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Montag, 19. März 2018

Soviel zum antisozialen Propaganda-Sprachrohr der neuen Regierung, Jens Spahn: Die Erwerbsarmut ist gestiegen.


Immer mehr Menschen sind arm, obwohl sie arbeiten. Am stärksten stieg die sogenannte Erwerbsarmut in den vergangenen Jahren in Deutschland. Das hängt auch damit zusammen, dass Arbeitslose stärker unter Druck stehen, eine schlecht bezahlte Arbeit anzunehmen.
Der Anteil der Working Poor in der EU betrug im Jahr 2014 rund zehn Prozent – gemessen an den Erwerbstätigen zwischen 18 und 64 Jahren. Obwohl sie regel­mäßig arbeiten, müssen diese Menschen mit weniger als 60 Prozent des mittleren bedarfsgewichteten Einkommens in ihrem Land auskommen.
Mehr Arbeit keine Garantie für weniger Armut

Das Beispiel Deutschland sei „besonders bemerkenswert“, so die Forscher vom WSI. Einerseits stieg die Beschäftigungsrate zwischen 2004 und 2014 stärker als in den meisten europäischen Ländern, andererseits verzeichnete Deutschland den höchsten Zuwachs an Erwerbsarmut. Mehr Arbeit sei keine Garantie für weniger Armut – zumindest dann nicht, wenn die neuen Jobs nicht angemessen entlohnt werden oder die Stundenzahl gering ist.
Die positive Entwicklung auf dem deutschen Arbeitsmarkt beruhe zu einem großen Teil auf einer Zunahme atypischer Beschäftigung, vor allem Teilzeit, häufig im Dienstleistungsbereich und im Niedriglohnsektor. Die Ausweitung des Niedriglohnsektors sei durch weitgehende Deregulierungen des Arbeitsmarktes, die Kürzung von Transferleistungen und verschärfte Zumutbarkeitsregelungen beschleunigt worden. Der Druck auf Arbeitslose sei gestiegen, möglichst schnell eine Arbeit zu finden.
Die Anfänge dieser sogenannten Aktivierungspolitik, bekannt unter dem Stichwort „Fördern und Fordern“, reichen zurück in die 1990er-Jahre. Eine ähnliche Entwicklung wie in Deutschland fand auch in anderen europäischen Ländern statt, wenn auch zunächst nicht so tiefgreifend. Im Zeitraum zwischen 2004 bis 2014 ist es nur in Polen gelungen, die Beschäftigung zu erhöhen und gleichzeitig die Erwerbsarmut zu senken. In Österreich und der Tschechischen Republik gab es ähnlich wie in Deutschland einen vergleichsweise starken Beschäftigungsanstieg, allerdings nur geringfügig mehr armutsgefährdete Erwerbstätige.
Die Forscher können einen direkten Zusammenhang zwischen arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen und Erwerbsarmut belegen: Während niedrige Lohnersatz- und Sozialleistungen sowie strenge Auflagen für den Bezug von Transferleistungen zu höherer Erwerbsarmut führen, wirken sich hohe Ausgaben für aktive Arbeitsmarktmaßnahmen wie Aus- und Weiterbildung positiv aus: Möglichkeiten der beruflichen Qualifikation und Weiterbildung sollten ausgebaut und für atypisch Beschäftigte beziehungsweise für Beschäftigte im Niedriglohnbereich geöffnet werden, empfehlen die Wissenschaftler. Hartz-IV-Leistungen sollten erhöht, Sanktionen und Zumutbarkeitsregeln entschärft werden.
Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie von Dorothee Spannagel, Daniel Seikel, Karin Schulze Buschoff und Helge Baumann. Die WSI-Forscher haben untersucht, wie sich arbeitsmarkt- und sozialpolitische Maßnahmen, die Menschen schneller in Jobs bringen sollen, auf die Erwerbsarmut in 18 europäischen Ländern ausgewirkt haben. Datengrundlagen sind die Europäische Gemeinschaftsstatistik über Einkommen und Lebensbedingungen (EU-SILC) und eine OECD-Datenbank.



Freitag, 18. August 2017

Deutschland im Agenda-Rausch – Europa im Kater? Nach der Bundestagswahl kriegen wir die Rechnung.

Sämtliche bürgerlichen Parteien zielen mit ihrer Wahlpropaganda auf die "Mitte der Gesellschaft". Sie umfasst nicht nur das komplette Groß- und Kleinbürgertum, sondern auch die verbürgerlichten Schichten der Arbeiterschaft, also die "Arbeiteraristokratie" (Engels/Lenin), die Mehrheit der technischen Intelligenz und der Wissenschaft, privilegierte Facharbeiter sowie die Restbestände der christlichen und der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung. Diese bürgerliche und verbürgerte Mitte bildet die breite Mehrheit der Wahlbevölkerung.

Einzig die LINKE hat die Bedürfnisse und Forderungen der "Unterschicht", der einfachen Lohnarbeiter-innen, Benachteiligten und Abgehängten zur Kernbotschaft ihres Wahlkampfs gemacht. Solange sie auf diesem Bein steht, ist und bleibt sie Repräsentantin einer Minderheit der Wahlberechtigten. Im Zeitverlauf nimmt die Zuordnung zur Arbeiterschicht ab. Nach Daten von ALLBUS stuften sich 2016 noch 19 Prozent der Erwerbstätigen als Arbeiter ein, 2000 waren es noch 30 Prozent, 1976 ordneten sich 37 Prozent als Angehörige der »Arbeiterschicht« und 55 Prozent als der »Mittelschicht« zu.

Darüber hinaus darf jedoch eine umfassende linke Strategie nicht darauf verzichten, die Interessengegensätze zwischen den „Großkopfeten“ und der von diesen ausgeplünderten Bevölkerungsmehrheit aufzudecken. Unser Wahlkampf kann folglich nicht nur um die Verteidigung der Hartz-IV-Opfer gegen Verarmung und Entrechtung durch die Agenda 2010 gehen, sondern auch um den Nachweis, wie die Agenda-Politik die ganze Volkswirtschaft, die Lebensgrundlage der Mehrheit tief geschädigt hat und weiter schädigt - und das nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa.

Bei genauerem Hinsehen müssen wir allerdings zur Kenntnis nehmen, dass die Agenda-Politik nicht nur dem großen Kapital nützt, das sie in Auftrag gegeben hat, sondern dass bestimmte Schichten und Interessengruppen des Bürgertums und sogar des Proletariats kurzfristige Gewinne aus ihr ziehen, die dazu verleiten, vor den gesamtwirtschaftlichen und langfristigen Schäden die Augen zu schließen.

Vor kurzem traf ich einen mir bekannten Ingenieur eines großen Dortmunder Technologieunternehmens. Er glaubt sich vor Hartz IV einigermaßen sicher, auch weil die Politik der Großen Koalition den lange anhaltenden Wirtschaftsaufschwung ermöglicht habe, mit stetig steigender Beschäftigung und deutlicher Abnahme der Arbeitslosigkeit. Das hätten wir nicht zuletzt Schröders Agenda zu verdanken, meinte er.

Meinen Einwand, dass der Beschäftigungszuwachs vor allem aus der massiven Ausweitung von Leiharbeit, Befristungen, Zerlegung von Vollzeit- in Teilzeitstellen und Minijobs besteht, was auch alles ab 2003 mit der Agenda gesetzlich befördert wurde, ließ er nur zum Teil gelten: Zwar seien von den mehr als 4 Millionen zusätzlichen Beschäftigungsverhältnissen seit dem Start der Agenda  tatsächlich 3,2 Millionen sogenannte "atypische" oder "prekäre" Jobs (eben Leiharbeit, Teilzeit, befristete und Minijobs u.a.) - aber immerhin auch fast eine Million neue Normal-Arbeitsverhältnisse entstanden. Diese seien doch zweifellos das Ergebnis der verbesserten Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Unternehmen. Das sehe er am wachsenden Exporterfolg des Unternehmens, in dem er arbeitet.

Auf die Frage nach den Ursachen der deutschen Exporterfolge reicht allerdings sein berechtigter Stolz auf seine "deutsche Wertarbeit" nicht aus. Wie mein Bekannter einräumen musste, ist am Weltmarkt mindestens ebenso wichtig wie die Qualität der Produkte ihr Preis. Und da wären wir wieder bei der Politik…

…Ein erklärtes Ziel der Schröder-Agenda und aller ihrer Macher bis heute ist, deutsche Produkte am Weltmarkt preisgünstiger anbieten zu können. Der entscheidende Hebel dafür ist die Senkung der Lohnstückkosten. Vor allem dies versteht die deutsche Wirtschaftspolitik unter "Wettbewerbsfähigkeit", genau dies bezweckt ihre Agenda:

Durch Absenkung der früheren Arbeitslosenhilfe auf das ALG-2-Niveau, durch Sanktionsdruck auf Arbeitslose, vor allem aber durch die neuen Zumutbarkeitsregeln und die enorme Ausweitung der "atypischen" Arbeitsverhältnisse schufen Schröder und seine Nachfolger Europas breitesten Niedriglohnsektor. Der Sozialdemokrat erpresste sogar die Gewerkschaften damit, das Günstigkeitsprinzip im deutschen Arbeitsrecht abzuschaffen, wenn sie sich nicht auf Öffnungsklauseln in den Tarifverträgen einließen. Die Exportstärke der deutschen Wirtschaft wurde unterstützt durch betriebliche Bündnisse mit Betriebsräten und durch Verzicht auf Lohnerhöhungen, der zugleich den Konsum einschränkte.

Mehr als 15 Millionen Menschen haben seitdem zumindest zeitweilig mit Hartz IV Bekanntschaft machen müssen. Eine Fürsorgeleistung auf Sozialhilfeniveau, scharfe Sanktionen und Zumutbarkeitsregeln entfalten ihre disziplinierende Wirkung auf die gesamte Arbeitnehmerschaft. Arbeit zu 1 Euro 50 die Stunde und der Zwang zur Annahme der miesesten Jobs bis an die Grenze der Sittenwidrigkeit haben die Bereitschaft aller Beschäftigten erhöht, schlechter entlohnte Jobs und ungünstigere Arbeitsbedingungen zu akzeptieren. Diese Abschreckungseffekte sind auch Ursache dafür, dass freiwillige Arbeitsplatzwechsel abnehmen. Berufliche Aufstiegschancen und die Eintrittschancen für Arbeitslose werden so verbaut.

So wurde die von den Unternehmern gewünschte Wettbewerbsfähigkeit erfolgreich geschaffen. Ja, Deutschland ist auf Rekordkurs. Es hat 2016 einen Leistungsbilanz-Überschuss von über 300 Milliarden Dollar erreicht. Das ist deutlich mehr als im Vorjahr und entspricht einem neuen Weltrekord. (China rutschte mit einem Überschuss von 260 Milliarden Dollar auf den zweiten Weltrang ab.)

Ist das nicht supergeil? - Leider nicht, sondern schlicht irre. Einem Überschuss in der Leistungsbilanz steht zwingend ein gleich hohes Defizit in der Kapitalbilanz mit dem Ausland gegenüber. Einfacher gesagt: 300 Milliarden Dollar flossen aus Deutschland ins Ausland ab. Damit baut Deutschland laufend höhere Forderungen gegenüber dem Rest der Welt auf. Dauerhaft hohe Leistungsbilanz-Ungleichgewichte gefährden folglich die Stabilität des Wirtschafts- und Finanzsystems. Daher wurde innerhalb der EU der maximal tolerierte Überschuss auf 6 Prozent des Bruttoinlandprodukts begrenzt. - Deutschlands Leistungsbilanzüberschuss beträgt aber fast 9 Prozent des BIP, nach 8,5 Prozent im Vorjahr. Die Folge ist: Die deutschen Exportüberschüsse treiben die anderen Euroländer in die Defizitzone und in die Verschuldung und befeuern einen ruinösen Wettbewerb um die niedrigsten Löhne weltweit.

Der jährliche deutsche Kapitalexport übersteigt das komplette BIP von Dänemark, Irland oder eines jeden der 16 schwächeren unter den 28 EU-Ländern (sogar der acht schwächsten Länder gemeinsam). Anders gesagt, eignen sich die deutschen Gläubiger Jahr für Jahr den Gegenwert der kompletten Wirtschaftsleistung kleinerer Länder an. Es liegt aber keineswegs im Interesse der deutschen Bevölkerung, dass derart viel Kapital aus dem Land abfließt. Der horrende Kapitalüberschuss besagt nämlich auch, dass die deutsche Bevölkerung die Früchte ihrer Arbeit nicht voll genießen kann. Die inländischen Ersparnisse sind um 300 Milliarden Dollar höher als die inländischen Investitionen und der inländische Konsum, und diese Differenz verschwindet als Kapitalexport ins Ausland. Ein hoher Leistungsbilanzüberschuss bedeutet nicht einfach, dass deutsche Produkte auf dem Weltmarkt so gefragt sind, weil sie so gut sind. Er bedeutet vor allem, dass Deutschland zu wenig investiert und zu wenig konsumiert.

Und das liegt an der Verteilung der verfügbaren Einkommen. Deren Ungleichheit hat in Deutschland in den vergangenen 20 Jahren gigantisch zugenommen. Auch das begünstigt durch die Agenda-Politik. Die Unternehmer- und Vermögenseinkommen stiegen von 2000 bis 2014 um 30 Prozent - viermal so stark wie die Löhne. Während die zehn Prozent Bestverdiener ihr verfügbares Einkommen um 14 Prozent steigerten, blieb in der Mitte gerade mal ein Prozent übrig - und das ärmste Zehntel verlor neun Prozent. Der Anteil der Niedriglöhner, die weniger als zwei Drittel des Durchschnittslohns erhalten, stieg bis 2010 auf 22 Prozent aller Beschäftigten. Höher ist er in der EU nur im Baltikum, in Polen, Rumänien und Zypern. (Inzwischen hat sich der Anteil der Niedriglöhner "stabilisiert", auch dank dem gesetzlichen Mindestlohn, dem bislang einzigen größeren Bruch mit der Agenda-Politik).

Eine weitere Langzeitfolge der Agenda 2010: Stundenlöhne unter 12 Euro erhöhen das Armutsrisiko im Alter, die Niedriglöhne haben es massiv erhöht und treiben es fast ungebremst auf eine soziale Katastrophe zu.

Die Lösung? Mehr Konsum im Inland steigert auch die Investitionen im Inland. Also endlich raus aus den Armutslöhnen, weg mit der Agenda. Der Bundestagsabgeordnete Fabio de Masi von der LINKEN: "Ein Wert von 50% des BIP als Exporte1 ist völlig verrückt. Ziel muss es sein, die Ungleichheit zu verringern. Das sorgt – und das sagt mittlerweile selbst die OECD – für mehr Wachstum. Selbst die EZB sagt mittlerweile, das billige Geld kommt in der Realwirtschaft nicht an, weil es zu wenig Nachfrage gibt. Und wenn ich die Nachfrage dämpfe, dann brummt der Laden nicht und ich brauche nicht mehr Leute."

So trägt der lange Agenda-Aufschwung den Keim für die nächste, noch tiefere Wirtschaftskrise schon in sich. Und alle, die sich heute an den Exporterfolgen berauschen und eine Agenda-Partei wählen, müssen sich nicht wundern, wenn Europa uns nach der Bundestagswahl die Rechnung präsentiert.
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1 Die Exportquote am deutschen BIP betrug 2016: 38,5 % und dürfte 2017 die 40-Prozent-Marke überschreiten.

Dienstag, 2. Mai 2017

Notizen aus der Provinzhauptstadt: Kooperation und Wissen sprengen die Fesseln des Privateigentums. Kritik des „Masterplans Digitales Dortmund“- Schluss

Ob Arbeit 4.0 die schöne neue Welt (Aldous Huxley) wird, die ihre Väter und Mütter in Konzernvorständen, Bundesregierung und Dortmunds Rathaus uns verheißen, das schreibt kein Naturgesetz vor, sondern das wird so oder so politisch entschieden. Welche Gesellschaftsklasse wird dabei über welche Entscheidungsmacht verfügen?

In der bürgerlichen Gesellschaft hängen die Stellung der Klassen zueinander und ihre Macht vom Eigentum bzw. Nicht-Eigentum an Produktionsmitteln ab. In dieser Gesellschaft lässt Macht, die politische wie ökonomische, sich auf das eingesetzte Kapital zurückführen.

Die flächendeckende Vernetzung der Produktion, nicht nur im einzelnen Betrieb, sondern über Betriebs- und Branchengrenzen hinweg, stärkt aber zwei Triebkräfte, die nicht in der Kapitalmacht eingeschlossen sind, sondern alle Beziehungen zwischen den Produzenten prägen und verändern. Diese zwei Triebkräfte sind
-   zum einen die Arbeitsteilung und Kooperation,
-   zum anderen Wissen, Information und Wissenschaft.

Karl Marx fand heraus: Diese beiden Produktivkräfte erscheinen heute zwar als Eigenschaft des Kapitals, aber Wissen erwerben und mit anderen Menschen kooperieren konnte jeder arbeitsfähige Mensch schon Jahrtausende vor den auf Privateigentum gegründeten Produktionsverhältnissen und wird es weiter können, wenn die kapitalistische Epoche längst überwunden ist. Der Kapitalist kann diese Produktivkräfte nur in dem Maß nutzen, wie er sie an sein Eigentum an Produktionsmitteln fesseln kann.

Eine Gesellschaft, in der Information, geteiltes Wissen zur wichtigsten Produktivkraft wird, lässt sich aber nicht mehr ans Privateigentum fesseln. Eine Gesellschaft, in der die Wertschöpfung in hohem Maß sowohl von der Wissenschaft als auch vom gesellschaftlich geteilten Wissen, vom Informationsniveau, vom allgemeinen Bildungsstand abhängt, in einer solchen Gesellschaft wird, so Marx, „die Schöpfung des Reichtums unabhängig von der auf sie angewandten Arbeitszeit". – Und somit unabhängig von der Kapitalverwertung.

Es lohnt, heute erneut darüber nachzudenken, worin Karl Marx die entscheidende Triebkraft der Geschichte sah: Es ist der Fortschritt der Produktivkräfte, der die alten Produktionsverhältnisse sprengt. Mit dem Aufkommen einer auf Informationstechnik basierenden Ökonomie erhält der Widerspruch zwischen den Produktivkräften und den kapitalistischen Eigentumsverhältnissen eine neue Dynamik. Paul Mason1 nennt das den „Krieg zwischen Netzwerk und Hierarchie“. Niemand kann heute bestimmt vorhersagen, welche Resultate dieser Krieg hervorbringt.

Einerseits sind die großen Kapitale bestrebt, sich unsere ganze schöpferische Kooperation und unser Wissen anzueignen. Sie bedienen sich der Informationstechnologie zur Intensivierung, Kontrolle und Verbilligung der Arbeit, zur Monopolisierung ihrer „geistigen Eigentumsrechte" und zur Verwertung der Konsumentendaten, auch zu neuen Formen der Ausbeutung, etwa durch Crowd-Working.

Andrerseits aber stärkt die Informationstechnologie die „Bildungselemente einer neuen Gesellschaft" (Marx), bewirkt den Aufstieg von Sektoren einer Nicht-Marktwirtschaft, die Entstehung freier, kooperativer Geschäftsmodelle außerhalb des Marktmechanismus: einer Share-economy, einer Allmendeproduktion. Zunächst im Bereich der Information selbst. In Netzwerken, in denen kostenlose Informationsgüter die kommerziell erzeugten verdrängen. Mehr und mehr auch darüber hinaus in Dienstleistungssektoren, Energieversorgung, Landwirtschaft, Handwerk usw. werden die Hitech-Monopole eingekreist und die alten Strukturen aufgebrochen.

Technologisch sind wir auf dem Weg zu kostenlosen Gütern und zur Automatisierung belastender und entnervender Arbeit. – Gesellschaftlich sind wir noch Gefangene einer Welt, die von den Krisen vermachteter Märkte und der Ausbreitung prekärer Armutsjobs beherrscht ist. Der entscheidende innere Widerspruch des heutigen Kapitalismus ist der zwischen der Möglichkeit kostenloser, im Überfluss vorhandener Allmendeprodukte und einem System von Monopolen, Banken und Regierungen, die versuchen, ihre Kontrolle über die Informationen aufrecht zu erhalten.

Das Aufbrechen der alten Wirtschaftsstrukturen hat übrigens auch eine sozialpsychologische und kulturelle Seite. Schon seit einigen Jahrzehnten gilt es als erstrebenswertes Ideal der Arbeitskraftentwicklung, seine Talente zu entfalten, kreativ zu sein. Die streng hierarchische „Kommandowirtschaft“ zur bloßen Ausführung von oben vorgegebener Arbeitsroutinen gilt nicht mehr als selbstverständlich. Flache Hierarchien, Delegation von Verantwortung nach unten, Spielräume für selbständiges Handeln erweisen sich als effizienter und flexibler. Das bedeutet nicht automatisch, dass Kommando und Disziplinierung schon überwunden wären. Aber es entsteht ein neuer Typus des „Humankapitals“: das Individuum, das die Arbeitsdisziplin, die früher extern erzwungen war, nun sich selbst auferlegt, „internalisiert“. Der „Arbeitskraftunternehmer“, der sich selbst in die kooperative Arbeitsteilung einfügt, sich freiwillig den Zwängen des totalen Wettbewerbs unterwirft, gilt als Idealtypus des Kreativen.

Da fragt man sich: Eine Technik „4.0“, die die arbeitsteilige Kooperation steigert –  Information zur wichtigsten Produktivkraft macht – so die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit verringert – und die kapitalistische Verwertungslogik sprengt – warum lassen die heute Mächtigen sich auf so etwas ein?

Die Antwort: Von der Notwendigkeit der Konkurrenz und einer fallenden Profitrate getrieben, können sie nicht anders, als eine technische Entwicklung befördern, die unentrinnbar über den Kapitalismus hinaus führt. Bis jetzt hat sich das kapitalistische System mit neuen Innovationsschüben immer wieder verjüngt. Ob dies mit der jetzt anrollenden Technologiewelle noch einmal gelingt, ist nach allem was wir heute sehen eher unwahrscheinlich. Das Wachstum flacht ab, neue Massengütermärkte sind nicht in Sicht, die anschwellende Zahl der Überflüssigen untergräbt die Lohnarbeit, mit ihr das System sozialer Sicherungen und die Legitimität der politisch herrschenden Klasse. Alles Symptome dafür, dass die alten Verhältnisse sich dem Ende nähern.

Was daraus entsteht, bleibt Gegenstand von Klassenkämpfen: zwischen der alten Eigentümerklasse (und ihrem politischen Apparat) und der um das anwachsende Heer der „Wissensarbeiter“ verstärkten Klasse der abhängig-Beschäftigten.

Und es bleibt ein Kampf um die politische Macht: Die ersten Versuche einer kooperativen Wirtschaftsweise, die Herstellung und Verbreitung allgemeiner, von allen nutzbarer Güter, sie werden nur Bestand haben und sich weiter ausbreiten können, wenn der Staat diese neuen Formen des Wirtschaftens unterstützt, sichert und fördert. Und wenn er die Privatisierung lebenswichtiger Produktionsmittel für die Daseinsvorsorge, wie Energieversorgung, Verkehr, Gesundheitswesen usw. rückgängig macht und sie wieder in gemeinschaftlicher Regie betreibt.

Eine solche Sicht auf die Zukunft liegt außerhalb des Horizonts unserer Stadtspitzen. Dennoch kommt auch ihr „Masterplan Digitales Dortmund“ nicht umhin, das Tor zur nicht-kapitalistischen Zukunft einen schmalen Spalt weit aufzustoßen. Wir sollten in unserer Kommunalpolitik versuchen, den Spalt zu erweitern – und zugleich ein gesichertes Arbeiten und Leben vor den negativen Folgen der digitalen Revolution zu schützen.

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1 Dieser letzte Teil der Serie lehnt sich in Gedankengang und Wortwahl eng an Paul Masons Vortrag „Der Niedergang des Kapitalismus“ an, den der Deutschlandfunk im Dezember 2016 ausstrahlte. Paul Mason ist Wirtschaftsjournalist und Berater des Vorsitzenden der englischen Labourpartei, Jeremy Corbyn.

Montag, 10. Oktober 2016

Notizen aus der Provinzhauptstadt: Hier mein Beitrag zur Altersarmut (Bündnis "Umfairteilen")


Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Dortmunder*innen,
ich soll zu einem Thema sprechen, zu dem ich als Kommunalpolitiker von Amts wegen eigentlich kein Mandat hätte, weil es in unserer Kommunalpolitik nicht vorkommt, obschon es im Leben der Menschen unserer Stadt eine dramatische und immer wichtigere Rolle spielt.

Einige Jahrzehnte lang kamen ältere Mitbürger*innen, die so arm sind, dass sie im Müll nach Pfandflaschen suchen, in unserer Stadt nur als tragische Einzelschicksale vor. Jahrzehntelang passte so krasse Armut einfach nicht ins Selbstbild unserer Wohlstandsgesellschaft und ihres Sozialstaates. So galt etwa für die gesetzliche Rentenversicherung bei der Neugründung 1957 der Grundsatz, auch am Ende eines arbeitsreichen Lebens den gewohnten Lebensstandard zu sichern.

In den letzten 20 Jahren hat sich das radikal geändert. – Halt, ich muss das genau ausdrücken: nicht „es“ hat „sich“ geändert, denn entgegen allen amtlichen Behauptungen gibt es kein ökonomisches Gesetz und keinen demografischen Sachzwang, nach denen die Renten von den Löhnen abgekoppelt werden müssen und auf nur noch 43 % der durchschnittlichen Arbeitseinkommen sinken müssen. Sondern es waren die politisch und gesellschaftlich Mächtigen, die nach 1989 aus purem Eigennutz das einigermaßen gut funktionierende Altersvorsorgesystem zerschlugen und durch marktliberales Chaos ersetzten.

Inzwischen hat die Politik, unter dem Druck der Wirtschaftslobby, die Lebensstandardsicherung der Rente über Bord gekippt und als neues Ziel die Beitragsstabilität gesetzt. Mit der „Riesterreform“ lieferten SPD und Grüne die gesetzliche Altersvorsorge als profitablen neuen Geschäftszweig an private Versicherungskonzerne aus und durchbrachen damit zugleich die Beitragsparität zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Und nachdem 2003 die Regierung Schröder/Fischer die Sozialhilfe abgeschafft hat, müssen heute über 8.400 Bürger*innen dieser Stadt von einer Grundsicherung im Alter leben, die weit unter der amtlich anerkannten Armutsschwelle liegt. Unter Hinzurechnung der hohen Dunkelziffer der verschämten Armut müssen in Dortmund mindestens 11.000 Menschen über 65 Jahren als arm gelten, und jedes Jahr nimmt ihre Zahl um 1.000 weitere zu. Das ist auch Ergebnis einer Stadtpolitik, die gemäß einem neuen Ratsbeschluss „Altersgerechtigkeit“ nur auf die bauliche Infrastruktur und Quartiersmanagement beschränkt und Armutsbekämpfung gar nicht im Programm hat.

Die Wirtschaft und ihre Lobbyisten behaupten – wie vor wenigen Tagen der Hauptgeschäftsführer der Arbeitgeberverbände, Kampeter (der übrigens bis Juli für die CDU im Bundestag saß) – sie behaupten, Rentenkürzungen seien ein Gebot der „Generationengerechtigkeit“. Das ist nicht wahr. Schon vor 60 Jahren, vor der Neufassung der gesetzlichen Rentenversicherung 1957 wies der Sozialwissenschaftler Gerhard Mackenroth nach, dass die Rentenzahlungen immer in der jeweils laufenden Periode erwirtschaftet werden müssen, das heiß dass sie immer einen jeweils politisch vereinbarten Anteil am aktuellen Volkseinkommen ausmachen. Es gibt also keinerlei vernünftigen Grund, warum die heute aktiv arbeitende Generation später als Rentner schlechter gestellt sein sollte als die heutigen Rentenbezieher. Die Aktiven müssen heute angemessene Beiträge einzahlen und haben später auch Anspruch auf entsprechende Renten. Mit dem Totschlagwort „Generationengerechtigkeit“ werden nur Junge gegen Alte ausgespielt und aufgehetzt.

Mackenroth widerlegte noch eine weitere irreführende Behauptung der Wirtschaft: Das Rentenniveau folgt keineswegs aus einem vorher angesparten Beitragskapital. Der Beitragssatz richtet sich einzig und allein nach den jeweils aktuellen Zahlenverhältnissen zwischen Rentnern und Aktiven. Er verschiebt sich nicht nur mit der angeblichen „Vergreisung“ der Gesellschaft, sondern viel stärker mit der Beschäftigungslage am Arbeitsmarkt und der gezahlten Lohnsumme. Für diese aber tragen zu allererst die Unternehmer und die Tarifparteien Verantwortung und am allerwenigsten die Opfer der Rentenkürzungen, die Rentner selbst.

Seit Jahrhunderten werden die Menschen immer älter. Schon immer wurde der Anstieg der Lebenserwartung über die steigende Produktivität der Wirtschaft finanziert. Es gibt kein ehrliches Argument, warum das jetzt und in Zukunft anders sein sollte. Alle Vorstöße zur Verlängerung der Lebensarbeitszeit dienen der Verdummung der Bevölkerung: Das spätere Renteneintrittsalter ist nichts anderes als eine weitere Rentenkürzung. Daher ist es kein Zufall, dass jetzt die Deutsche Bank – ja ausgerechnet die Deutsche Bank! – die Rente erst ab 69 fordert. Denn sie profitiert satt an privaten Zusatzverträgen zur gesetzliuchen Rente. – Und ein späteres Rentenalter ist obendrein ein doppelter Betrug an den Jungen, denn es vermehrt die Jugendarbeitslosigkeit, indem es Arbeitsplätze blockiert, die sonst von Jüngeren besetzt werden könnten.

Das alles muss nicht so sein. Es ist tatsächlich nur eine Frage der Verteilung des geschaffenen Reichtums. Also der solidarischen Umfairteilung von oben nach unten.

Inzwischen scheint auch den Regierenden zu dämmern, dass der von ihren Vorgängern eingeschlagene und von ihnen fortgesetzte Weg geradezu in eine soziale Katastrophe führt.
Jetzt – vor den nächsten Wahlen! – wollen sie ihren Kurs in die Altersarmut etwas abbremsen und wenigstens Niedriglöhner etwas besser stellen. Doch die Privatisierung und Individualisierung der Altersvorsorge wollen sie mit der Förderung von Sparverträgen und Betriebsrenten noch mehr ausbauen. Die Grundsicherung im Alter wollen sie nicht oder nur unwesentlich anheben.

Wir sagen: Was ihr vorhabt, vermehrt die Altersarmut weiter!

-       Stattdessen fordern wir das sofortige Aussetzen der Kürzungsfaktoren in der Rentenformel und die Wiederanhebung des Rentenniveaus auf mindestens 50 % der durchschnittlichen Nettolöhne!

-       Wir fordern eine armutsfeste Mindestrente! Wir fordern eine Grundsicherung, von der sich menschenwürdig leben lässt!

-       Wir fordern, die Verlängerung der Lebensarbeitszeit auf 67 Jahre zurück zu nehmen.

-       Wir fordern, endlich alle versicherungsfremden Belastungen der Rentenkasse vollständig vom Staat aus Steuermitteln zu bezahlen und nicht den Beitragszahlern aufzuhalsen (ca. 60 – 90 Mrd.€ p.a.)!

-       Über diese Sofortmaßnahmen hinaus fordern wir die Einbeziehung aller Erwerbseinkommen und insbesondere der Spitzeneinkommen in die gesetzliche Pflichtversicherung! Aufhebung der Beitragsbemessungsgrenze von 6.200 € p.mt.!

Dafür wollen wir gemeinsam streiten: Sozialverbände, Gewerkschaften, Kirchen und alle für die Menschenwürde engagierten Bürger*innen: Altersarmut in diesem reichen Land ist ein Skandal, den wir nicht hinnehmen.

Dienstag, 12. April 2016

SPD-Chef und CSU-Chef entdecken ein neues Wahlkampfthema: die Altersarmut

Plötzlich sind alle Leitmedien voll davon. Eben waren sie noch bestürzt über die krassen Einkommens- und Vermögensunterschiede in diesem unserem Land – schon stolpern sie in die nächste Sauerei. Und sind wieder ganz bestürzt. Ohne ein Wort darüber zu verlieren, dass es SPD, Grüne und CDU/CSU waren, die seit 1998 die gesetzliche Rente immer weiter gekürzt haben. Dass es Franz Müntefering war, der die Lebensarbeitszeit auf 67 Jahre erhöht hat. Dass Walter Riester ab 2001 mit dem Nachhaltigkeitsfaktor und dem Riesterfaktor dafür sorgte, dass die Renten immer mehr hinter den Löhnen zurückbleiben: Die Kürzungsfaktoren senken das Rentenniveau von 53 (2001) auf 43 Prozent (2030) der Durchschnittseinkommen. Statt 1.200 Euro (2001) nur noch 996 Euro (2030) - im Durchschnitt, d.h. knapp die Hälfte der Alten hat dann noch weniger. Und natürlich auch kein Wort darüber, dass es Gerhard Schröder war, der mit Agenda 2010, Minijobs und Ausweitung der Leiharbeit den breitesten Niedriglohnsektor in ganz Europa einführte. Diese Parteien haben zu verantworten, dass schon jetzt Jahr für Jahr immer mehr Ältere Grundsicherung im Alter beantragen müssen. So kaputt haben Sozialdemokraten, Union und Grüne die gesetzliche Rente gespart, dass man erst nach 45 Arbeitsjahren zum Bruttolohn von 11,50 Euro eine Rente erreicht, die über der Sozialhilfe liegt.

Jetzt schwadronieren sie also von der nächsten ganz „großen Rentenreform“. Werden sie etwa bis zur Wahl 2017 die Kürzungsfaktoren aus der Rentenformel streichen? Hat Gabriel etwa gemerkt, dass ihre sogenannte ‚Lebensleistungsrente‘ von 813 Euro netto weit unter der offiziellen Armutsschwelle liegt? Wollen sie etwa endlich alle Erwerbseinkommen in die gesetzliche Rente einbeziehen? Um so eine Solidarische Mindestrente von 1050 Euro netto finanzieren zu können, wie die LINKE es fordert? Wird der SPD-Chef etwa den Milliardenflopp Riester-Rente sofort stoppen?

Wer wirklich etwas gegen die von ihrer Politik verursachte Altersarmut tun will, müsste zu einem Rentenniveau von 53 Prozent zurückkehren, so wie es im Jahr 2001 war, bevor Rot-Grün die Rente ruinierte. Das werden sie nicht tun. Und der müsste sofort den gesetzlichen Mindestlohn auf armutsfeste 10,50 Euro erhöhen. Auch das haben sie nicht vor.

Das wirksame Konzept zur Vermeidung von massenhafter Altersarmut hat DIE LINKE schon 2012 vorgelegt. Unser Ziel ist: Niemand soll im Alter weniger als 1050 Euro zum Leben haben.