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Dienstag, 22. Oktober 2019

Oskar Lafontaine über "Ein Haus voller Narren und Esel"


Der britische „Guardian“ nennt das „House of Commons“ „ein Parlament der Esel, geführt von Fadenwürmern. Und nicht einmal sonderlich intelligenten.“ Die „Daily Mail“ schreibt auf ihrer Titelseite: „Das Haus der Narren“. Diese krasse Kritik übernimmt die “Frankfurter Allgemeine Zeitung” mit der Überschrift: „Ein Haus voller Narren und Esel“. Wie würde die altehrwürdige FAZ, das Leitorgan des gutsituierten Bürgertums, eine Volksvertretung bezeichnen, die:
  • an einer Rentengesetzgebung festhält, die zu millionenfacher Altersarmut führt und zur Folge hat, dass die Rentner im Durchschnitt 800 Euro im Monat weniger haben als die österreichischen Nachbarn
  • einen Mindestlohn von 9,19 Euro die Stunde billigt, der niedriger ist als in Nachbarländern und zwingend zu Altersarmut führt
  • ein Gesetz verabschiedet hat, das gut ausgebildete Beschäftigte dazu zwingt, jede beliebige schlecht bezahlte Arbeit anzunehmen
  • keine Vermögenssteuern erhebt, obwohl eine kleine Minderheit immer mehr Vermögen anhäuft, während die Hälfte der Bevölkerung kaum Vermögen bilden kann
  • Soldaten in völkerrechtswidrige Kriege schickt, obwohl die Mehrheit ihrer Wählerinnen und Wähler dagegen ist
  • Waffen an Diktaturen liefert, die Krieg führen, obwohl sie auch dafür keine Zustimmung in der Bevölkerung hat
  • eine Wohnungsbaupolitik macht, die dazu führt, dass Leute mit durchschnittlichen Löhnen nicht mehr in den Zentren der großen Städte wohnen können
  • eine Gesundheitspolitik zu verantworten hat, die dazu führt, dass immer mehr Ältere und Kranke nicht mehr menschenwürdig gepflegt werden
  • es zulässt, dass zweieinhalb Millionen Kinder in Armut leben und
  • in die schwarze Null so verliebt ist, dass die öffentliche Infrastruktur verfällt.
Die Beispiele ließen sich fortführen.
Dreimal darf man raten, welches Parlament hier gemeint sein könnte. Aber sicher können wir sein, dass die ehrwürdige FAZ dieses Parlament nicht mit solchen unparlamentarischen Worten an den Pranger stellen würde.
Quelle: Oskar Lafontaine via facebook

Freitag, 4. Mai 2018

Peinliche Fakten für linke EURO-Verteidiger.

In einer recht gründlichen Recherche, vor wenigen Tagen auf der Internet-Plattform "Makroskop" erschienen, haben Bill Mitchell und Thomas Fazi nachgewiesen, dass all die Horrorwarnungen auch vieler Linker vor dem "Brexit" in die Irre führen, in neoliberalen Denkschablonen befangen sind und de facto von den Tatsachen widerlegt werden.

Angeblich sollte schon binnen zwei Jahren nach dem Leave-Votum die englische Wirtschaft zwischen 3,6 und 6 Prozent einbrechen und die Arbeitslosigkeit um bis zu 820.000 ansteigen. Tatsächlich ist das Gegenteil eingetreten: Ende 2017 lag das britische BIP um 3,2 Prozent über dem Niveau zum Zeitpunkt der Brexit-Abstimmung, die Zahl der Arbeitslosen ging von Juni 2016 bis Januar 2018 um 187.000 zurück, die Arbeitslosenquote sank von 4,9 Prozent auf 4,3 Prozent und die Zahl derjenigen, die weder arbeiten noch einen Job suchen, ist auf den niedrigsten Wert seit fast fünfeinhalb Jahren gesunken.

Besonders peinlich für die Schwarzmaler sind die Daten über die Entwicklung der britischen Industrie in den letzten zwei Jahren: Trotz der Unsicherheit durch die Verhandlungen mit der EU „verzeichnet das verarbeitende Gewerbe das stärkste Wachstum seit Ende der 90er Jahre", so The Economist und der britische Industrieverband EEF. Der GUARDIAN schrieb: „Das Brexit-Armageddon war eine schreckliche Vision - aber es ist einfach nicht eingetreten.“

Eine Studie des Centre for Business Research der Universität Cambridge (CBR) kommt zu dem Schluss: „Die wirtschaftlichen Aussichten sind eher grau als schwarz, und das wäre unserer Meinung nach mit oder ohne Brexit der Fall. Der Grund dafür ist vielmehr die Fortsetzung des langsamen Produktions- und Produktivitätswachstums, das Großbritannien und andere westliche Volkswirtschaften seit der Bankenkrise geprägt hat. Das langsame Wachstum der Bankkredite, verschärft durch die Sparmaßnahmen des öffentlichen Sektors, verhindern ein Wachstum der Gesamtnachfrage über das Schneckentempo hinaus."

Noch bedenklicher ist eine weitere neue Studie der Uni Cambridge. Danach wuchs das Pro-Kopf-BIP nach dem EU-Beitritt Großbritanniens (1973) deutlich langsamer als vor dem Beitritt. Die viel gepriesene Errichtung des Binnenmarktes im Jahr 1992 habe nichts verbessert – weder für das Vereinigte Königreich noch für die EU insgesamt.
Gleiches gilt für den Anteil der britischen Ausfuhren in die EU und EWU, der seit der Schaffung des Binnenmarkts stagniert und seit Anfang der 2000er Jahre rückläufig ist (Rückkehr auf das Niveau Mitte der 1970er Jahre).

Wobei die Exportmärkte außerhalb der EU wesentlich schneller wachsen als die der EU und der Eurozone. Zahlen des IWF ergeben: Während die weltweiten Exporte sich seit 1991 verfünffacht haben und die Exporte aller Industrieländer um das 3,91-fache zulegten, stiegen die Exporte der EU nur um das 3,7-fache und die der EWU nur um das 3,4-fache.
Mitchell und Fazi kommentieren: "Wir schaudern vor der Vorstellung, was zukünftige Historiker von solchen Verirrungen wie der Kampagne für den Binnenmarkt halten werden (die auch von Yanis Varoufakis unterstützt wird), wenn selbst Mainstream-Ökonomen wie Dani Rodrik ausdrücklich sagen, dass die Handelsliberalisierung 'mehr Probleme verursacht, als sie löst'."

Da muss man sich fragen, warum und wie auch unter Linken die Meinung Fuß fassen konnte, die "Globalisierung" lasse uns keine andere Wahl, als auf nationale Wirtschaftsstrategien zu verzichten und stattdessen auf transnationale oder supranationale Institutionen zu hoffen.
(Worauf dieser Irrtum beruht, soll ein weiterer Beitrag erklären.)

Freitag, 18. August 2017

Deutschland im Agenda-Rausch – Europa im Kater? Nach der Bundestagswahl kriegen wir die Rechnung.

Sämtliche bürgerlichen Parteien zielen mit ihrer Wahlpropaganda auf die "Mitte der Gesellschaft". Sie umfasst nicht nur das komplette Groß- und Kleinbürgertum, sondern auch die verbürgerlichten Schichten der Arbeiterschaft, also die "Arbeiteraristokratie" (Engels/Lenin), die Mehrheit der technischen Intelligenz und der Wissenschaft, privilegierte Facharbeiter sowie die Restbestände der christlichen und der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung. Diese bürgerliche und verbürgerte Mitte bildet die breite Mehrheit der Wahlbevölkerung.

Einzig die LINKE hat die Bedürfnisse und Forderungen der "Unterschicht", der einfachen Lohnarbeiter-innen, Benachteiligten und Abgehängten zur Kernbotschaft ihres Wahlkampfs gemacht. Solange sie auf diesem Bein steht, ist und bleibt sie Repräsentantin einer Minderheit der Wahlberechtigten. Im Zeitverlauf nimmt die Zuordnung zur Arbeiterschicht ab. Nach Daten von ALLBUS stuften sich 2016 noch 19 Prozent der Erwerbstätigen als Arbeiter ein, 2000 waren es noch 30 Prozent, 1976 ordneten sich 37 Prozent als Angehörige der »Arbeiterschicht« und 55 Prozent als der »Mittelschicht« zu.

Darüber hinaus darf jedoch eine umfassende linke Strategie nicht darauf verzichten, die Interessengegensätze zwischen den „Großkopfeten“ und der von diesen ausgeplünderten Bevölkerungsmehrheit aufzudecken. Unser Wahlkampf kann folglich nicht nur um die Verteidigung der Hartz-IV-Opfer gegen Verarmung und Entrechtung durch die Agenda 2010 gehen, sondern auch um den Nachweis, wie die Agenda-Politik die ganze Volkswirtschaft, die Lebensgrundlage der Mehrheit tief geschädigt hat und weiter schädigt - und das nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa.

Bei genauerem Hinsehen müssen wir allerdings zur Kenntnis nehmen, dass die Agenda-Politik nicht nur dem großen Kapital nützt, das sie in Auftrag gegeben hat, sondern dass bestimmte Schichten und Interessengruppen des Bürgertums und sogar des Proletariats kurzfristige Gewinne aus ihr ziehen, die dazu verleiten, vor den gesamtwirtschaftlichen und langfristigen Schäden die Augen zu schließen.

Vor kurzem traf ich einen mir bekannten Ingenieur eines großen Dortmunder Technologieunternehmens. Er glaubt sich vor Hartz IV einigermaßen sicher, auch weil die Politik der Großen Koalition den lange anhaltenden Wirtschaftsaufschwung ermöglicht habe, mit stetig steigender Beschäftigung und deutlicher Abnahme der Arbeitslosigkeit. Das hätten wir nicht zuletzt Schröders Agenda zu verdanken, meinte er.

Meinen Einwand, dass der Beschäftigungszuwachs vor allem aus der massiven Ausweitung von Leiharbeit, Befristungen, Zerlegung von Vollzeit- in Teilzeitstellen und Minijobs besteht, was auch alles ab 2003 mit der Agenda gesetzlich befördert wurde, ließ er nur zum Teil gelten: Zwar seien von den mehr als 4 Millionen zusätzlichen Beschäftigungsverhältnissen seit dem Start der Agenda  tatsächlich 3,2 Millionen sogenannte "atypische" oder "prekäre" Jobs (eben Leiharbeit, Teilzeit, befristete und Minijobs u.a.) - aber immerhin auch fast eine Million neue Normal-Arbeitsverhältnisse entstanden. Diese seien doch zweifellos das Ergebnis der verbesserten Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Unternehmen. Das sehe er am wachsenden Exporterfolg des Unternehmens, in dem er arbeitet.

Auf die Frage nach den Ursachen der deutschen Exporterfolge reicht allerdings sein berechtigter Stolz auf seine "deutsche Wertarbeit" nicht aus. Wie mein Bekannter einräumen musste, ist am Weltmarkt mindestens ebenso wichtig wie die Qualität der Produkte ihr Preis. Und da wären wir wieder bei der Politik…

…Ein erklärtes Ziel der Schröder-Agenda und aller ihrer Macher bis heute ist, deutsche Produkte am Weltmarkt preisgünstiger anbieten zu können. Der entscheidende Hebel dafür ist die Senkung der Lohnstückkosten. Vor allem dies versteht die deutsche Wirtschaftspolitik unter "Wettbewerbsfähigkeit", genau dies bezweckt ihre Agenda:

Durch Absenkung der früheren Arbeitslosenhilfe auf das ALG-2-Niveau, durch Sanktionsdruck auf Arbeitslose, vor allem aber durch die neuen Zumutbarkeitsregeln und die enorme Ausweitung der "atypischen" Arbeitsverhältnisse schufen Schröder und seine Nachfolger Europas breitesten Niedriglohnsektor. Der Sozialdemokrat erpresste sogar die Gewerkschaften damit, das Günstigkeitsprinzip im deutschen Arbeitsrecht abzuschaffen, wenn sie sich nicht auf Öffnungsklauseln in den Tarifverträgen einließen. Die Exportstärke der deutschen Wirtschaft wurde unterstützt durch betriebliche Bündnisse mit Betriebsräten und durch Verzicht auf Lohnerhöhungen, der zugleich den Konsum einschränkte.

Mehr als 15 Millionen Menschen haben seitdem zumindest zeitweilig mit Hartz IV Bekanntschaft machen müssen. Eine Fürsorgeleistung auf Sozialhilfeniveau, scharfe Sanktionen und Zumutbarkeitsregeln entfalten ihre disziplinierende Wirkung auf die gesamte Arbeitnehmerschaft. Arbeit zu 1 Euro 50 die Stunde und der Zwang zur Annahme der miesesten Jobs bis an die Grenze der Sittenwidrigkeit haben die Bereitschaft aller Beschäftigten erhöht, schlechter entlohnte Jobs und ungünstigere Arbeitsbedingungen zu akzeptieren. Diese Abschreckungseffekte sind auch Ursache dafür, dass freiwillige Arbeitsplatzwechsel abnehmen. Berufliche Aufstiegschancen und die Eintrittschancen für Arbeitslose werden so verbaut.

So wurde die von den Unternehmern gewünschte Wettbewerbsfähigkeit erfolgreich geschaffen. Ja, Deutschland ist auf Rekordkurs. Es hat 2016 einen Leistungsbilanz-Überschuss von über 300 Milliarden Dollar erreicht. Das ist deutlich mehr als im Vorjahr und entspricht einem neuen Weltrekord. (China rutschte mit einem Überschuss von 260 Milliarden Dollar auf den zweiten Weltrang ab.)

Ist das nicht supergeil? - Leider nicht, sondern schlicht irre. Einem Überschuss in der Leistungsbilanz steht zwingend ein gleich hohes Defizit in der Kapitalbilanz mit dem Ausland gegenüber. Einfacher gesagt: 300 Milliarden Dollar flossen aus Deutschland ins Ausland ab. Damit baut Deutschland laufend höhere Forderungen gegenüber dem Rest der Welt auf. Dauerhaft hohe Leistungsbilanz-Ungleichgewichte gefährden folglich die Stabilität des Wirtschafts- und Finanzsystems. Daher wurde innerhalb der EU der maximal tolerierte Überschuss auf 6 Prozent des Bruttoinlandprodukts begrenzt. - Deutschlands Leistungsbilanzüberschuss beträgt aber fast 9 Prozent des BIP, nach 8,5 Prozent im Vorjahr. Die Folge ist: Die deutschen Exportüberschüsse treiben die anderen Euroländer in die Defizitzone und in die Verschuldung und befeuern einen ruinösen Wettbewerb um die niedrigsten Löhne weltweit.

Der jährliche deutsche Kapitalexport übersteigt das komplette BIP von Dänemark, Irland oder eines jeden der 16 schwächeren unter den 28 EU-Ländern (sogar der acht schwächsten Länder gemeinsam). Anders gesagt, eignen sich die deutschen Gläubiger Jahr für Jahr den Gegenwert der kompletten Wirtschaftsleistung kleinerer Länder an. Es liegt aber keineswegs im Interesse der deutschen Bevölkerung, dass derart viel Kapital aus dem Land abfließt. Der horrende Kapitalüberschuss besagt nämlich auch, dass die deutsche Bevölkerung die Früchte ihrer Arbeit nicht voll genießen kann. Die inländischen Ersparnisse sind um 300 Milliarden Dollar höher als die inländischen Investitionen und der inländische Konsum, und diese Differenz verschwindet als Kapitalexport ins Ausland. Ein hoher Leistungsbilanzüberschuss bedeutet nicht einfach, dass deutsche Produkte auf dem Weltmarkt so gefragt sind, weil sie so gut sind. Er bedeutet vor allem, dass Deutschland zu wenig investiert und zu wenig konsumiert.

Und das liegt an der Verteilung der verfügbaren Einkommen. Deren Ungleichheit hat in Deutschland in den vergangenen 20 Jahren gigantisch zugenommen. Auch das begünstigt durch die Agenda-Politik. Die Unternehmer- und Vermögenseinkommen stiegen von 2000 bis 2014 um 30 Prozent - viermal so stark wie die Löhne. Während die zehn Prozent Bestverdiener ihr verfügbares Einkommen um 14 Prozent steigerten, blieb in der Mitte gerade mal ein Prozent übrig - und das ärmste Zehntel verlor neun Prozent. Der Anteil der Niedriglöhner, die weniger als zwei Drittel des Durchschnittslohns erhalten, stieg bis 2010 auf 22 Prozent aller Beschäftigten. Höher ist er in der EU nur im Baltikum, in Polen, Rumänien und Zypern. (Inzwischen hat sich der Anteil der Niedriglöhner "stabilisiert", auch dank dem gesetzlichen Mindestlohn, dem bislang einzigen größeren Bruch mit der Agenda-Politik).

Eine weitere Langzeitfolge der Agenda 2010: Stundenlöhne unter 12 Euro erhöhen das Armutsrisiko im Alter, die Niedriglöhne haben es massiv erhöht und treiben es fast ungebremst auf eine soziale Katastrophe zu.

Die Lösung? Mehr Konsum im Inland steigert auch die Investitionen im Inland. Also endlich raus aus den Armutslöhnen, weg mit der Agenda. Der Bundestagsabgeordnete Fabio de Masi von der LINKEN: "Ein Wert von 50% des BIP als Exporte1 ist völlig verrückt. Ziel muss es sein, die Ungleichheit zu verringern. Das sorgt – und das sagt mittlerweile selbst die OECD – für mehr Wachstum. Selbst die EZB sagt mittlerweile, das billige Geld kommt in der Realwirtschaft nicht an, weil es zu wenig Nachfrage gibt. Und wenn ich die Nachfrage dämpfe, dann brummt der Laden nicht und ich brauche nicht mehr Leute."

So trägt der lange Agenda-Aufschwung den Keim für die nächste, noch tiefere Wirtschaftskrise schon in sich. Und alle, die sich heute an den Exporterfolgen berauschen und eine Agenda-Partei wählen, müssen sich nicht wundern, wenn Europa uns nach der Bundestagswahl die Rechnung präsentiert.
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1 Die Exportquote am deutschen BIP betrug 2016: 38,5 % und dürfte 2017 die 40-Prozent-Marke überschreiten.