Dienstag, 30. August 2016

Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph Stiglitz zur Zukunft des EURO: "Durchwursteln wird nicht funktionieren."

Heute erhielt ich die folgende email von der Initiative Eurexit:

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph Stiglitz hat ein neues Buch veröffentlicht:
"The Euro And Its Threat to the Future Of Europe"

Er macht darin eine scharfe Abrechnung mit dem EURO und seine ökonomischen, sozialen Auswirkungen und mit den Folgen für die Demokratie.
Obwohl Stiglitz sich auch in diesem Buch wieder als leidenschaftlicher Befürworter der europäischen Integration outet, kommt er zu dem Schluss:
"A common currency is threatening the future of Europe.
Muddling through will not work. And the European project is too important to be sacrificed on the cross of the euro. Europe—the world—deserves better."
Theoretisch wäre für Stiglitz die beste Alternative ein qualitativer Sprung bei der Vertiefung der Integration und die Schaffung der ökonomischen und institutionellen Rahmenbedingungen, die die Währung funktionstüchtig machen würde.
Allerdings sieht Stiglitz, dass das unrealistisch ist. Deshalb schlägt er vor:

a.) die Möglichkeit eines konzertierten Ausscheidens eines Landes oder mehrerer aus dem EURO. Er nennt das eine „ einvernehmlich Scheidung" (amicable divorce). Er spielt dabei am Beispiel Griechenlands durch (Verschuldung, Handelsbilanz etc.) wie dies zu Kosten geschehen könnte, die geringer sind als der weitere Verbleib im EURO.

b.) eine Flexibilisierung des Währungssystems, bei dem Wechselkursschwankungen in einem bestimmten Korridor ermöglicht werden. In seinem ökonomischen Kern kommt dies dem Vorschlag eines renovierten EWS nahe, wie er auch in unserem Aufruf „EINE ALTERNATIVE ZUM EURO" thematisiert wird.

Das Buch gibt es vorerst nur auf Englisch, Penguin Books, 19,99 € und kann online bestellt werden u.a. über:
http://www.thalia.de/shop/home/suggestartikel/ID43966731.html?sswg=BUCH&sq=The%20Euro

Gruß
Peter Wahl

Dienstag, 23. August 2016

Was Merkel nicht schafft und „wir“ nur ganz anders schaffen können


Ende Juli wurde Sahra Wagenknecht, Co-Vorsitzende der LINKEN-Bundestagsfraktion, von Partei“freunden“ öffentlich an den Pranger gestellt – wer solche Freunde hat, braucht keine Feinde! – weil sie sich unterstanden hatte, im Zusammenhang mit den islamistisch motivierten Terroranschlägen in Würzburg und Ansbach auf die „erheblichen Probleme“ hinzuweisen, über die das Kanzlerinnenwort „Wir schaffen das“ leichtfertig hinweg redet. Sahras Fraktionskollege Jan van Aken hielt ihre Mahnung für eine Merkel-Kritik „von rechts“ und forderte indirekt ihre Ablösung von der Fraktionsspitze, andere warfen ihr vor, sie stelle damit alle Flüchtlinge unter Generalverdacht und bediene AfD-Hetze.

Ich stellte mich damals uneingeschränkt auf Sahras Seite. Mit einigem zeitlichen Abstand halte ich den Aufschrei der Empörung über ihren Warnhinweis heute immer noch zum Teil für scheinheilig, mindestens aber für naiv bis ignorant. Die personalisierte Kampagne „Sahra es reicht“ hinterließ bei mir den Eindruck, dass wichtige Teile der LINKEN den Ernst der Lage, in die der „Westen“ durch die Ausplünderung und Zerstörung des globalen Südens hineingestolpert ist, bewußt ausblenden, um sich kurzsichtig auf aktuelle innenpolitische Tagesscharmützel zu konzentrieren, statt eine Politik für das 21. Jahrhundert in den Blick zu nehmen, wie es sich für Linke gehören würde.

Damit nicht auch mich sogleich der empörte Aufschrei trifft, schicke ich voraus: Selbstverständlich ist jeder verallgemeinernde Schluss von einzelnen Individuen auf „die“ Flüchtlinge, „die“ Muslime usw. absolut abwegig und unzulässig. Es sind ja diese Verallgemeinerungen, aus denen sich die populistische und faschistische Hetze speist. Ihnen muss die Linke selbstverständlich energisch und unmissverständlich entgegen treten.

Umgekehrt wird es, von ein paar Wirrköpfen abgesehen, wohl kaum Linke geben, die die Gefahr abstreiten, dass unter den Flüchtlingsmassen versteckt auch einzelne Fanatiker eingeschleust werden, um hier Verbrechen zu begehen, oder die Gefahr, dass Einzelne in den Flüchtlingsunterkünften islamistischer Agitation auf den Leim gehen. Es darf daher nicht als Rassismus oder Populismus verteufelt werden, wenn Linke eine genaue – aber menschenrechtskonforme! – Kontrolle an den Grenzen und in den Flüchtlingsunterkünften fordern. Allein das stellt den Staat und auch uns Linke vor „erhebliche Probleme“.

Doch über diese tagespolitische Ebene hinaus sind die Flüchtlingsströme von heute nur Vorboten der eigentlichen Probleme des 21. Jahrhunderts. Probleme, die vor allem von den reichen Mächten des Westens erzeugt wurden und die so, wie diese Mächte heute in der Welt agieren, mit Marktdominanz, Rohstoffkriegen, globalen Rechtsbrüchen und Regime-change-Interventionen von Tag zu Tag unlösbarer werden.

Schon zur Jahrtausendwende hatte der englische Geschichtswissenschaftler Eric Hobsbawm dem neuen Jahrhundert drei zentrale Probleme vorhergesagt:
-       Wenn die explosionsartige Vermehrung der Erdbevölkerung (1950: 3 Milliarden Menschen – 2000: 6 Milliarden – 2030 nach UNO-Prognose: 10 Milliarden – …?) bei exponentiell zunehmender Ungleichheit der Lebensbedingungen innerhalb und zwischen den reichen und armen Weltregionen sich fortsetzt, wird sie einen Wanderungsdruck auf die reichen Länder erzeugen, der mit demokratischen und marktwirtschaftlichen Mitteln nicht mehr beherrschbar sein wird.
-       Hinzu kommt, dass Umweltzerstörung und Klimawandel ganze Landstriche unbewohnbar machen und ganze Völkerschaften aus ihren angestammten Gebieten vertreiben.
-       Noch verschärft wird der Druck auf die reichen Länder durch die daraus unvermeidlich folgenden gewaltsamen Konflikte um Ressourcen und Lebensräume.

In dieser – überwiegend vom Westen selbst verschuldeten – Zwangslage sieht Hobsbawm die reichen Staaten vor die Alternative gestellt, entweder ihre Grenzen radikal abzudichten oder (und) ausgewählte Zuwanderergruppen z.B. als billige Arbeitskräfte, auf Zeit und nur mit eingeschränkten Bürgerrechten aufzunehmen, sozusagen als Parias des Westens, was einem Apartheidsregime gleich kommt. Beide Wege würden den zivilisatorischen Grundkonsens in und zwischen den westlichen Gesellschaften zerreißen.

Wie Hobsbawm klar erkannte, können wir dieser Entwicklung nicht entgehen, solange wir an unserem herkömmlichen Politik- und Wirtschaftssystem festhalten – im Gegenteil verursacht und beschleunigt es diese Entwicklung. Hobsbawm hielt – vor bald schon zwanzig Jahren – eines für „völlig unbestreitbar“: Ein Ausgleich der Ungleichgewichte zwischen reichen und armen Ländern „wäre unvereinbar mit einer Weltwirtschaft, die auf dem unbegrenzten Profitstreben von Wirtschaftsunternehmen beruht, welche ja per definitionem diesem Ziel verpflichtet sind und die darum auf einem freien Weltmarkt konkurrieren… Wenn die Menschheit eine Zukunft haben soll, kann der Kapitalismus (…) keine haben.“ (Das Zeitalter der Extreme, S.703) An anderer Stelle schrieb er (2009): „Soweit ich weiß, gibt es keine Gesellschaft ohne den Begriff der Ungerechtigkeit. Und daher soll es auch keine geben, in der man sich nicht mehr gegen sie auflehnt.“

Es kann Linke nicht verwundern, dass die Bundeskanzlerin über die beschriebenen Folgen (auch) ihrer Politik leichtfertig hinweg redet. In diesem Licht besehen, war Sahra’s Einspruch dagegen nicht nur vollauf gerechtfertigt, sondern müsste allen Linken zu denken geben: Wir stehen tatsächlich vor „erheblichen Problemen“, und die können wir nur gegen Merkel u.Co lösen.

Mittwoch, 17. August 2016

Notizen aus der Provinzhauptstadt: Mit Sigmar Gabriel den „Strukturwandel“ feiern heißt: Alles bestens, weiter so.



Zeitgleich mit dem Besuch des Bundeswirtschaftsministers Sigmar Gabriel im Technologiezentrum, dem Flaggschiff des „Strukturwandels“ in Dortmund, berichteten die in Dortmund erscheinenden RuhrNachrichten von vier einschneidenden Deformationen des Sozialstaats, selbstverständlich ohne jeden Bezug auf den hohen Gast und den Anlass seines Besuchs:
1.    Minijobs und prekäre Arbeit können nicht mehr verdecken, dass die Arbeitslosigkeit weiter zunimmt.
2.    Die Zusatzbeiträge zur Krankenversicherung werden sich in den nächsten fünf Jahren durchschnittlich von 22 auf 55 Euro monatlich mehr als verdoppeln.
3.    In den Großstädten wie Dortmund fehlen immer dringender Sozialwohnungen.
4.    In NRW sind immer mehr Menschen obdachlos.

Jeder dieser vier Trends folgt aus jeweils eigenen spezifischen Ursachen, keine Frage. Dass der massenhafte Zuzug von Geflüchteten auch auf den Arbeitsmarkt drückt, wird niemand bestreiten wollen. Der Zusammenhang der explodierenden Kassenbeiträge für die Versicherten mit dem medizinischen Fortschritt und der steigenden Lebenserwartung leuchtet ein. Dass die Bundesregierung sich total aus der Wohnungsbaufinanzierung zurückgezogen hat, musste absehbar zu Wohnungsnot im unteren Segment führen und war ein großer Fehler, der nun hoffentlich schnell korrigiert wird. Steigende Obdachlosenzahlen mit der Verarmung zunehmender Teile unserer Gesellschaft in Verbindung zu bringen, erfordert auch nicht viel Denkarbeit.

Alles einleuchtend. Wo „Struktur gewandelt“ wird, gibt es eben auch unschöne Begleiterscheinungen. Alles nicht so tragisch, denn die Erklärungen liefern schon die Abhilfe? Gemeinsam ist allen solchen Erklärungen: Sie ermöglichen bestenfalls ein hilfloses Herumdoktern am einzelnen Symptom. Während eine Etage höher, auf gesellschaftlicher Ebene, fröhlich mit dem Minister weiter der „Strukturwandel“ gefeiert werden kann. Von der Industrie- zur „Dienstleistungsgesellschaft“, von dieser zur „Wissensgesellschaft“, und wie die Nebelwolken alle heißen.

Was sie vernebeln, ist der Zusammenhang zwischen den zitierten Meldungen und der tatsächlichen Struktur unserer Gesellschaft. Ihre Spaltung von Grund auf in die wirtschaftlich bestimmende Minderheit und die von ihr abhängige ( mehr und mehr abgehängte) Mehrheit. Solange wir diese Struktur nicht „wandeln“ – und das geht logischerweise nur von unten – werden ihre Folgen weiter eskalieren.

Sonntag, 7. August 2016

Unsere Arbeit vor der Entwertung retten!


2.Teil der Kritik zu Sahra Wagenknechts Buch "Reichtum ohne Gier"

Im ersten Teil meiner Urlaubslektüre von Sahra Wagenknechts „Reichtum ohne Gier“ hatte ich ihr angekreidet, dass sie die Quelle kapitalistischer Unternehmensgewinne falsch bestimmt. Das ist keine akademische Rechthaberei, sondern hat weit reichende Konsequenzen für die Einkommensverteilung in der Gesellschaft, die Arbeit und den Umgang der Menschen miteinander.

Der Mehrwert (nach Karl Marx) entsteht nicht „qua Naturgesetz“, wie Sahra richtig bemerkt, aber auch nicht durch Ausschaltung des Wettbewerbs, wie sie stattdessen behauptet, sondern ganz reell aus dem Funktionsprinzip des Warenaustauschs, dass die Waren im Durchschnitt zu ihrem Wert getauscht werden, das heißt (verkürzt ausgedrückt:) zu ihren Herstellungskosten, egal wie der Käufer sie dann vernutzt. So auch die menschliche Arbeitskraft, soweit sie auf dem Arbeitsmarkt gehandelt wird. Diese hat aber gegenüber allen anderen Waren den einzigartigen Vorzug, dass sie mehr Werte produzieren kann, als sie selbst zu ihrer Herstellung und Erhaltung verbraucht, und genau diesen Vorzug nutzt ihr kapitalistischer Käufer, indem er sie als ihr rechtmäßiger Eigentümer-auf-Zeit mit tausend Methoden dazu bringt, mehr zu schaffen, als sie ihn für diese Zeit gekostet hat. (Ich weiß nach meinem Arbeitsleben, wovon ich da rede.)

Der Kapitalismus hat also die „Marktwirtschaft“ erst vervollständigt und allumfassend verallgemeinert, indem er erstmals in der Geschichte auch die Arbeitskraft in eine Ware verwandelt hat, weil die Arbeiter nun in Ermangelung eigener Produktionsmittel gezwungen sind, ihren Lebensunterhalt durch Verkauf ihres Arbeitsvermögens an einen Produktionsmittelbesitzer zu verdienen. Und nur zu dieser Bedingung, dass die wertschaffende Arbeit selbst in den Wettbewerb einbezogen wird, ist der ganze Marktkreislauf erst vollständig und funktionsfähig. (Denn wie könnte der Arbeiter seinerseits die zu seiner Reproduktion notwendigen Waren kaufen, wenn er nicht vorher für seine Arbeit marktgerecht entlohnt worden wäre.) Das heißt, zum Marktwirtschaftssystem gehört die Existenz des Arbeitsmarktes, auf dem die Arbeiter gegeneinander um Arbeit und Lohn konkurrieren, unverzichtbar dazu. Mit all den katastrophalen Folgen, unter denen die Arbeiterklasse zu leiden hat, seit und solange es den Kapitalismus gibt.

(Übrigens vollzog sich dieselbe Verallgemeinerung auch in Bezug auf das Grundeigentum, das ebenfalls erst im und durch den Kapitalismus zur Ware gemacht und in die Produktionskosten aller anderen Waren einbezogen wurde. Allerdings handelt es sich hierbei tatsächlich um einen reinen Monopolaufschlag, der sich aus der Unvermehrbarkeit der Erdoberfläche ergibt. Folglich dürften auch Mieten, Pachten und Hypotheken auf keinen Fall „vor dem Kapitalismus gerettet“, sondern müssen schnellstens abgeschafft werden: indem der Boden in Gemeineigentum überführt und seinen Nutzern unentgeltlich zur Verfügung gestellt wird.)

Vom Arbeitsmarkt aus stoßen wir auf eine der Kernfragen der linken Alternative zur kapitalistischen Warenwirtschaft: Wollen wir, dass die Arbeitskraft auch in Zukunft eine Ware bleibt? Ich bin dafür, das so schnell wie möglich zu  überwinden. Sahra schweigt sich dazu leider aus.

Ganz richtig macht sie als Quelle des explosionsartigen Wachstums- und Wohlstandsschubs, den der Kapitalismus gegenüber früheren Epochen hervor brachte, den technischen Fortschritt als „Innovationsmotor“ aus. Und sie mahnt daher ein viel breiter ausgebautes Bildungssystem an, um unsere kreativen, innovativen Potenzen besser auszuschöpfen. Gut.

Der technische Fortschritt hat jedoch im Kapitalismus einen Januskopf. Einerseits dient er den Unternehmen im Wettbewerb zur Einsparung von Arbeit, um ihre Produktionskosten und Marktpreise zu senken, und das verbilligt auch unsere Lebenshaltung und erhöht unsere Kaufkraft. – Andrerseits bewirken die technischen Umwälzungen gerade (Digitalisierung, Vernetzung der Produktion, Business-on-demand, Industrie 4.0 usw.) eine Entwertung und „Entprofessionalisierung“ der Arbeit, die Sahra zu Recht einen „klaren Rückschritt“ nennt, weil dadurch der Mensch „einen wesentlichen Teil seiner Selbstachtung verliert.“

Hinzu tritt – von Sahra leider nur gestreift – die aktuell sich weiter zuspitzende Beschäftigungskrise, da nämlich der technische Fortschritt mehr Arbeitskräfte freisetzt, als durch Erweiterung der Märkte neue Arbeitsplätze entstehen (können). Bereits vor mehr als dreißig Jahren kam der Soziologe Claus Offe empirisch zu dem Ergebnis: „Der technische Wandel wird zur systemimmanenten Quelle von Arbeitslosigkeit.“ Das „Organisationsmodell Arbeitsmarkt“ habe sich infolgedessen – nicht zuletzt aus ökologischen Gründen, wie er damals schon erkannte – „historisch erschöpft“ und sei „untauglich geworden“ (Claus Offe, Arbeitsgesellschaft – Strukturprobleme und Zukunftsperspektiven, 1984).

Wenn wir also, auch nach meinen persönlichen Erfahrungen in der industriellen Wirklichkeit, künftig die Konkurrenz der Arbeiter um Arbeit und Löhne beenden wollen, setzt das eine ganz andere Eigentumsordnung voraus: Die Arbeiter müssen dann selbst, nicht nur als „Garagenbastler“, sondern auch in der Großindustrie über die Produktionsmittel verfügen – und den Unternehmern muss es verwehrt sein, Gewinne aus dem Einsatz von Lohnarbeit sich privat anzueignen.

Damit bin ich beim letzten Teil von Sahras Buch. Auch sie hält es für notwendig, „Eigentum neu zu denken.“ Für die Zukunft schlägt sie vier Unternehmenstypen vor, von denen nur der erste nach marktwirtschaftlichen Prinzipien organisiert ist: Die von ihr so genannte „Personengesellschaft“, im Privateigentum ihrer Inhaber/Investoren, mit voller Gewinnprivatisierung, aber auch mit voller persönlicher Verlusthaftung und frei von jeglicher öffentlichen Förderung.

Die nächste, schon gemeinwirtschaftliche Stufe ist die „Mitarbeitergesellschaft“. Im unpersönlichen Kollektiveigentum der Belegschaft, die auch gemeinsam über die Geschäftsstrategie entscheidet, die Geschäftsführung bestimmt und kontrolliert. Im Unterschied von der Genossenschaft sind hier die Eigentumsanteile nicht individuell, nicht übertragbar, nicht ausschüttungsberechtigt und erlöschen mit dem Ausscheiden aus dem Unternehmen. Als historische Beispiele verweist sie auf Belegschaftsübernahmen, mit denen erfolgreich Betriebsschließungen verhindert werden konnten.

Die dritte Form, für Großunternehmen gedacht, ist die „Öffentliche Gesellschaft“, die gleichfalls „sich selbst gehört“, also weder den einzelnen Mitarbeitern noch externen Kapitaleignern und auch nicht dem Staat. In ihrem Aufsichtsrat sitzen neben den Belegschaftsvertretern je nach ihrer Bedeutung für die kommunale, regionale und nationale Wirtschaft entsprechend Vertreter der jeweiligen öffentlichen Ebene. Die Umwandlung bestehender Unternehmen in „Öffentliche Gesellschaften“ soll durch Ablösung der ursprünglichen Kapitaleinlagen abzüglich kassierter Dividenden aus den laufenden Erträgen erfolgen.

Schließlich als vierter Typus die „Gemeinwohlgesellschaft“, ein nicht-kommerzielles Unternehmen, das für öffentliche Versorgungsbetriebe aller Art in Frage kommt, auch nur „sich selbst gehört“ und unter öffentlicher (nicht nur staatlicher) Kontrolle arbeitet.

In diese vierte Kategorie ordnet Sahra auch „Gemeinwohlbanken“ ein, die sie anstelle der privaten Großbanken setzen will. Wobei sie es aber jeder heute bestehenden Bank freistellen will, sich als Gemeinwohlbank zu reorganisieren oder weiter am freien Markt zu agieren, dann allerdings bei vollem privatem Risiko und ohne staatliche Absicherung. (Ihr ganzes Kapitel zum Finanzsektor lasse ich hier weg, möchte aber betonen, dass ich es insgesamt fundiert und überzeugend finde – bis hin zur Konsequenz, die Euro-Währungsunion in der heutigen Form aufzulösen und durch nationale Währungen mit festen, nach abgestimmten Regeln veränderbaren Wechselkursen zu ersetzen, was ich nachdrücklich unterstütze, weil ich es für die wirksamste Waffe gegen die Zerstörung der Demokratie und sich verschärfende nationalistische Konfrontationen halte.)

Was Sahra hier ganz ausblendet, ist die Zukunft der Opfer arbeitsparender Rationalisierung. Wer hilft den Arbeitslosen bei der Re-Integration ins Arbeitsleben? Und wie? Ich werfe ihr nicht vor, dass sie hierzu nichts schreibt, hat doch die LINKE ohnehin die öffentlich geförderte Beschäftigung sehr richtig zu einem Schwerpunkt ihrer ganzen Arbeitspolitik gemacht. Seit den 80er Jahren wissen wir, dass da weder der Ruf nach „echtem Wettbewerb“ weiter hilft noch illusionäre (und zunehmend unverantwortliche) Hoffnungen auf neues „Wirtschaftswachstum“ durch technologische Innovation. Hier geht es jetzt weniger um neue Konzepte als vielmehr um die praktische Durchsetzung unserer Politik.

Wenngleich Sahra es nicht ausspricht (um Wähler*innen aus dem Mittelstand nicht zu verschrecken? Oder Teile der eigenen Partei?) haben ihre Vorschläge zur Neuordnung des wirtschaftlichen Eigentums selbstredend einschneidende Beschränkungen der unternehmerischen Freiheiten zur Folge. Es liegt auf der Hand: In drei der vier von ihr vorgestellten Unternehmenstypen ist die Arbeitskraft keine Ware mehr. An die Stelle der privatrechtlichen individuellen (Arbeits-) Vertragsfreiheit tritt der Kollektivvertrag der Gesamtbelegschaft, den der Einzelne beim Eintritt ins Unternehmen anerkennt. Den Ertrag aus seiner Arbeit eignet sich kein Privateigentümer mehr an (auch nicht er selbst!), sondern er kommt in voller Höhe dem ganzen Unternehmen und darüber hinaus der Allgemeinheit zugute. Auch die Unternehmensstrategie, die innerbetrieblichen Abläufe und das Betriebsklima werden sich grundlegend verändern, wenn die Aufsicht nicht mehr bei Kapitalvertretern liegt, sondern bei den Beschäftigten selbst und der demokratischen Öffentlichkeit.

Im unklaren lässt Sahra, ob die Inhaber-Kapitalisten ihrer „Personengesellschaften“ sich weiterhin an Lohnarbeit privat bereichern dürfen. Wenn ja, würde das auf eine weitere Spaltung der Arbeiterklasse in selbstbestimmt-selbstverantwortlich Arbeitende einerseits und fremdbestimmt-ausgebeutet-abhängig Beschäftigte andrerseits hinauslaufen. Ich fände das höchstens für eine Übergangszeit mit zunehmenden Einschränkungen annehmbar, zumal offen bleiben muss, wie viele Unternehmer sich in Zukunft für diese Variante entscheiden würden.

Ich vermute, dass Sahra diesen Bruch in ihrer Konzeption hingenommen hat, um die Verherrlichung des „echten“, vermeintlich „antimonopolistischen“ Wettbewerbs zu retten, die sich durch das ganze Buch zieht, aber wie gesehen theoretisch und historisch ohnehin nicht überzeugt. Umso wichtiger ist mir am Schluss ein Hinweis, der über den in diesem Buch abgesteckten Horizont hinausgeht:

Diese Konzeption des wirtschaftlichen Eigentums, die sich vor allem auf gemeinwirtschaftliche Unternehmensformen stützt, führt auch direkt an das Verhältnis von Unternehmensautonomie und gesamtgesellschaftlicher Planung heran. Mit der Konsequenz, dass diese Unternehmen nicht mehr nur für den Markt arbeiten würden. Das wäre eine bedeutende Einschränkung des „Wettbewerbs“ um Käufer, ein wesentlicher Schritt über die kapitalistische Konkurrenz hinaus. Ein Schritt, an dem bislang alle realsozialistischen wie die sozialdemokratischen Versuche in Europa gescheitert sind. Aber wir müssen (!) ihn über kurz oder lang gehen, daran führt kein Weg vorbei, weil die kapitalistische Konkurrenz uns immer mehr in Chaos, Mord und Totschlag stürzt.

Dabei können Sahras Vorschläge uns nützen. Die aufgezeigten Mängel, Inkonsequenzen und Brüche in Sahras Buch ändern nichts an meiner Empfehlung: Ein anregender, im Wortsinn in die Zukunft weisender Band.