WSI, 8. August 2017
Immer mehr Menschen sind arm, obwohl sie arbeiten. Am stärksten stieg die
sogenannte Erwerbsarmut in den vergangenen Jahren in Deutschland. Das hängt
auch damit zusammen, dass Arbeitslose stärker unter Druck stehen, eine schlecht
bezahlte Arbeit anzunehmen.
Der Anteil der Working Poor in der EU betrug im Jahr 2014 rund zehn Prozent
– gemessen an den Erwerbstätigen zwischen 18 und 64 Jahren. Obwohl sie regelmäßig
arbeiten, müssen diese Menschen mit weniger als 60 Prozent des mittleren
bedarfsgewichteten Einkommens in ihrem Land auskommen.
Mehr Arbeit
keine Garantie für weniger Armut
Das Beispiel Deutschland sei „besonders bemerkenswert“, so die Forscher vom WSI. Einerseits stieg die Beschäftigungsrate zwischen 2004 und 2014 stärker als in den meisten europäischen Ländern, andererseits verzeichnete Deutschland den höchsten Zuwachs an Erwerbsarmut. Mehr Arbeit sei keine Garantie für weniger Armut – zumindest dann nicht, wenn die neuen Jobs nicht angemessen entlohnt werden oder die Stundenzahl gering ist.
Das Beispiel Deutschland sei „besonders bemerkenswert“, so die Forscher vom WSI. Einerseits stieg die Beschäftigungsrate zwischen 2004 und 2014 stärker als in den meisten europäischen Ländern, andererseits verzeichnete Deutschland den höchsten Zuwachs an Erwerbsarmut. Mehr Arbeit sei keine Garantie für weniger Armut – zumindest dann nicht, wenn die neuen Jobs nicht angemessen entlohnt werden oder die Stundenzahl gering ist.
Die positive Entwicklung auf dem deutschen Arbeitsmarkt beruhe zu einem
großen Teil auf einer Zunahme atypischer Beschäftigung, vor allem Teilzeit,
häufig im Dienstleistungsbereich und im Niedriglohnsektor. Die Ausweitung des
Niedriglohnsektors sei durch weitgehende Deregulierungen des Arbeitsmarktes,
die Kürzung von Transferleistungen und verschärfte Zumutbarkeitsregelungen
beschleunigt worden. Der Druck auf Arbeitslose sei gestiegen, möglichst schnell
eine Arbeit zu finden.
Die Anfänge dieser sogenannten Aktivierungspolitik, bekannt unter dem
Stichwort „Fördern und Fordern“, reichen zurück in die 1990er-Jahre. Eine
ähnliche Entwicklung wie in Deutschland fand auch in anderen europäischen
Ländern statt, wenn auch zunächst nicht so tiefgreifend. Im Zeitraum zwischen
2004 bis 2014 ist es nur in Polen gelungen, die Beschäftigung zu erhöhen und
gleichzeitig die Erwerbsarmut zu senken. In Österreich und der Tschechischen
Republik gab es ähnlich wie in Deutschland einen vergleichsweise starken
Beschäftigungsanstieg, allerdings nur geringfügig mehr armutsgefährdete
Erwerbstätige.
Die Forscher können einen direkten Zusammenhang zwischen
arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen und Erwerbsarmut belegen: Während niedrige Lohnersatz-
und Sozialleistungen sowie strenge Auflagen für den Bezug von
Transferleistungen zu höherer Erwerbsarmut führen, wirken sich hohe Ausgaben
für aktive Arbeitsmarktmaßnahmen wie Aus- und Weiterbildung positiv aus: Möglichkeiten
der beruflichen Qualifikation und Weiterbildung sollten ausgebaut und für
atypisch Beschäftigte beziehungsweise für Beschäftigte im Niedriglohnbereich
geöffnet werden, empfehlen die Wissenschaftler. Hartz-IV-Leistungen sollten
erhöht, Sanktionen und Zumutbarkeitsregeln entschärft werden.
Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie von Dorothee Spannagel, Daniel Seikel,
Karin Schulze Buschoff und Helge Baumann. Die WSI-Forscher haben untersucht,
wie sich arbeitsmarkt- und sozialpolitische Maßnahmen, die Menschen schneller
in Jobs bringen sollen, auf die Erwerbsarmut in 18 europäischen Ländern
ausgewirkt haben. Datengrundlagen sind die Europäische Gemeinschaftsstatistik
über Einkommen und Lebensbedingungen (EU-SILC) und eine OECD-Datenbank.
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