Donnerstag, 31. Januar 2019

Hartz IV diszipliniert vor allem Beschäftigte zum Lohnverzicht


Eine brandneue Untersuchung von Ökonomen der TU Dortmund und der Uni Bonn hat jetzt wissenschaftlich bestätigt, dass die Arbeitsmarkt-Reformen der Regierung Schröder/Fischer von 2003-2005 – vor allem „Hartz IV“- nicht in erster Linie auf die Arbeitslosen zielten, sondern eine allgemeine Absenkung des Lohnniveaus in Deutschland herbei führten:
„Insbesondere bei gut verdienenden und langfristig beschäftigten Arbeitnehmern entfaltet Hartz IV durch den Wegfall der Arbeitslosenhilfe eine abschreckende Wirkung“, erläutert Prof. Philip Jung von der TU Dortmund. „Diese Gruppe war bereit, nach der Reform Lohnverzicht zu üben, um im Gegenzug Beschäftigungsgarantien zu erhalten.“ 
Dies politisch gewollte Lohndumping wurde zum unfairen Wettbewerbsvorteil der deutschen Exportwirtschaft, um andere – besonders europäische – Konkurrenten vom Markt zu drängen.


Donnerstag, 24. Januar 2019

Ist die Nutzung des EU-Parlaments im Interesse der Bürger möglich?


Notizen zur strategischen Einordnung der Kandidatur der LINKEN zur "Europawahl"


Die Macher der EU verfolgen von Anfang bis heute ganz andere Motive und Ziele als die Mehrheit der europäischen Bürger*innen:

- Die Entstehung des europäischen Binnenmarkts lag zu allererst im Interesse der USA-Nachkriegspolitik. Die USA nutzten den Wiederaufbau der schwer kriegsgeschädigten Volkswirtschaften Europas, um ihre Konkurrenten mit Marshallplan, Bindung der Währungen an den US-Dollar, OECD und IWF in eine antikommunistische Allianz des Kalten Kriegs unter US-amerikanischer Führung zu drängen. Dabei ging es ihnen vor allem um eine enge Zusammenarbeit der Schwerindustrien (Rüstung, Atomprogramm), den Abbau von Handelshemmnissen und die Freizügigkeit von Kapital und Arbeitskräften. Also im wesentlichen um rein wirtschaftliche und weltmachtpolitische Ziele.

- Auch Frankreich war von Marshallplan-Hilfen abhängig und musste sich daher den US-Bedingungen fügen. Daneben aber, weil es seinen eigenen Weltmachtanspruch nun nicht mehr gegen den alten Erzfeind Deutschland durchsetzen konnte, entschied Frankreich sich, den deutschen Rivalen in ein europäisches Vertragssystem zu fesseln und die überlegene westdeutsche Wirtschaftsmacht über supranationale Institutionen zu kontrollieren.

- Die westdeutschen Eliten sahen im gemeinsamen Markt vor allem den goldenen Weg, sich möglichst schnell aus der Kriegsverliererposition zu befreien und wieder zur alten wirtschaftlichen Vorkriegsstärke aufzusteigen. Zudem konnten sie nur im europäisch-atlantischen Verbund wieder eine Militärmacht werden. Sie träumten sogar zehn Jahre lang vom Griff nach Atomwaffen.

Die hehren Ziele, mit denen man dem breiten Publikum erst die Montanunion und EURATOM, dann die EWG (Europäische Wirtschaftsgemeinschaft) und schließlich die WWU (Wirtschafts- und Währungsunion) mitsamt dem Euro schmackhaft machte, nämlich:
-die EU sei ein dauerhaftes Friedensbündnis,
-mit der Freizügigkeit würden Schritt für Schritt auch die Lebensverhältnisse und Sozialsysteme harmonisiert und verbessert,
-und der Wille der europäischen Völker solle sich in demokratischen Verfahren manifestieren,
diese Versprechungen blieben in all den hunderten Verträgen zwischen den Regierungen nur leere Lippenbekenntnisse ohne praktische Umsetzung.

Ganz im Gegenteil:
-Der Beitritt zur EU war von Anfang an direkt mit der NATO-Mitgliedschaft verknüpft. Als eine der ersten Vergemeinschaftungen sollte die Verteidigungsgemeinschaft entstehen. Sie scheiterte jedoch am französischen Souveränitätsanspruch, und bis heute können die Staaten sich nicht auf eine - besonders von Deutschland geforderte - "Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik" (GASP) einigen. Das hinderte sie aber im Einzelfall weder an Kriegs- und Bürgerkriegseinsätzen auf europäischem Boden (Nordirland, Baskenland, Jugoslawien) noch an Dutzenden Kriegszügen in Afrika und Nahost. Ein "Friedensbündnis"?

-Die neoliberale Wende seit den 70er Jahren hat nicht nur jeden Fortschritt zu einer gemeinsamen Sozialpolitik blockiert, sondern den Mitgliedsländern rigide Spar- und Privatisierungsprogramme aufgezwungen. Solange die angeblich unabhängige und unpolitische Europäische Zentralbank jeder Regierung den Geldhahn zudrehen kann, ist eine Politik, die sich an demokratischen und sozialen Prinzipien orientiert, ausgeschlossen. Die EU-Kommission hat zur Umsetzung der Strategie "Europa 2020" viele weitere Kompetenzen im Rahmen des so genannten "Europäischen Semesters" und der "Economic Governance" (TwoPack, SixPack) erhalten, um die Politik der Mitgliedstaaten zu überwachen und sogar zu sanktionieren. Hinzu kommt der Fiskalpakt, der durch völkerrechtlich verankerte Schuldenbremsen den finanziellen Handlungsraum der nationalen Politiken weiter einschränkt, und der ganz außerhalb der EU-Verträge vereinbart wurde.

-Damit einher ging ein z.T. brutaler Demokratieabbau in den einzelnen Mitgliedsstaaten. Aber auch die Institutionen und Verfahren der Union selbst sind in keiner Weise demokratisch legitimiert noch demokratisch strukturiert. Gerade das "Europaparlament" ist dafür ein krasses Beispiel. Es ist eigentlich gar kein Parlament im Sinne westlicher Demokratien. Zwar wird es von den Völkern der Mitgliedsländer seit 1979 direkt gewählt (wenngleich nach von Land zu Land verschiedenen Wahlverfahren), aber ihm fehlen wesentliche Rechte einer Volksvertretung (Entscheidungsmacht gegenüber der Exekutive, Initiativrecht zu Gesetzen und Verordnungen, Wahlrecht der EU-Funktionäre, Budgetrecht).

Wir Linken müssen uns also fragen, wie wir in diesem bürokratischen Monster EU ein solches Scheinparlament im Interesse der unteren Klassen ausnutzen können. Nur wenn es reale Ansatzpunkte dafür gibt, mithilfe der linken Parlamentsfraktion Gegenmacht aufbauen bzw. stärken zu können, nur dann dürften Linke sich da hinein wählen lassen.

Solange Linke und Gewerkschaften, ungeachtet der in eine völlig andere Richtung laufenden realen Entwicklungen, an ihrer "kritischen Zustimmung" zu dieser EU festhalten, blockieren sie sich selbst, eine wirksame Gegenposition zu entwickeln. Es bleibt zwar richtig, die Neugründung eines sozialen und demokratischen Europas von unten zu fordern, doch die Linke muss sich die Frage stellen, wie das durchgesetzt werden soll. Die autoritär-neoliberale Politik ist in den Verträgen der EU dermaßen fest verankert, dass sie nur in EU-weiten Aufständen zu ändern sein dürfte. Dennoch haben viele Linke nicht die gebotene nüchterne Analyse der realen Situation vorgenommen, sondern setzen schlicht auf das Prinzip Hoffnung.

Andrerseits bleibt die Propaganda für einen "Lexit" (Left Exit) - also einen Austritt aus der EU "nach links", mit der Perspektive eines radikalen Wandels der gesellschaftlichen Machtverhältnisse auf nationaler oder gar europäischer Ebene - hohles Geschwätz, solange unten an der Basis keine breite, an vielen Fronten auf dieselbe Veränderung gerichtete Bewegung wenigstens in Umrissen erkennbar wird. Linke Politik muss dazu beitragen, sie zu schaffen, zwischen europäischen, nationalen, regionalen und kommunalen Bewegungen Netzwerke der Solidarität und der Opposition gegen das autoritäre EU-Regime zu knüpfen und zu festigen. Dem hat unsere Arbeit in Parlamenten sich einzufügen, auch im Pseudoparlament der EU können wir dazu beitragen.

Allerdings hat sich am Thema Zuwanderung und "offene Grenzen" auch drastisch gezeigt, wie weit die linke Opposition selbst noch von einem konsistenten, mehrheitsfähigen Alternativprogramm zum EU-Regime entfernt ist. Immerhin wäre es sofort möglich und notwendig, sich auf wenige gemeinsame (!) Forderungen zu einigen. Dazu könnten gehören: der Stopp der Austeritätspolitik und die Auflösung der Troika, eine europäische Schuldenkonferenz sowie ein Investitionsprogramm gegen Massenerwerbslosigkeit, mehr Geld für Bildung, Gesundheitsversorgung und eine europäische Energiewende.
In Zeiten verstärkter Binnenmarktwanderung und sozialer Katastrophen an der EU-Peripherie sind praktische Vorschläge einer Sozialunion vonnöten, etwa eine innereuropäische Übertragbarkeit von nationalen Renten- und Arbeitslosengeldansprüchen, die Einführung einer sozialen Basissicherung, eine europaweite Krankenversicherungspflicht, die armutsfeste Vereinheitlichung der nationalen Mindestlöhne auf 64 % der jeweiligen nationalen Durchschnittslöhne (wie sie derzeit in Portugal und Slowenien gelten; Frankreich kommt auf 62 %, das reiche Deutschland nur auf 48 %!).
Zum Investitionsprogramm: Die griechische Wirtschaft z.B. hat durchaus Wachstumspotentiale, aber die dafür notwendigen Investitionen können gegenwärtig kaum im Inland aufgebracht werden, und am Kapitalmarkt muss Griechenland hohe Risikoprämien zahlen. Deshalb kommt dem europäischen Investitionsplan eine zentrale Bedeutung zu.

Den Start könnte eine Kampagne für eine europäische Bürgerinitiative legen, die drei Kernziele umfasst: ein Ende der Kürzungspolitiken und Privatisierungen, eine Besteuerung der Reichen mit einer europäischen Vermögensabgabe, Investitionen in eine europaweite soziale Infrastruktur (Gesundheit, Bildung, Wohnen, Energie) und in eine europäische Energiewende. Oder auch eine soziale Mindestsicherung, garantierte Arbeits- und Tarifrechte, eine solidarische Flüchtlingspolitik.

Alban Werner schlug vor, dass die anti-neoliberale Linke EU-weit zu einem nicht staatlich autorisierten Referendum aufruft. Die Entscheidungsalternative wäre:
a) Es soll weitergehen wie bisher mit dem sozial-ökonomischen Kurs innerhalb der EU, ohne zusätzliche demokratische Einwirkungsmöglichkeiten der Bürger*innen, oder
b) Es soll in der EU einen prinzipiellen Kurswechsel geben hin zu einem sozial-ökologischen »Marshallplan« für Europa, der gute Arbeit für alle schafft, öffentliche Infrastrukturen stärkt sowie ausgebaute demokratische Mitwirkungsrechte für die Bürger*innen sowie ein entscheidungsmächtiges Parlament vorsieht. Wo die geltenden EU-Verträge dem entgegenstehen, sind sie zu ändern.

Europa ist in Aufruhr. Überall auf dem Kontinent protestieren Menschen gegen eine Politik, die Armut und Ungleichheit verschärft und die Demokratie missachtet. Sie fordern eine andere Antwort auf die Krise, ein soziales Europa und wehren sich gegen die Arroganz der Macht. An den linken Fraktionen ist es, diesem Aufruhr auch eine parlamentarische Stimme zu geben. Das kann durchaus Gegenmacht von unten stärken - ohne schädliche linksliberale Illusionen zu erzeugen.

Wolf Stammnitz
Dortmund







Donnerstag, 3. Januar 2019

Auszug aus: Die Linke und die "Open Borders" Von Angela Nagle | editiert auf Makroskop 04.12.2018

Einst beschränkte sich die Rede von „offenen Grenzen“ auf radikale marktwirtschaftliche Think Tanks und libertäre anarchistische Kreise. Nun ist sie integraler Bestandteil des liberalen Diskurses und führt die Linke in eine existenzielle Krise.
Heute ist die mit Abstand sichtbarste Anti-Globalisierungsbewegung die Anti-Migrationspolitik unter Donald Trump und anderen "Populisten". Die Linke scheint unterdessen keine andere Wahl zu haben, als sich vor Entsetzen über Trump und Nachrichtenberichte über die Jagd auf Migranten durch die Polizei- und Zollbehörden zurückzuziehen; sie kann nur gegen das reagieren, was Trump tut. Wenn Trump für Einwanderungskontrollen ist, dann wird die Linke das Gegenteil fordern.
Seitdem ist die Rede von "offenen Grenzen" in den liberalen Diskurs eingetreten. Während keine ernstzunehmende politische Partei der Linken konkrete Vorschläge für eine wirklich grenzenlose Gesellschaft macht, hat sie sich, indem sie die moralischen Argumente der No-Border-Linken und die wirtschaftlichen Argumente der marktwirtschaftlichen Think Tanks aufgreift, selbst in die Ecke gedrängt. Wenn "kein Mensch illegal ist", impliziert das, dass Grenzen oder souveräne Nationen keine moralische Legitimität mehr haben.

Nützliche Idioten

Offene Grenzen sind seit langem ein Ruf der Wirtschaft nach der "freien Marktwirtschaft". Ausgehend von neoklassischen Ökonomen haben sich diese Gruppen für eine Liberalisierung der Migration aus Gründen der Marktrationalität und wirtschaftlichen Freiheit ausgesprochen. Sie lehnen Migrationsbegrenzungen aus dem gleichen Grund ab wie sie Beschränkungen des Kapitalverkehrs ablehnen.

Dass offene Grenzen zu einer "linken" Position geworden sind, ist ein ganz neues Phänomen und steht in grundlegender Weise im Widerspruch zur Geschichte der organisierten Linken. Karl Marx' Position zur Einwanderung würde ihn heute in der modernen Linken zur Persona non grata machen. Obwohl Migration in der heutigen Geschwindigkeit und Größenordnung zu Marx' Zeiten undenkbar gewesen wäre, sah er die Auswirkungen der Migration im 19. Jahrhundert sehr kritisch. In einem Brief an zwei amerikanische Reisegefährten argumentierte Marx, dass die Einfuhr von irischen Einwanderern nach England sie in einen feindlichen Wettbewerb mit englischen Arbeitern zwang. Er sah es als Teil eines Systems der Ausbeutung, das die Arbeiterklasse spaltete und eine Erweiterung des kolonialen Systems darstellte.

Angesichts der obszönen Bilder von Billiglohn-Migranten, die von den Behörden als Kriminelle verfolgt werden, andere im Mittelmeer ertrinken, und des besorgniserregenden Anstiegs der Stimmung gegen Immigranten auf der ganzen Welt, ist es leicht zu verstehen, warum die Linke illegale Migranten davor bewahren will, zur Zielscheibe werden. Und das sollte sie auch! Aber auf der Grundlage des richtigen moralischen Impulses zur Verteidigung der Menschenwürde von Migranten, hat die Linke schließlich die Frontlinie zu weit nach vorne verlegt und das ausbeuterische System der Migration selbst wirksam mitverteidigt. Mit der Übernahme der Forderung nach "offenen Grenzen" – und einem moralischen Absolutismus, der jede Begrenzung der Migration als unsägliches Übel betrachtet – wird jede Kritik am ausbeuterischen System der Massenmigration effektiv als Blasphemie abgetan.

Die richtige Antwort ist daher nicht der abstrakte Moralismus, alle Migranten in einem imaginären Akt der Nächstenliebe willkommen zu heißen. Sondern die Ursachen der Migration im Verhältnis zwischen großen und mächtigen Volkswirtschaften und den kleineren oder sich entwickelnden Volkswirtschaften, aus denen Menschen migrieren, anzugehen. Laut den Zahlen des Census Bureau für 2017 sind etwa 45 Prozent der Migranten, die seit 2010 in den Vereinigten Staaten angekommen sind, Hochschulabsolventen. Die Entwicklungsländer kämpfen darum, ihre qualifizierten Staatsbürger zu halten, die oft zu hohen öffentlichen Kosten ausgebildet werden.

Die Gesellschaften radikal verändernde Massenmigration ist auf der ganzen Welt bei der Mehrheit der Menschen unbeliebt. Und die Menschen, bei denen sie unbeliebt ist, haben ein Wahlrecht. So stellt die Migration zunehmend eine für die Demokratie grundlegende Krise dar. Jede politische Partei, die regieren will, muss entweder den Willen des Volkes akzeptieren, oder sie muss den Dissens unterdrücken, um die Agenda der offenen Grenzen durchzusetzen. Viele Mitglieder der libertären Linken gehören zu den aggressivsten Befürwortern der letzteren Methode.
Die Migrationsexpansionisten haben so zwei Schlüsselwaffen. Eine davon sind die großen Geschäfts- und Finanzinteressen. Die andere, die von den linksgerichteten Einwanderungsbefürwortern fachkundig eingesetzte moralische Erpressung und öffentliche Scham.

So wird ein Produkt des Big Business und der Lobbyarbeit für den freien Markt von einer größeren Gruppe der urbanen Kreativ-, Technologie-, Medien- und Wissenswirtschaftsklasse mitgetragen. Sie dient dabei ihren eigenen objektiven Klasseninteressen, indem sie ihren kurzlebigen Lebensstil billig und ihre Karriere intakt hält, während sie die institutionalisierte Ideologie ihrer Industrien nachahmt.
Doch die Wahrheit ist, dass es sich bei der Massenmigration um eine Tragödie handelt. Und deren Moralisierung durch die obere Mittelschicht ist eine Farce.

Indem sie die Geschäftsinteressen der herrschenden Elite stützt, riskiert die Linke eine schwere existenzielle Krise und treibt immer mehr gewöhnliche Menschen in die Arme rechtsextremer Parteien. In diesem Moment der Krise ist der Einsatz zu hoch, um erneut zu versagen.


Dieser Artikel erschien ursprünglich in englischer Sprache in American Affairs Band II, Nummer 4 (Winter 2018): 17-30.