Samstag, 30. Juli 2016

Eine „marktkonforme“ LINKE wäre nicht mehr links


In meinem Jahresurlaub habe ich das kürzlich erschienene Buch von Sahra Wagenknecht „Reichtum ohne Gier“ noch einmal gründlicher hergenommen und es an den „reichen“ Einsichten meiner 45 Arbeitsjahre gemessen. Hier die ersten Ergebnisse meiner Messung (eine zweite Rate soll folgen).

In der ersten Hälfte ihres Buches erklärt Sahra faktenreich, wie das private Eigentum einer immer schmaleren exklusiven Oberschicht an den entscheidenden Produktionsmitteln den Wettbewerb aushebelt, immer krassere Ungleichheit und massenhafte Not erzeugt und die Demokratie zerstört. Und wie sich das in den letzten Jahrzehnten immer mehr verschlimmert hat. Die Ursache dafür sei, dass die Anleger der großen Vermögen – im Unterschied von „echten Unternehmern“, wie sie sagt – sich nicht mehr für ihre Unternehmen und Produkte interessieren, sondern nur noch für die Rendite, die sie daraus ziehen können. Die „leistungslosen Kapitaleinkommen“ seien „schlicht ein Monopolpreis“ und „fallen ausschließlich deshalb an, weil die große Mehrheit der Menschen in unserer heutigen Wirtschaftsordnung keinen direkten Zugang zu Kapital hat.“ So werde Marktmacht zum „Innovations- und Qualitätskiller“. Die Annahme, die Unternehmer bräuchten den Kapitalismus, sei ein großer Irrtum. „Wettbewerb und Kapitalismus sind ein Widerspruch.“

Folglich empfiehlt Sahra uns: „Märkte darf man nicht abschaffen, im Gegenteil, man muss sie vor dem Kapitalismus retten.“

Erstaunlicherweise enthält Sahras Beweisführung bis dahin einige Ungereimtheiten, die sie theoretisch ad absurdum führen. In ihrer Darstellung erscheinen Kapitalisten (im Unterschied von den „echten Unternehmern“) als untätige, überflüssige Schmarotzer, die nur ihre Anteilsscheine zählen und überlegen, wieviel vom Gewinn sie re-investieren bzw. als ihr persönliches Einkommen verjuxen wollen. – In der Wirklichkeit jedoch hat der Kapitalist als Eigentümer der Produktionsmittel (und der angekauften Arbeitskräfte) die Entscheidungsgewalt über den ganzen Produktionsprozess, und daran ändert es nicht das geringste, ob er diese selbst wahrnimmt oder an einen Unternehmensvorstand delegiert. In der Wirklichkeit entspringen die Widersprüche zwischen dem Gebrauchswert eines Produkts und seiner Verwertung am Markt daraus, dass der Unternehmer es von allem Anfang an für den Tausch produzieren lässt, also um nach dem Verkauf am Markt mehr Geld in Händen zu haben als vorher. Der Widerspruch liegt also im Warencharakter des Produkts selbst. Die Warenproduktion, die Marktwirtschaft selbst ist es, die der produktiven Arbeit den Doppelcharakter aufzwingt, einerseits Gebrauchswerte zu schaffen und damit andrerseits das investierte Kapital zu verwerten (d.h. zu vermehren).

Und übrigens bleibt bei Sahras Schmarotzer-Kapitalisten auch ganz unklar, ob die Höhe von dessen „leistungslosem Einkommen“ sich nach seinen privaten Gelüsten und Lastern bemisst oder nach was sonst. In der Wirklichkeit bemisst sie sich nach den Konkurrenzverhältnissen am Markt, also nach Sahras gepriesenem „Wettbewerb“ zwischen den Unternehmern, den es heute angeblich kaum mehr gibt. (Damit ist nicht die im Wettbewerb angelegte Tendenz zur Oligo- und Monopolisierung in allen beschriebenen Erscheinungsformen bestritten. Allerdings ist dies eine Tendenz, die nicht irgendwann im „ultra-imperialistischen“ Verschmelzen allen globalen Kapitals endet, sondern sich immer auf jeweils höherer Stufe in neuen, noch brutaleren Konkurrenzkämpfen reproduziert.)

Was Sahra auch ganz schnell fallen lässt wie eine heiße Kartoffel, ist die Quelle der „leistungslosen Kapitaleinkommen“, die eben im Doppelcharakter der Arbeit in der Warenproduktion liegt. Einerseits bezieht Sahra sich da auf Karl Marx, der „korrekt beschreibt, was dem Gewinn zugrunde liegt, nämlich dass der abhängig Beschäftigte mehr erarbeitet, als er bezahlt bekommt…“ Die pflichtschuldige Verbeugung vor dem Alten nimmt sie aber gleich im nächsten Satz zurück: „Wenn der Wert der Arbeitskraft und damit der Lohn qua Naturgesetz immer niedriger wäre als der Wert der von ihr erzeugten Produkte, läge die Lösung auf der Hand: Arbeiter, macht euch selbständig…“ (Hervorhebungen von mir). So funktioniert das aber nach Sahras Meinung deshalb nicht, weil es „Gewinne offenbar nur bei Abwesenheit ausreichender Konkurrenz“ gebe, während es „langfristig im harten Wettbewerb auf einem offenen Markt keinen Grund (gibt), weshalb ein Unternehmer mehr als seine eigene unternehmerische Leistung bezahlt bekommen sollte.“ Damit offenbart die promovierte Volkswirtin, dass sie weder ihren einstigen Ziehvater Marx verstanden noch eine Ahnung von elementarster Betriebswirtschaft hat: Da in der kapitalistischen Wirklichkeit jedes einigermaßen gesunde Unternehmen Gewinne macht, indem es die Waren durchschnittlich zu ihren Werten verkauft, bleibt als Quelle der Gewinne tatsächlich nur, ohne jedes Wenn und Wäre, die Differenz zwischen dem Lohn der Arbeitskraft und den von ihr produzierten Warenwerten. (Diese Differenz nennt Marx Mehrwert, und sie ist das große Geheimnis hinter der Kapitalvermehrung. Damit wird natürlich nicht die Existenz von monopolistischen Extraprofiten bestritten, aber diese sind ein zusätzlicher Tribut, den die marktbeherrschenden Kapitale über die normale Mehrwertproduktion hinaus der ganzen Gesellschaft auferlegen.)

Ein weiterer Knackpunkt in Sahras Loblied auf den vor dem Kapitalismus geretteten Wettbewerb ist, dass Märkte immer und überall der Produktion nachgelagert sind, also nur im nachhinein (am Verkaufserfolg) feststellen lassen, ob und zu welchem Preis eine bereits produzierte Ware Käufer findet. Gerade darin unterscheidet sich bekanntlich die Marktwirtschaft grundsätzlich von allen verpönten Planwirtschaftssystemen. Und das obgleich die Marktliberalen trotz tausend theoretischer Verrenkungen nicht die anarchischen Folgen dieser nachträglichen Wertrealisierung ableugnen können. Mit diesen anarchischen Schwierigkeiten hätten natürlich auch Sahras „echte Unternehmer“ weiter zu kämpfen, wenn sie sich weiter auf Märkten tummeln. – Es sei denn, sie führt in ihr Konzept unter der Hand planwirtschaftliche Elemente ein… was sie tatsächlich tut, wie wir noch sehen werden.

Dass es das schon einmal irgendwann irgendwo gab, eine nicht-kapitalistische Marktwirtschaft – im Sinn einer umfassenden Wirtschaftsordnung auf Grundlage von Warenaustausch zwischen unabhängigen Privatunternehmen, aber eben ohne „leistungslose Vermögenseinkommen“ aus Kapitalgewinnen – das kann Sahra nicht behaupten (und sie tut es auch nicht). In allen vor-kapitalistischen, hauptseitig agrarischen Gesellschaftsordnungen basierten Aneignung und Verteilung der Produkte meist auf ganz anderen Prinzipien als dem äquivalenten Warentausch, und wo es gewisse Teilmärkte gab, waren sie in diesen marktfremden Prinzipien (Frondienste, Abgaben, Steuern, Zehnte, Tribute, Geschenke, noch früher Sklavenarbeit) sporadisch „eingebettet“ (Karl Polanyi), aber nicht vorherrschend.

Als historische Zeugen könnte Sahra allenfalls die Versuche anführen, den einstigen „Realsozialismus“ in eine „sozialistische Marktwirtschaft“ umzumodeln: In einen Zwitter, der staatliche Planung mit der nachträglichen Wertverrechnung durch teils fiktive, teils reale Marktbeziehungen zwischen den Unternehmen verbinden sollte. Wenngleich anhand Sahras früherer Schriften vermutet werden kann, dass solche Überlegungen in ihr Konzept eingeflossen sind, hätte sie sich dann aber auch der Frage zu stellen, ob der „Realsozialismus“ ökonomisch nicht gerade an der Unvereinbarkeit dieser zwei antagonistischen Prinzipien gescheitert ist: der Planung und des Marktes.

Wie sich zeigt, ergibt Sahras Vorschlag einer nicht-kapitalistischen Marktwirtschaft theoretisch keinen Sinn und praktisch keine Aussicht, den Kapitalismus jemals loszuwerden. Die LINKE wie die gesellschaftliche Linke sind gut beraten, diesen Vorschlag abzulehnen.

Der zweite Teil ihres Buches und meiner Beschäftigung mit ihm wird den Schwerpunkt auf ihre Überlegungen zu verschiedenen alternativen Eigentumsformen an den Produktionsmitteln legen.

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