfahren werden soll. Das tut die Linkspartei schon länger - und sie tut dies keineswegs geheim.