Donnerstag, 24. Januar 2019

Ist die Nutzung des EU-Parlaments im Interesse der Bürger möglich?


Notizen zur strategischen Einordnung der Kandidatur der LINKEN zur "Europawahl"


Die Macher der EU verfolgen von Anfang bis heute ganz andere Motive und Ziele als die Mehrheit der europäischen Bürger*innen:

- Die Entstehung des europäischen Binnenmarkts lag zu allererst im Interesse der USA-Nachkriegspolitik. Die USA nutzten den Wiederaufbau der schwer kriegsgeschädigten Volkswirtschaften Europas, um ihre Konkurrenten mit Marshallplan, Bindung der Währungen an den US-Dollar, OECD und IWF in eine antikommunistische Allianz des Kalten Kriegs unter US-amerikanischer Führung zu drängen. Dabei ging es ihnen vor allem um eine enge Zusammenarbeit der Schwerindustrien (Rüstung, Atomprogramm), den Abbau von Handelshemmnissen und die Freizügigkeit von Kapital und Arbeitskräften. Also im wesentlichen um rein wirtschaftliche und weltmachtpolitische Ziele.

- Auch Frankreich war von Marshallplan-Hilfen abhängig und musste sich daher den US-Bedingungen fügen. Daneben aber, weil es seinen eigenen Weltmachtanspruch nun nicht mehr gegen den alten Erzfeind Deutschland durchsetzen konnte, entschied Frankreich sich, den deutschen Rivalen in ein europäisches Vertragssystem zu fesseln und die überlegene westdeutsche Wirtschaftsmacht über supranationale Institutionen zu kontrollieren.

- Die westdeutschen Eliten sahen im gemeinsamen Markt vor allem den goldenen Weg, sich möglichst schnell aus der Kriegsverliererposition zu befreien und wieder zur alten wirtschaftlichen Vorkriegsstärke aufzusteigen. Zudem konnten sie nur im europäisch-atlantischen Verbund wieder eine Militärmacht werden. Sie träumten sogar zehn Jahre lang vom Griff nach Atomwaffen.

Die hehren Ziele, mit denen man dem breiten Publikum erst die Montanunion und EURATOM, dann die EWG (Europäische Wirtschaftsgemeinschaft) und schließlich die WWU (Wirtschafts- und Währungsunion) mitsamt dem Euro schmackhaft machte, nämlich:
-die EU sei ein dauerhaftes Friedensbündnis,
-mit der Freizügigkeit würden Schritt für Schritt auch die Lebensverhältnisse und Sozialsysteme harmonisiert und verbessert,
-und der Wille der europäischen Völker solle sich in demokratischen Verfahren manifestieren,
diese Versprechungen blieben in all den hunderten Verträgen zwischen den Regierungen nur leere Lippenbekenntnisse ohne praktische Umsetzung.

Ganz im Gegenteil:
-Der Beitritt zur EU war von Anfang an direkt mit der NATO-Mitgliedschaft verknüpft. Als eine der ersten Vergemeinschaftungen sollte die Verteidigungsgemeinschaft entstehen. Sie scheiterte jedoch am französischen Souveränitätsanspruch, und bis heute können die Staaten sich nicht auf eine - besonders von Deutschland geforderte - "Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik" (GASP) einigen. Das hinderte sie aber im Einzelfall weder an Kriegs- und Bürgerkriegseinsätzen auf europäischem Boden (Nordirland, Baskenland, Jugoslawien) noch an Dutzenden Kriegszügen in Afrika und Nahost. Ein "Friedensbündnis"?

-Die neoliberale Wende seit den 70er Jahren hat nicht nur jeden Fortschritt zu einer gemeinsamen Sozialpolitik blockiert, sondern den Mitgliedsländern rigide Spar- und Privatisierungsprogramme aufgezwungen. Solange die angeblich unabhängige und unpolitische Europäische Zentralbank jeder Regierung den Geldhahn zudrehen kann, ist eine Politik, die sich an demokratischen und sozialen Prinzipien orientiert, ausgeschlossen. Die EU-Kommission hat zur Umsetzung der Strategie "Europa 2020" viele weitere Kompetenzen im Rahmen des so genannten "Europäischen Semesters" und der "Economic Governance" (TwoPack, SixPack) erhalten, um die Politik der Mitgliedstaaten zu überwachen und sogar zu sanktionieren. Hinzu kommt der Fiskalpakt, der durch völkerrechtlich verankerte Schuldenbremsen den finanziellen Handlungsraum der nationalen Politiken weiter einschränkt, und der ganz außerhalb der EU-Verträge vereinbart wurde.

-Damit einher ging ein z.T. brutaler Demokratieabbau in den einzelnen Mitgliedsstaaten. Aber auch die Institutionen und Verfahren der Union selbst sind in keiner Weise demokratisch legitimiert noch demokratisch strukturiert. Gerade das "Europaparlament" ist dafür ein krasses Beispiel. Es ist eigentlich gar kein Parlament im Sinne westlicher Demokratien. Zwar wird es von den Völkern der Mitgliedsländer seit 1979 direkt gewählt (wenngleich nach von Land zu Land verschiedenen Wahlverfahren), aber ihm fehlen wesentliche Rechte einer Volksvertretung (Entscheidungsmacht gegenüber der Exekutive, Initiativrecht zu Gesetzen und Verordnungen, Wahlrecht der EU-Funktionäre, Budgetrecht).

Wir Linken müssen uns also fragen, wie wir in diesem bürokratischen Monster EU ein solches Scheinparlament im Interesse der unteren Klassen ausnutzen können. Nur wenn es reale Ansatzpunkte dafür gibt, mithilfe der linken Parlamentsfraktion Gegenmacht aufbauen bzw. stärken zu können, nur dann dürften Linke sich da hinein wählen lassen.

Solange Linke und Gewerkschaften, ungeachtet der in eine völlig andere Richtung laufenden realen Entwicklungen, an ihrer "kritischen Zustimmung" zu dieser EU festhalten, blockieren sie sich selbst, eine wirksame Gegenposition zu entwickeln. Es bleibt zwar richtig, die Neugründung eines sozialen und demokratischen Europas von unten zu fordern, doch die Linke muss sich die Frage stellen, wie das durchgesetzt werden soll. Die autoritär-neoliberale Politik ist in den Verträgen der EU dermaßen fest verankert, dass sie nur in EU-weiten Aufständen zu ändern sein dürfte. Dennoch haben viele Linke nicht die gebotene nüchterne Analyse der realen Situation vorgenommen, sondern setzen schlicht auf das Prinzip Hoffnung.

Andrerseits bleibt die Propaganda für einen "Lexit" (Left Exit) - also einen Austritt aus der EU "nach links", mit der Perspektive eines radikalen Wandels der gesellschaftlichen Machtverhältnisse auf nationaler oder gar europäischer Ebene - hohles Geschwätz, solange unten an der Basis keine breite, an vielen Fronten auf dieselbe Veränderung gerichtete Bewegung wenigstens in Umrissen erkennbar wird. Linke Politik muss dazu beitragen, sie zu schaffen, zwischen europäischen, nationalen, regionalen und kommunalen Bewegungen Netzwerke der Solidarität und der Opposition gegen das autoritäre EU-Regime zu knüpfen und zu festigen. Dem hat unsere Arbeit in Parlamenten sich einzufügen, auch im Pseudoparlament der EU können wir dazu beitragen.

Allerdings hat sich am Thema Zuwanderung und "offene Grenzen" auch drastisch gezeigt, wie weit die linke Opposition selbst noch von einem konsistenten, mehrheitsfähigen Alternativprogramm zum EU-Regime entfernt ist. Immerhin wäre es sofort möglich und notwendig, sich auf wenige gemeinsame (!) Forderungen zu einigen. Dazu könnten gehören: der Stopp der Austeritätspolitik und die Auflösung der Troika, eine europäische Schuldenkonferenz sowie ein Investitionsprogramm gegen Massenerwerbslosigkeit, mehr Geld für Bildung, Gesundheitsversorgung und eine europäische Energiewende.
In Zeiten verstärkter Binnenmarktwanderung und sozialer Katastrophen an der EU-Peripherie sind praktische Vorschläge einer Sozialunion vonnöten, etwa eine innereuropäische Übertragbarkeit von nationalen Renten- und Arbeitslosengeldansprüchen, die Einführung einer sozialen Basissicherung, eine europaweite Krankenversicherungspflicht, die armutsfeste Vereinheitlichung der nationalen Mindestlöhne auf 64 % der jeweiligen nationalen Durchschnittslöhne (wie sie derzeit in Portugal und Slowenien gelten; Frankreich kommt auf 62 %, das reiche Deutschland nur auf 48 %!).
Zum Investitionsprogramm: Die griechische Wirtschaft z.B. hat durchaus Wachstumspotentiale, aber die dafür notwendigen Investitionen können gegenwärtig kaum im Inland aufgebracht werden, und am Kapitalmarkt muss Griechenland hohe Risikoprämien zahlen. Deshalb kommt dem europäischen Investitionsplan eine zentrale Bedeutung zu.

Den Start könnte eine Kampagne für eine europäische Bürgerinitiative legen, die drei Kernziele umfasst: ein Ende der Kürzungspolitiken und Privatisierungen, eine Besteuerung der Reichen mit einer europäischen Vermögensabgabe, Investitionen in eine europaweite soziale Infrastruktur (Gesundheit, Bildung, Wohnen, Energie) und in eine europäische Energiewende. Oder auch eine soziale Mindestsicherung, garantierte Arbeits- und Tarifrechte, eine solidarische Flüchtlingspolitik.

Alban Werner schlug vor, dass die anti-neoliberale Linke EU-weit zu einem nicht staatlich autorisierten Referendum aufruft. Die Entscheidungsalternative wäre:
a) Es soll weitergehen wie bisher mit dem sozial-ökonomischen Kurs innerhalb der EU, ohne zusätzliche demokratische Einwirkungsmöglichkeiten der Bürger*innen, oder
b) Es soll in der EU einen prinzipiellen Kurswechsel geben hin zu einem sozial-ökologischen »Marshallplan« für Europa, der gute Arbeit für alle schafft, öffentliche Infrastrukturen stärkt sowie ausgebaute demokratische Mitwirkungsrechte für die Bürger*innen sowie ein entscheidungsmächtiges Parlament vorsieht. Wo die geltenden EU-Verträge dem entgegenstehen, sind sie zu ändern.

Europa ist in Aufruhr. Überall auf dem Kontinent protestieren Menschen gegen eine Politik, die Armut und Ungleichheit verschärft und die Demokratie missachtet. Sie fordern eine andere Antwort auf die Krise, ein soziales Europa und wehren sich gegen die Arroganz der Macht. An den linken Fraktionen ist es, diesem Aufruhr auch eine parlamentarische Stimme zu geben. Das kann durchaus Gegenmacht von unten stärken - ohne schädliche linksliberale Illusionen zu erzeugen.

Wolf Stammnitz
Dortmund







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