2.Teil der Kritik zu Sahra Wagenknechts Buch "Reichtum ohne Gier"
Im ersten Teil meiner Urlaubslektüre von Sahra Wagenknechts
„Reichtum ohne Gier“ hatte ich ihr angekreidet, dass sie die Quelle kapitalistischer
Unternehmensgewinne falsch bestimmt. Das ist keine akademische Rechthaberei,
sondern hat weit reichende Konsequenzen für die Einkommensverteilung in der
Gesellschaft, die Arbeit und den Umgang der Menschen miteinander.
Der Mehrwert (nach Karl Marx) entsteht nicht „qua
Naturgesetz“, wie Sahra richtig bemerkt, aber auch nicht durch Ausschaltung des
Wettbewerbs, wie sie stattdessen behauptet, sondern ganz reell aus dem
Funktionsprinzip des Warenaustauschs, dass die Waren im Durchschnitt zu ihrem
Wert getauscht werden, das heißt (verkürzt ausgedrückt:) zu ihren
Herstellungskosten, egal wie der Käufer sie dann vernutzt. So auch die
menschliche Arbeitskraft, soweit sie auf dem Arbeitsmarkt gehandelt wird. Diese
hat aber gegenüber allen anderen Waren den einzigartigen Vorzug, dass sie mehr
Werte produzieren kann, als sie selbst zu ihrer Herstellung und Erhaltung
verbraucht, und genau diesen Vorzug nutzt ihr kapitalistischer Käufer, indem er
sie als ihr rechtmäßiger Eigentümer-auf-Zeit mit tausend Methoden dazu bringt, mehr
zu schaffen, als sie ihn für diese Zeit gekostet hat. (Ich weiß nach meinem
Arbeitsleben, wovon ich da rede.)
Der Kapitalismus hat also die „Marktwirtschaft“ erst
vervollständigt und allumfassend verallgemeinert, indem er erstmals in der
Geschichte auch die Arbeitskraft in eine Ware verwandelt hat, weil die Arbeiter
nun in Ermangelung eigener Produktionsmittel gezwungen sind, ihren
Lebensunterhalt durch Verkauf ihres Arbeitsvermögens an einen
Produktionsmittelbesitzer zu verdienen. Und nur zu dieser Bedingung, dass die
wertschaffende Arbeit selbst in den Wettbewerb einbezogen wird, ist der ganze Marktkreislauf
erst vollständig und funktionsfähig. (Denn wie könnte der Arbeiter seinerseits
die zu seiner Reproduktion notwendigen Waren kaufen, wenn er nicht vorher für
seine Arbeit marktgerecht entlohnt worden wäre.) Das heißt, zum Marktwirtschaftssystem
gehört die Existenz des Arbeitsmarktes, auf dem die Arbeiter gegeneinander um
Arbeit und Lohn konkurrieren, unverzichtbar dazu. Mit all den katastrophalen
Folgen, unter denen die Arbeiterklasse zu leiden hat, seit und solange es den Kapitalismus
gibt.
(Übrigens vollzog sich dieselbe Verallgemeinerung auch in Bezug
auf das Grundeigentum, das ebenfalls erst im und durch den Kapitalismus zur
Ware gemacht und in die Produktionskosten aller anderen Waren einbezogen wurde.
Allerdings handelt es sich hierbei tatsächlich um einen reinen
Monopolaufschlag, der sich aus der Unvermehrbarkeit der Erdoberfläche ergibt.
Folglich dürften auch Mieten, Pachten und Hypotheken auf keinen Fall „vor dem
Kapitalismus gerettet“, sondern müssen schnellstens abgeschafft werden: indem der
Boden in Gemeineigentum überführt und seinen Nutzern unentgeltlich zur
Verfügung gestellt wird.)
Vom Arbeitsmarkt aus stoßen wir auf eine der Kernfragen der
linken Alternative zur kapitalistischen Warenwirtschaft: Wollen wir, dass die
Arbeitskraft auch in Zukunft eine Ware bleibt? Ich bin dafür, das so schnell
wie möglich zu überwinden. Sahra
schweigt sich dazu leider aus.
Ganz richtig macht sie als Quelle des explosionsartigen
Wachstums- und Wohlstandsschubs, den der Kapitalismus gegenüber früheren
Epochen hervor brachte, den technischen Fortschritt als „Innovationsmotor“ aus.
Und sie mahnt daher ein viel breiter ausgebautes Bildungssystem an, um unsere
kreativen, innovativen Potenzen besser auszuschöpfen. Gut.
Der technische Fortschritt hat jedoch im Kapitalismus einen
Januskopf. Einerseits dient er den Unternehmen im Wettbewerb zur Einsparung von
Arbeit, um ihre Produktionskosten und Marktpreise zu senken, und das verbilligt
auch unsere Lebenshaltung und erhöht unsere Kaufkraft. – Andrerseits bewirken
die technischen Umwälzungen gerade (Digitalisierung, Vernetzung der Produktion,
Business-on-demand, Industrie 4.0 usw.) eine Entwertung und
„Entprofessionalisierung“ der Arbeit, die Sahra zu Recht einen „klaren
Rückschritt“ nennt, weil dadurch der Mensch „einen wesentlichen Teil seiner
Selbstachtung verliert.“
Hinzu tritt – von Sahra leider nur gestreift – die aktuell
sich weiter zuspitzende Beschäftigungskrise, da nämlich der technische
Fortschritt mehr Arbeitskräfte freisetzt, als durch Erweiterung der Märkte neue
Arbeitsplätze entstehen (können). Bereits vor mehr als dreißig Jahren kam der
Soziologe Claus Offe empirisch zu dem Ergebnis: „Der technische Wandel wird zur
systemimmanenten Quelle von Arbeitslosigkeit.“ Das „Organisationsmodell
Arbeitsmarkt“ habe sich infolgedessen – nicht zuletzt aus ökologischen Gründen,
wie er damals schon erkannte – „historisch erschöpft“ und sei „untauglich
geworden“ (Claus Offe, Arbeitsgesellschaft – Strukturprobleme und
Zukunftsperspektiven, 1984).
Wenn wir also, auch nach meinen persönlichen Erfahrungen in
der industriellen Wirklichkeit, künftig die Konkurrenz der Arbeiter um Arbeit
und Löhne beenden wollen, setzt das eine ganz andere Eigentumsordnung voraus:
Die Arbeiter müssen dann selbst, nicht nur als „Garagenbastler“, sondern auch
in der Großindustrie über die Produktionsmittel verfügen – und den Unternehmern
muss es verwehrt sein, Gewinne aus dem Einsatz von Lohnarbeit sich privat
anzueignen.
Damit bin ich beim letzten Teil von Sahras Buch. Auch sie
hält es für notwendig, „Eigentum neu zu denken.“ Für die Zukunft schlägt sie
vier Unternehmenstypen vor, von denen nur der erste nach marktwirtschaftlichen
Prinzipien organisiert ist: Die von ihr so genannte „Personengesellschaft“, im
Privateigentum ihrer Inhaber/Investoren, mit voller Gewinnprivatisierung, aber
auch mit voller persönlicher Verlusthaftung und frei von jeglicher öffentlichen
Förderung.
Die nächste, schon gemeinwirtschaftliche Stufe ist die
„Mitarbeitergesellschaft“. Im unpersönlichen Kollektiveigentum der Belegschaft,
die auch gemeinsam über die Geschäftsstrategie entscheidet, die
Geschäftsführung bestimmt und kontrolliert. Im Unterschied von der
Genossenschaft sind hier die Eigentumsanteile nicht individuell, nicht
übertragbar, nicht ausschüttungsberechtigt und erlöschen mit dem Ausscheiden
aus dem Unternehmen. Als historische Beispiele verweist sie auf
Belegschaftsübernahmen, mit denen erfolgreich Betriebsschließungen verhindert
werden konnten.
Die dritte Form, für Großunternehmen gedacht, ist die „Öffentliche
Gesellschaft“, die gleichfalls „sich selbst gehört“, also weder den einzelnen
Mitarbeitern noch externen Kapitaleignern und auch nicht dem Staat. In ihrem
Aufsichtsrat sitzen neben den Belegschaftsvertretern je nach ihrer Bedeutung
für die kommunale, regionale und nationale Wirtschaft entsprechend Vertreter
der jeweiligen öffentlichen Ebene. Die Umwandlung bestehender Unternehmen in „Öffentliche
Gesellschaften“ soll durch Ablösung der ursprünglichen Kapitaleinlagen abzüglich
kassierter Dividenden aus den laufenden Erträgen erfolgen.
Schließlich als vierter Typus die „Gemeinwohlgesellschaft“,
ein nicht-kommerzielles Unternehmen, das für öffentliche Versorgungsbetriebe
aller Art in Frage kommt, auch nur „sich selbst gehört“ und unter öffentlicher
(nicht nur staatlicher) Kontrolle arbeitet.
In diese vierte Kategorie ordnet Sahra auch
„Gemeinwohlbanken“ ein, die sie anstelle der privaten Großbanken setzen will. Wobei
sie es aber jeder heute bestehenden Bank freistellen will, sich als
Gemeinwohlbank zu reorganisieren oder weiter am freien Markt zu agieren, dann
allerdings bei vollem privatem Risiko und ohne staatliche Absicherung. (Ihr
ganzes Kapitel zum Finanzsektor lasse ich hier weg, möchte aber betonen, dass
ich es insgesamt fundiert und überzeugend finde – bis hin zur Konsequenz, die
Euro-Währungsunion in der heutigen Form aufzulösen und durch nationale
Währungen mit festen, nach abgestimmten Regeln veränderbaren Wechselkursen zu
ersetzen, was ich nachdrücklich unterstütze, weil ich es für die wirksamste
Waffe gegen die Zerstörung der Demokratie und sich verschärfende nationalistische
Konfrontationen halte.)
Was Sahra hier ganz ausblendet, ist die Zukunft der Opfer arbeitsparender
Rationalisierung. Wer hilft den Arbeitslosen bei der Re-Integration ins
Arbeitsleben? Und wie? Ich werfe ihr nicht vor, dass sie hierzu nichts schreibt,
hat doch die LINKE ohnehin die öffentlich geförderte Beschäftigung sehr richtig
zu einem Schwerpunkt ihrer ganzen Arbeitspolitik gemacht. Seit den 80er Jahren
wissen wir, dass da weder der Ruf nach „echtem Wettbewerb“ weiter hilft noch
illusionäre (und zunehmend unverantwortliche) Hoffnungen auf neues
„Wirtschaftswachstum“ durch technologische Innovation. Hier geht es jetzt
weniger um neue Konzepte als vielmehr um die praktische Durchsetzung unserer
Politik.
Wenngleich Sahra es nicht ausspricht (um Wähler*innen aus
dem Mittelstand nicht zu verschrecken? Oder Teile der eigenen Partei?) haben
ihre Vorschläge zur Neuordnung des wirtschaftlichen Eigentums selbstredend
einschneidende Beschränkungen der unternehmerischen Freiheiten zur Folge. Es
liegt auf der Hand: In drei der vier von ihr vorgestellten Unternehmenstypen
ist die Arbeitskraft keine Ware mehr. An die Stelle der privatrechtlichen
individuellen (Arbeits-) Vertragsfreiheit tritt der Kollektivvertrag der
Gesamtbelegschaft, den der Einzelne beim Eintritt ins Unternehmen anerkennt.
Den Ertrag aus seiner Arbeit eignet sich kein Privateigentümer mehr an (auch
nicht er selbst!), sondern er kommt in voller Höhe dem ganzen Unternehmen und
darüber hinaus der Allgemeinheit zugute. Auch die Unternehmensstrategie, die
innerbetrieblichen Abläufe und das Betriebsklima werden sich grundlegend
verändern, wenn die Aufsicht nicht mehr bei Kapitalvertretern liegt, sondern
bei den Beschäftigten selbst und der demokratischen Öffentlichkeit.
Im unklaren lässt Sahra, ob die Inhaber-Kapitalisten ihrer „Personengesellschaften“
sich weiterhin an Lohnarbeit privat bereichern dürfen. Wenn ja, würde das auf
eine weitere Spaltung der Arbeiterklasse in selbstbestimmt-selbstverantwortlich
Arbeitende einerseits und fremdbestimmt-ausgebeutet-abhängig Beschäftigte
andrerseits hinauslaufen. Ich fände das höchstens für eine Übergangszeit mit
zunehmenden Einschränkungen annehmbar, zumal offen bleiben muss, wie viele
Unternehmer sich in Zukunft für diese Variante entscheiden würden.
Ich vermute, dass Sahra diesen Bruch in ihrer Konzeption
hingenommen hat, um die Verherrlichung des „echten“, vermeintlich „antimonopolistischen“
Wettbewerbs zu retten, die sich durch das ganze Buch zieht, aber wie gesehen
theoretisch und historisch ohnehin nicht überzeugt. Umso wichtiger ist mir am
Schluss ein Hinweis, der über den in diesem Buch abgesteckten Horizont hinausgeht:
Diese Konzeption des wirtschaftlichen Eigentums, die sich
vor allem auf gemeinwirtschaftliche Unternehmensformen stützt, führt auch
direkt an das Verhältnis von Unternehmensautonomie und gesamtgesellschaftlicher Planung
heran. Mit der Konsequenz, dass diese Unternehmen nicht mehr nur für den Markt arbeiten würden. Das
wäre eine bedeutende Einschränkung des „Wettbewerbs“ um Käufer, ein wesentlicher
Schritt über die kapitalistische Konkurrenz hinaus. Ein Schritt, an dem bislang
alle realsozialistischen wie die sozialdemokratischen Versuche in Europa
gescheitert sind. Aber wir müssen (!)
ihn über kurz oder lang gehen, daran führt kein Weg vorbei, weil die
kapitalistische Konkurrenz uns immer mehr in Chaos, Mord und Totschlag stürzt.
Dabei können Sahras Vorschläge uns nützen. Die aufgezeigten
Mängel, Inkonsequenzen und Brüche in Sahras Buch ändern nichts an meiner
Empfehlung: Ein anregender, im Wortsinn in die Zukunft weisender Band.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen