In meinem Jahresurlaub habe ich das kürzlich erschienene
Buch von Sahra Wagenknecht „Reichtum ohne Gier“ noch einmal gründlicher
hergenommen und es an den „reichen“ Einsichten meiner 45 Arbeitsjahre gemessen.
Hier die ersten Ergebnisse meiner Messung (eine zweite Rate soll folgen).
In der ersten Hälfte ihres Buches erklärt Sahra faktenreich,
wie das private Eigentum einer immer schmaleren exklusiven Oberschicht an den
entscheidenden Produktionsmitteln den Wettbewerb aushebelt, immer krassere
Ungleichheit und massenhafte Not erzeugt und die Demokratie zerstört. Und wie
sich das in den letzten Jahrzehnten immer mehr verschlimmert hat. Die Ursache
dafür sei, dass die Anleger der großen Vermögen – im Unterschied von „echten
Unternehmern“, wie sie sagt – sich nicht mehr für ihre Unternehmen und Produkte
interessieren, sondern nur noch für die Rendite, die sie daraus ziehen können.
Die „leistungslosen Kapitaleinkommen“ seien „schlicht ein Monopolpreis“ und
„fallen ausschließlich deshalb an, weil die große Mehrheit der Menschen in
unserer heutigen Wirtschaftsordnung keinen direkten Zugang zu Kapital hat.“ So
werde Marktmacht zum „Innovations- und Qualitätskiller“. Die Annahme, die
Unternehmer bräuchten den Kapitalismus, sei ein großer Irrtum. „Wettbewerb und
Kapitalismus sind ein Widerspruch.“
Folglich empfiehlt Sahra uns: „Märkte darf man nicht
abschaffen, im Gegenteil, man muss sie vor dem Kapitalismus retten.“
Erstaunlicherweise enthält Sahras Beweisführung bis dahin
einige Ungereimtheiten, die sie theoretisch ad absurdum führen. In ihrer
Darstellung erscheinen Kapitalisten (im Unterschied von den „echten
Unternehmern“) als untätige, überflüssige Schmarotzer, die nur ihre
Anteilsscheine zählen und überlegen, wieviel vom Gewinn sie re-investieren bzw.
als ihr persönliches Einkommen verjuxen wollen. – In der Wirklichkeit jedoch
hat der Kapitalist als Eigentümer der Produktionsmittel (und der angekauften
Arbeitskräfte) die Entscheidungsgewalt über den ganzen Produktionsprozess, und
daran ändert es nicht das geringste, ob er diese selbst wahrnimmt oder an einen
Unternehmensvorstand delegiert. In der Wirklichkeit entspringen die
Widersprüche zwischen dem Gebrauchswert eines Produkts und seiner Verwertung am
Markt daraus, dass der Unternehmer es von allem Anfang an für den Tausch produzieren lässt, also um nach dem Verkauf am Markt
mehr Geld in Händen zu haben als vorher. Der Widerspruch liegt also im Warencharakter
des Produkts selbst. Die Warenproduktion,
die Marktwirtschaft selbst ist es, die der produktiven Arbeit den
Doppelcharakter aufzwingt, einerseits Gebrauchswerte zu schaffen und damit
andrerseits das investierte Kapital zu verwerten (d.h. zu vermehren).
Und übrigens bleibt bei Sahras Schmarotzer-Kapitalisten auch
ganz unklar, ob die Höhe von dessen „leistungslosem Einkommen“ sich nach seinen
privaten Gelüsten und Lastern bemisst oder nach was sonst. In der Wirklichkeit
bemisst sie sich nach den Konkurrenzverhältnissen am Markt, also nach Sahras
gepriesenem „Wettbewerb“ zwischen den Unternehmern, den es heute angeblich kaum
mehr gibt. (Damit ist nicht die im
Wettbewerb angelegte Tendenz zur Oligo- und Monopolisierung in allen
beschriebenen Erscheinungsformen bestritten. Allerdings ist dies eine Tendenz,
die nicht irgendwann im „ultra-imperialistischen“ Verschmelzen allen globalen
Kapitals endet, sondern sich immer auf jeweils höherer Stufe in neuen, noch
brutaleren Konkurrenzkämpfen reproduziert.)
Was
Sahra auch ganz schnell fallen lässt wie eine heiße Kartoffel, ist die Quelle
der „leistungslosen Kapitaleinkommen“, die eben im Doppelcharakter der Arbeit in der Warenproduktion liegt. Einerseits bezieht Sahra sich da auf
Karl Marx, der „korrekt beschreibt, was dem Gewinn zugrunde liegt, nämlich dass
der abhängig Beschäftigte mehr erarbeitet, als er bezahlt bekommt…“ Die
pflichtschuldige Verbeugung vor dem Alten nimmt sie aber gleich im nächsten
Satz zurück: „Wenn der Wert der
Arbeitskraft und damit der Lohn qua Naturgesetz immer niedriger wäre als der Wert der von ihr erzeugten
Produkte, läge die Lösung auf der
Hand: Arbeiter, macht euch selbständig…“ (Hervorhebungen von mir). So
funktioniert das aber nach Sahras Meinung deshalb nicht, weil es „Gewinne
offenbar nur bei Abwesenheit ausreichender Konkurrenz“ gebe, während es
„langfristig im harten Wettbewerb auf einem offenen Markt keinen Grund (gibt),
weshalb ein Unternehmer mehr als seine eigene unternehmerische Leistung bezahlt
bekommen sollte.“ Damit offenbart die promovierte Volkswirtin, dass sie weder
ihren einstigen Ziehvater Marx verstanden noch eine Ahnung von elementarster
Betriebswirtschaft hat: Da in der kapitalistischen Wirklichkeit jedes
einigermaßen gesunde Unternehmen Gewinne macht, indem es die Waren durchschnittlich
zu ihren Werten verkauft, bleibt als Quelle der Gewinne tatsächlich nur, ohne
jedes Wenn und Wäre, die Differenz zwischen dem Lohn der Arbeitskraft und den
von ihr produzierten Warenwerten. (Diese Differenz nennt Marx Mehrwert, und sie
ist das große Geheimnis hinter der Kapitalvermehrung. Damit wird natürlich
nicht die Existenz von monopolistischen Extraprofiten bestritten, aber diese
sind ein zusätzlicher Tribut, den die marktbeherrschenden Kapitale über die
normale Mehrwertproduktion hinaus der ganzen Gesellschaft auferlegen.)
Ein weiterer Knackpunkt in Sahras Loblied auf den vor dem
Kapitalismus geretteten Wettbewerb ist, dass Märkte immer und überall der
Produktion nachgelagert sind, also nur im nachhinein (am Verkaufserfolg)
feststellen lassen, ob und zu welchem Preis eine bereits produzierte Ware
Käufer findet. Gerade darin unterscheidet sich bekanntlich die Marktwirtschaft
grundsätzlich von allen verpönten Planwirtschaftssystemen. Und das obgleich die
Marktliberalen trotz tausend theoretischer Verrenkungen nicht die anarchischen
Folgen dieser nachträglichen Wertrealisierung ableugnen können. Mit diesen
anarchischen Schwierigkeiten hätten natürlich auch Sahras „echte Unternehmer“
weiter zu kämpfen, wenn sie sich weiter auf Märkten tummeln. – Es sei denn, sie
führt in ihr Konzept unter der Hand planwirtschaftliche Elemente ein… was sie
tatsächlich tut, wie wir noch sehen werden.
Dass es das schon einmal irgendwann irgendwo gab, eine
nicht-kapitalistische Marktwirtschaft – im Sinn einer umfassenden
Wirtschaftsordnung auf Grundlage von Warenaustausch zwischen unabhängigen
Privatunternehmen, aber eben ohne „leistungslose Vermögenseinkommen“ aus
Kapitalgewinnen – das kann Sahra nicht behaupten (und sie tut es auch nicht).
In allen vor-kapitalistischen, hauptseitig agrarischen Gesellschaftsordnungen
basierten Aneignung und Verteilung der Produkte meist auf ganz anderen
Prinzipien als dem äquivalenten Warentausch, und wo es gewisse Teilmärkte gab,
waren sie in diesen marktfremden Prinzipien (Frondienste, Abgaben, Steuern,
Zehnte, Tribute, Geschenke, noch früher Sklavenarbeit) sporadisch „eingebettet“
(Karl Polanyi), aber nicht vorherrschend.
Als historische Zeugen könnte Sahra allenfalls die Versuche
anführen, den einstigen „Realsozialismus“ in eine „sozialistische
Marktwirtschaft“ umzumodeln: In einen Zwitter, der staatliche Planung mit der
nachträglichen Wertverrechnung durch teils fiktive, teils reale
Marktbeziehungen zwischen den Unternehmen verbinden sollte. Wenngleich anhand
Sahras früherer Schriften vermutet werden kann, dass solche Überlegungen in ihr
Konzept eingeflossen sind, hätte sie sich dann aber auch der Frage zu stellen,
ob der „Realsozialismus“ ökonomisch
nicht gerade an der Unvereinbarkeit dieser zwei antagonistischen Prinzipien
gescheitert ist: der Planung und des Marktes.
Wie sich zeigt, ergibt Sahras Vorschlag einer
nicht-kapitalistischen Marktwirtschaft theoretisch keinen Sinn und praktisch
keine Aussicht, den Kapitalismus jemals loszuwerden. Die LINKE wie die
gesellschaftliche Linke sind gut beraten, diesen Vorschlag abzulehnen.