Notizen zur
strategischen Einordnung der Kandidatur der LINKEN zur "Europawahl"
Die Macher der EU verfolgen von Anfang bis heute ganz andere
Motive und Ziele als die Mehrheit der europäischen Bürger*innen:
- Die Entstehung des europäischen Binnenmarkts lag zu
allererst im Interesse der USA-Nachkriegspolitik. Die USA nutzten den Wiederaufbau
der schwer kriegsgeschädigten Volkswirtschaften Europas, um ihre Konkurrenten
mit Marshallplan, Bindung der Währungen an den US-Dollar, OECD und IWF in eine
antikommunistische Allianz des Kalten Kriegs unter US-amerikanischer Führung zu
drängen. Dabei ging es ihnen vor allem um eine enge Zusammenarbeit der
Schwerindustrien (Rüstung, Atomprogramm), den Abbau von Handelshemmnissen und
die Freizügigkeit von Kapital und Arbeitskräften. Also im wesentlichen um rein
wirtschaftliche und weltmachtpolitische Ziele.
- Auch Frankreich war von Marshallplan-Hilfen abhängig und
musste sich daher den US-Bedingungen fügen. Daneben aber, weil es seinen
eigenen Weltmachtanspruch nun nicht mehr gegen den alten Erzfeind Deutschland
durchsetzen konnte, entschied Frankreich sich, den deutschen Rivalen in ein
europäisches Vertragssystem zu fesseln und die überlegene westdeutsche
Wirtschaftsmacht über supranationale Institutionen zu kontrollieren.
- Die westdeutschen Eliten sahen im gemeinsamen Markt vor
allem den goldenen Weg, sich möglichst schnell aus der Kriegsverliererposition
zu befreien und wieder zur alten wirtschaftlichen Vorkriegsstärke aufzusteigen.
Zudem konnten sie nur im europäisch-atlantischen Verbund wieder eine
Militärmacht werden. Sie träumten sogar zehn Jahre lang vom Griff nach
Atomwaffen.
Die hehren Ziele, mit denen man dem breiten Publikum erst
die Montanunion und EURATOM, dann die EWG (Europäische Wirtschaftsgemeinschaft)
und schließlich die WWU (Wirtschafts- und Währungsunion) mitsamt dem Euro
schmackhaft machte, nämlich:
-die EU sei ein dauerhaftes Friedensbündnis,
-mit der Freizügigkeit würden Schritt für Schritt auch die
Lebensverhältnisse und Sozialsysteme harmonisiert und verbessert,
-und der Wille der europäischen Völker solle sich in
demokratischen Verfahren manifestieren,
diese Versprechungen blieben in all den hunderten Verträgen
zwischen den Regierungen nur leere Lippenbekenntnisse ohne praktische
Umsetzung.
Ganz im Gegenteil:
-Der Beitritt zur EU war von Anfang an direkt mit der
NATO-Mitgliedschaft verknüpft. Als eine der ersten Vergemeinschaftungen sollte
die Verteidigungsgemeinschaft entstehen. Sie scheiterte jedoch am französischen
Souveränitätsanspruch, und bis heute können die Staaten sich nicht auf eine -
besonders von Deutschland geforderte - "Gemeinsame Außen- und
Sicherheitspolitik" (GASP) einigen. Das hinderte sie aber im Einzelfall
weder an Kriegs- und Bürgerkriegseinsätzen auf europäischem Boden (Nordirland,
Baskenland, Jugoslawien) noch an Dutzenden Kriegszügen in Afrika und Nahost.
Ein "Friedensbündnis"?
-Die neoliberale Wende seit den 70er Jahren hat nicht nur
jeden Fortschritt zu einer gemeinsamen Sozialpolitik blockiert, sondern den
Mitgliedsländern rigide Spar- und Privatisierungsprogramme aufgezwungen.
Solange die angeblich unabhängige und unpolitische Europäische Zentralbank
jeder Regierung den Geldhahn zudrehen kann, ist eine Politik, die sich an
demokratischen und sozialen Prinzipien orientiert, ausgeschlossen. Die
EU-Kommission hat zur Umsetzung der Strategie "Europa 2020" viele
weitere Kompetenzen im Rahmen des so genannten "Europäischen
Semesters" und der "Economic Governance" (TwoPack, SixPack)
erhalten, um die Politik der Mitgliedstaaten zu überwachen und sogar zu
sanktionieren. Hinzu kommt der Fiskalpakt, der durch völkerrechtlich verankerte
Schuldenbremsen den finanziellen Handlungsraum der nationalen Politiken weiter
einschränkt, und der ganz außerhalb der EU-Verträge vereinbart wurde.
-Damit einher ging ein z.T. brutaler Demokratieabbau in den
einzelnen Mitgliedsstaaten. Aber auch die Institutionen und Verfahren der Union
selbst sind in keiner Weise demokratisch legitimiert noch demokratisch
strukturiert. Gerade das "Europaparlament" ist dafür ein krasses
Beispiel. Es ist eigentlich gar kein Parlament im Sinne westlicher Demokratien.
Zwar wird es von den Völkern der Mitgliedsländer seit 1979 direkt gewählt
(wenngleich nach von Land zu Land verschiedenen Wahlverfahren), aber ihm fehlen
wesentliche Rechte einer Volksvertretung (Entscheidungsmacht gegenüber der Exekutive,
Initiativrecht zu Gesetzen und Verordnungen, Wahlrecht der EU-Funktionäre,
Budgetrecht).
Wir Linken müssen uns also fragen, wie wir in diesem
bürokratischen Monster EU ein solches Scheinparlament im Interesse der unteren
Klassen ausnutzen können. Nur wenn es reale Ansatzpunkte dafür gibt, mithilfe
der linken Parlamentsfraktion Gegenmacht aufbauen bzw. stärken zu können, nur
dann dürften Linke sich da hinein wählen lassen.
Solange Linke und Gewerkschaften, ungeachtet der in eine
völlig andere Richtung laufenden realen Entwicklungen, an ihrer
"kritischen Zustimmung" zu dieser EU festhalten, blockieren sie sich
selbst, eine wirksame Gegenposition zu entwickeln. Es bleibt zwar richtig, die
Neugründung eines sozialen und demokratischen Europas von unten zu fordern,
doch die Linke muss sich die Frage stellen, wie das durchgesetzt werden soll.
Die autoritär-neoliberale Politik ist in den Verträgen der EU dermaßen fest
verankert, dass sie nur in EU-weiten Aufständen zu ändern sein dürfte. Dennoch
haben viele Linke nicht die gebotene nüchterne Analyse der realen Situation
vorgenommen, sondern setzen schlicht auf das Prinzip Hoffnung.
Andrerseits bleibt die Propaganda für einen
"Lexit" (Left Exit) - also einen Austritt aus der EU "nach
links", mit der Perspektive eines radikalen Wandels der gesellschaftlichen
Machtverhältnisse auf nationaler oder gar europäischer Ebene - hohles
Geschwätz, solange unten an der Basis keine breite, an vielen Fronten auf
dieselbe Veränderung gerichtete Bewegung wenigstens in Umrissen erkennbar wird.
Linke Politik muss dazu beitragen, sie zu schaffen, zwischen europäischen,
nationalen, regionalen und kommunalen Bewegungen Netzwerke der Solidarität und
der Opposition gegen das autoritäre EU-Regime zu knüpfen und zu festigen. Dem
hat unsere Arbeit in Parlamenten sich einzufügen, auch im Pseudoparlament der
EU können wir dazu beitragen.
Allerdings hat sich am Thema Zuwanderung und "offene
Grenzen" auch drastisch gezeigt, wie weit die linke Opposition selbst noch
von einem konsistenten, mehrheitsfähigen Alternativprogramm zum EU-Regime
entfernt ist. Immerhin wäre es sofort möglich und notwendig, sich auf wenige
gemeinsame (!) Forderungen zu einigen. Dazu könnten gehören: der Stopp der
Austeritätspolitik und die Auflösung der Troika, eine europäische
Schuldenkonferenz sowie ein Investitionsprogramm gegen Massenerwerbslosigkeit,
mehr Geld für Bildung, Gesundheitsversorgung und eine europäische Energiewende.
In Zeiten verstärkter Binnenmarktwanderung und sozialer
Katastrophen an der EU-Peripherie sind praktische Vorschläge einer Sozialunion
vonnöten, etwa eine innereuropäische Übertragbarkeit von nationalen Renten- und
Arbeitslosengeldansprüchen, die Einführung einer sozialen Basissicherung, eine
europaweite Krankenversicherungspflicht, die armutsfeste Vereinheitlichung der
nationalen Mindestlöhne auf 64 % der jeweiligen nationalen Durchschnittslöhne
(wie sie derzeit in Portugal und Slowenien gelten; Frankreich kommt auf 62 %,
das reiche Deutschland nur auf 48 %!).
Zum Investitionsprogramm: Die griechische Wirtschaft z.B.
hat durchaus Wachstumspotentiale, aber die dafür notwendigen Investitionen
können gegenwärtig kaum im Inland aufgebracht werden, und am Kapitalmarkt muss
Griechenland hohe Risikoprämien zahlen. Deshalb kommt dem europäischen
Investitionsplan eine zentrale Bedeutung zu.
Den Start könnte eine Kampagne für eine europäische Bürgerinitiative
legen, die drei Kernziele umfasst: ein Ende der Kürzungspolitiken und
Privatisierungen, eine Besteuerung der Reichen mit einer europäischen
Vermögensabgabe, Investitionen in eine europaweite soziale Infrastruktur
(Gesundheit, Bildung, Wohnen, Energie) und in eine europäische Energiewende.
Oder auch eine soziale Mindestsicherung, garantierte Arbeits- und Tarifrechte,
eine solidarische Flüchtlingspolitik.
Alban Werner schlug vor, dass die anti-neoliberale Linke
EU-weit zu einem nicht staatlich autorisierten Referendum aufruft. Die
Entscheidungsalternative wäre:
a) Es soll weitergehen wie bisher mit dem
sozial-ökonomischen Kurs innerhalb der EU, ohne zusätzliche demokratische
Einwirkungsmöglichkeiten der Bürger*innen, oder
b) Es soll in der EU einen prinzipiellen Kurswechsel geben
hin zu einem sozial-ökologischen »Marshallplan« für Europa, der gute Arbeit für
alle schafft, öffentliche Infrastrukturen stärkt sowie ausgebaute demokratische
Mitwirkungsrechte für die Bürger*innen sowie ein entscheidungsmächtiges
Parlament vorsieht. Wo die geltenden EU-Verträge dem entgegenstehen, sind sie
zu ändern.
Europa ist in Aufruhr. Überall auf dem Kontinent
protestieren Menschen gegen eine Politik, die Armut und Ungleichheit verschärft
und die Demokratie missachtet. Sie fordern eine andere Antwort auf die Krise,
ein soziales Europa und wehren sich gegen die Arroganz der Macht. An den linken
Fraktionen ist es, diesem Aufruhr auch eine parlamentarische Stimme zu geben.
Das kann durchaus Gegenmacht von unten stärken - ohne schädliche linksliberale
Illusionen zu erzeugen.
Wolf Stammnitz
Dortmund
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