Sonntag, 7. August 2016

Unsere Arbeit vor der Entwertung retten!


2.Teil der Kritik zu Sahra Wagenknechts Buch "Reichtum ohne Gier"

Im ersten Teil meiner Urlaubslektüre von Sahra Wagenknechts „Reichtum ohne Gier“ hatte ich ihr angekreidet, dass sie die Quelle kapitalistischer Unternehmensgewinne falsch bestimmt. Das ist keine akademische Rechthaberei, sondern hat weit reichende Konsequenzen für die Einkommensverteilung in der Gesellschaft, die Arbeit und den Umgang der Menschen miteinander.

Der Mehrwert (nach Karl Marx) entsteht nicht „qua Naturgesetz“, wie Sahra richtig bemerkt, aber auch nicht durch Ausschaltung des Wettbewerbs, wie sie stattdessen behauptet, sondern ganz reell aus dem Funktionsprinzip des Warenaustauschs, dass die Waren im Durchschnitt zu ihrem Wert getauscht werden, das heißt (verkürzt ausgedrückt:) zu ihren Herstellungskosten, egal wie der Käufer sie dann vernutzt. So auch die menschliche Arbeitskraft, soweit sie auf dem Arbeitsmarkt gehandelt wird. Diese hat aber gegenüber allen anderen Waren den einzigartigen Vorzug, dass sie mehr Werte produzieren kann, als sie selbst zu ihrer Herstellung und Erhaltung verbraucht, und genau diesen Vorzug nutzt ihr kapitalistischer Käufer, indem er sie als ihr rechtmäßiger Eigentümer-auf-Zeit mit tausend Methoden dazu bringt, mehr zu schaffen, als sie ihn für diese Zeit gekostet hat. (Ich weiß nach meinem Arbeitsleben, wovon ich da rede.)

Der Kapitalismus hat also die „Marktwirtschaft“ erst vervollständigt und allumfassend verallgemeinert, indem er erstmals in der Geschichte auch die Arbeitskraft in eine Ware verwandelt hat, weil die Arbeiter nun in Ermangelung eigener Produktionsmittel gezwungen sind, ihren Lebensunterhalt durch Verkauf ihres Arbeitsvermögens an einen Produktionsmittelbesitzer zu verdienen. Und nur zu dieser Bedingung, dass die wertschaffende Arbeit selbst in den Wettbewerb einbezogen wird, ist der ganze Marktkreislauf erst vollständig und funktionsfähig. (Denn wie könnte der Arbeiter seinerseits die zu seiner Reproduktion notwendigen Waren kaufen, wenn er nicht vorher für seine Arbeit marktgerecht entlohnt worden wäre.) Das heißt, zum Marktwirtschaftssystem gehört die Existenz des Arbeitsmarktes, auf dem die Arbeiter gegeneinander um Arbeit und Lohn konkurrieren, unverzichtbar dazu. Mit all den katastrophalen Folgen, unter denen die Arbeiterklasse zu leiden hat, seit und solange es den Kapitalismus gibt.

(Übrigens vollzog sich dieselbe Verallgemeinerung auch in Bezug auf das Grundeigentum, das ebenfalls erst im und durch den Kapitalismus zur Ware gemacht und in die Produktionskosten aller anderen Waren einbezogen wurde. Allerdings handelt es sich hierbei tatsächlich um einen reinen Monopolaufschlag, der sich aus der Unvermehrbarkeit der Erdoberfläche ergibt. Folglich dürften auch Mieten, Pachten und Hypotheken auf keinen Fall „vor dem Kapitalismus gerettet“, sondern müssen schnellstens abgeschafft werden: indem der Boden in Gemeineigentum überführt und seinen Nutzern unentgeltlich zur Verfügung gestellt wird.)

Vom Arbeitsmarkt aus stoßen wir auf eine der Kernfragen der linken Alternative zur kapitalistischen Warenwirtschaft: Wollen wir, dass die Arbeitskraft auch in Zukunft eine Ware bleibt? Ich bin dafür, das so schnell wie möglich zu  überwinden. Sahra schweigt sich dazu leider aus.

Ganz richtig macht sie als Quelle des explosionsartigen Wachstums- und Wohlstandsschubs, den der Kapitalismus gegenüber früheren Epochen hervor brachte, den technischen Fortschritt als „Innovationsmotor“ aus. Und sie mahnt daher ein viel breiter ausgebautes Bildungssystem an, um unsere kreativen, innovativen Potenzen besser auszuschöpfen. Gut.

Der technische Fortschritt hat jedoch im Kapitalismus einen Januskopf. Einerseits dient er den Unternehmen im Wettbewerb zur Einsparung von Arbeit, um ihre Produktionskosten und Marktpreise zu senken, und das verbilligt auch unsere Lebenshaltung und erhöht unsere Kaufkraft. – Andrerseits bewirken die technischen Umwälzungen gerade (Digitalisierung, Vernetzung der Produktion, Business-on-demand, Industrie 4.0 usw.) eine Entwertung und „Entprofessionalisierung“ der Arbeit, die Sahra zu Recht einen „klaren Rückschritt“ nennt, weil dadurch der Mensch „einen wesentlichen Teil seiner Selbstachtung verliert.“

Hinzu tritt – von Sahra leider nur gestreift – die aktuell sich weiter zuspitzende Beschäftigungskrise, da nämlich der technische Fortschritt mehr Arbeitskräfte freisetzt, als durch Erweiterung der Märkte neue Arbeitsplätze entstehen (können). Bereits vor mehr als dreißig Jahren kam der Soziologe Claus Offe empirisch zu dem Ergebnis: „Der technische Wandel wird zur systemimmanenten Quelle von Arbeitslosigkeit.“ Das „Organisationsmodell Arbeitsmarkt“ habe sich infolgedessen – nicht zuletzt aus ökologischen Gründen, wie er damals schon erkannte – „historisch erschöpft“ und sei „untauglich geworden“ (Claus Offe, Arbeitsgesellschaft – Strukturprobleme und Zukunftsperspektiven, 1984).

Wenn wir also, auch nach meinen persönlichen Erfahrungen in der industriellen Wirklichkeit, künftig die Konkurrenz der Arbeiter um Arbeit und Löhne beenden wollen, setzt das eine ganz andere Eigentumsordnung voraus: Die Arbeiter müssen dann selbst, nicht nur als „Garagenbastler“, sondern auch in der Großindustrie über die Produktionsmittel verfügen – und den Unternehmern muss es verwehrt sein, Gewinne aus dem Einsatz von Lohnarbeit sich privat anzueignen.

Damit bin ich beim letzten Teil von Sahras Buch. Auch sie hält es für notwendig, „Eigentum neu zu denken.“ Für die Zukunft schlägt sie vier Unternehmenstypen vor, von denen nur der erste nach marktwirtschaftlichen Prinzipien organisiert ist: Die von ihr so genannte „Personengesellschaft“, im Privateigentum ihrer Inhaber/Investoren, mit voller Gewinnprivatisierung, aber auch mit voller persönlicher Verlusthaftung und frei von jeglicher öffentlichen Förderung.

Die nächste, schon gemeinwirtschaftliche Stufe ist die „Mitarbeitergesellschaft“. Im unpersönlichen Kollektiveigentum der Belegschaft, die auch gemeinsam über die Geschäftsstrategie entscheidet, die Geschäftsführung bestimmt und kontrolliert. Im Unterschied von der Genossenschaft sind hier die Eigentumsanteile nicht individuell, nicht übertragbar, nicht ausschüttungsberechtigt und erlöschen mit dem Ausscheiden aus dem Unternehmen. Als historische Beispiele verweist sie auf Belegschaftsübernahmen, mit denen erfolgreich Betriebsschließungen verhindert werden konnten.

Die dritte Form, für Großunternehmen gedacht, ist die „Öffentliche Gesellschaft“, die gleichfalls „sich selbst gehört“, also weder den einzelnen Mitarbeitern noch externen Kapitaleignern und auch nicht dem Staat. In ihrem Aufsichtsrat sitzen neben den Belegschaftsvertretern je nach ihrer Bedeutung für die kommunale, regionale und nationale Wirtschaft entsprechend Vertreter der jeweiligen öffentlichen Ebene. Die Umwandlung bestehender Unternehmen in „Öffentliche Gesellschaften“ soll durch Ablösung der ursprünglichen Kapitaleinlagen abzüglich kassierter Dividenden aus den laufenden Erträgen erfolgen.

Schließlich als vierter Typus die „Gemeinwohlgesellschaft“, ein nicht-kommerzielles Unternehmen, das für öffentliche Versorgungsbetriebe aller Art in Frage kommt, auch nur „sich selbst gehört“ und unter öffentlicher (nicht nur staatlicher) Kontrolle arbeitet.

In diese vierte Kategorie ordnet Sahra auch „Gemeinwohlbanken“ ein, die sie anstelle der privaten Großbanken setzen will. Wobei sie es aber jeder heute bestehenden Bank freistellen will, sich als Gemeinwohlbank zu reorganisieren oder weiter am freien Markt zu agieren, dann allerdings bei vollem privatem Risiko und ohne staatliche Absicherung. (Ihr ganzes Kapitel zum Finanzsektor lasse ich hier weg, möchte aber betonen, dass ich es insgesamt fundiert und überzeugend finde – bis hin zur Konsequenz, die Euro-Währungsunion in der heutigen Form aufzulösen und durch nationale Währungen mit festen, nach abgestimmten Regeln veränderbaren Wechselkursen zu ersetzen, was ich nachdrücklich unterstütze, weil ich es für die wirksamste Waffe gegen die Zerstörung der Demokratie und sich verschärfende nationalistische Konfrontationen halte.)

Was Sahra hier ganz ausblendet, ist die Zukunft der Opfer arbeitsparender Rationalisierung. Wer hilft den Arbeitslosen bei der Re-Integration ins Arbeitsleben? Und wie? Ich werfe ihr nicht vor, dass sie hierzu nichts schreibt, hat doch die LINKE ohnehin die öffentlich geförderte Beschäftigung sehr richtig zu einem Schwerpunkt ihrer ganzen Arbeitspolitik gemacht. Seit den 80er Jahren wissen wir, dass da weder der Ruf nach „echtem Wettbewerb“ weiter hilft noch illusionäre (und zunehmend unverantwortliche) Hoffnungen auf neues „Wirtschaftswachstum“ durch technologische Innovation. Hier geht es jetzt weniger um neue Konzepte als vielmehr um die praktische Durchsetzung unserer Politik.

Wenngleich Sahra es nicht ausspricht (um Wähler*innen aus dem Mittelstand nicht zu verschrecken? Oder Teile der eigenen Partei?) haben ihre Vorschläge zur Neuordnung des wirtschaftlichen Eigentums selbstredend einschneidende Beschränkungen der unternehmerischen Freiheiten zur Folge. Es liegt auf der Hand: In drei der vier von ihr vorgestellten Unternehmenstypen ist die Arbeitskraft keine Ware mehr. An die Stelle der privatrechtlichen individuellen (Arbeits-) Vertragsfreiheit tritt der Kollektivvertrag der Gesamtbelegschaft, den der Einzelne beim Eintritt ins Unternehmen anerkennt. Den Ertrag aus seiner Arbeit eignet sich kein Privateigentümer mehr an (auch nicht er selbst!), sondern er kommt in voller Höhe dem ganzen Unternehmen und darüber hinaus der Allgemeinheit zugute. Auch die Unternehmensstrategie, die innerbetrieblichen Abläufe und das Betriebsklima werden sich grundlegend verändern, wenn die Aufsicht nicht mehr bei Kapitalvertretern liegt, sondern bei den Beschäftigten selbst und der demokratischen Öffentlichkeit.

Im unklaren lässt Sahra, ob die Inhaber-Kapitalisten ihrer „Personengesellschaften“ sich weiterhin an Lohnarbeit privat bereichern dürfen. Wenn ja, würde das auf eine weitere Spaltung der Arbeiterklasse in selbstbestimmt-selbstverantwortlich Arbeitende einerseits und fremdbestimmt-ausgebeutet-abhängig Beschäftigte andrerseits hinauslaufen. Ich fände das höchstens für eine Übergangszeit mit zunehmenden Einschränkungen annehmbar, zumal offen bleiben muss, wie viele Unternehmer sich in Zukunft für diese Variante entscheiden würden.

Ich vermute, dass Sahra diesen Bruch in ihrer Konzeption hingenommen hat, um die Verherrlichung des „echten“, vermeintlich „antimonopolistischen“ Wettbewerbs zu retten, die sich durch das ganze Buch zieht, aber wie gesehen theoretisch und historisch ohnehin nicht überzeugt. Umso wichtiger ist mir am Schluss ein Hinweis, der über den in diesem Buch abgesteckten Horizont hinausgeht:

Diese Konzeption des wirtschaftlichen Eigentums, die sich vor allem auf gemeinwirtschaftliche Unternehmensformen stützt, führt auch direkt an das Verhältnis von Unternehmensautonomie und gesamtgesellschaftlicher Planung heran. Mit der Konsequenz, dass diese Unternehmen nicht mehr nur für den Markt arbeiten würden. Das wäre eine bedeutende Einschränkung des „Wettbewerbs“ um Käufer, ein wesentlicher Schritt über die kapitalistische Konkurrenz hinaus. Ein Schritt, an dem bislang alle realsozialistischen wie die sozialdemokratischen Versuche in Europa gescheitert sind. Aber wir müssen (!) ihn über kurz oder lang gehen, daran führt kein Weg vorbei, weil die kapitalistische Konkurrenz uns immer mehr in Chaos, Mord und Totschlag stürzt.

Dabei können Sahras Vorschläge uns nützen. Die aufgezeigten Mängel, Inkonsequenzen und Brüche in Sahras Buch ändern nichts an meiner Empfehlung: Ein anregender, im Wortsinn in die Zukunft weisender Band.

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