Donnerstag, 19. Oktober 2017

Offener Brief an meine Parteivorsitzenden: Die falschen Freunde der Weltoffenheit

Liebe Katja Kipping, lieber Bernd Riexinger,

eure Sehnsucht nach einer neuen Linken verstehe ich gut, ohne sie zu teilen. Was jede-r sechste Ostdeutsche immer noch als vertraute politische Heimatluft schnuppert, steigt den meisten von uns "Wessis" wie abgestandener Mief der Party von gestern in die Nase. Der sozialistische Einheitsmief der Plattenbausiedlungen - Klassenkampf - "die Internationale erkämpft das Menschenrecht" - puh! Da wünscht sich mancheine-r eine Linkspartei, die mit der Zeit geht, modern, weltoffen, wie ihr sagt.

Die Moderne - wer den Begriff zurückverfolgt, stößt auf Erstaunliches: Die "Moderne" war ein Kampfbegriff in den Wendejahren der DDR, als die SED nicht nur ein neues Image, sondern ein neues soziales Bezugssystem suchte und sich zur gesamtdeutschen PDS umgründete. Blöd nur, dass Modernisierung - im größeren Deutschland noch brutaler als vorher - zum Synonym für die Unterwerfung alles Lebenden unter die Marktkonkurrenz wurde, für die Auflösung aller sozialen Bindungen und Sicherheiten, für die totale Zurichtung des Menschen auf die Logik der Kapitalverwertung. Das ist die Moderne, für die die SED-PDS den miefigen Realsozialismus eintauschte.

Weltoffenheit - nun ja, wahrhaft weltoffen sind die tausendstel-Sekunden-schnellen Finanzströme rund um den Globus, das Landgrabbing der Superreichen auf allen Kontinenten, die weltumspannenden Datennetze riesiger Kommunikationsindustrien. - Aber das meint ihr sicher nicht. Sondern Weltoffenheit als ideologische Haltung. Früher nannte man es Konsmopolitismus. Diese Ideologie war dem sozialistischen Internationalismus direkt entgegengesetzt und wurde von östlichen Ideologen wütend bekämpft. Ihre Entstehung und Funktion erklären Marxisten so:

Als vor etwa 150 Jahren der Kapitalismus sich zum Imperialismus auswuchs und eine Handvoll Großmächte den ganzen Globus in ihre Kolonialreiche, "Hinterhöfe" und Einflußsphären aufgeteilt hatte, wuchs die Gefahr, dass die bürgerliche Ideologie des Nationalismus bei den unterworfenen Völkerschaften zur Begründung nationaler Befreiungsbewegungen umgedreht wurde. Eine neue Ideologie musste her, die die "Arbeitsteilung" zwischen den reichen weltbeherrschenden Mächten und den von ihnen abhängigen, ausgeplünderten Weltregionen rechtfertigte. Die ganze Welt sei doch nur wie "ein Dorf", behaupteten nun die zeitgemäßen Geister, am besten sei es deshalb, Nationalstaaten und deren Grenzen schnellstens aufzuheben und das ganze Weltdorf von jeder staatlichen Bevormundung zu befreien, indem man es sozusagen in globalen "NGO's" organisiert, Interessengemeinschaften für alle menschlichen Bedürfnisse wie die UNO, die UNESCO, die Weltbank, den Internationalen Währungsfonds, Freihandelszonen, Verteidigungsbündnisse, Vereine für gegenseitige Hilfe, als Vorstufen einer künftigen Weltregierung, und die Wirtschaft natürlich in weltumspannenden Konzernen, alles ganz frei von staatlichem Zwang.

Soweit die Ideologie des Kosmopolitismus. Wie solche entgrenzten Dorfgemeinschaften funktionieren, können wir gut an der Europäischen Union studieren, die ja auch ihr beide und andere LINKE-Wortführer als scharfe Waffe gegen den Nationalismus verteidigt. Übrigens war die Macht, die den europäischen Zusammenschluss in den 1950er bis -70er Jahren am energischsten vorantrieb, nicht wie heute Deutschland, sondern die USA, die Europa als starken westlichen Eckpfeiler zur Einkreisung des "Reichs des Bösen" brauchten. Was lag da näher als die Umkehrung des nationalistischen Wahns, mit dem die Nazis ihren Weltherrschaftsanspruch begründet hatten, ins genaue Gegenteil, nämlich in das vorgebliche Ziel, alle Nationen schnellstens abzuschaffen und damit in Europa sofort loszulegen.

Dass diese Fehlspekulation der Westmächte auf eine schnelle Vereinigung Europas ausgerechnet den Nachfolgestaat des Nazireichs zur erdrückenden Vormacht Europas beförderte, war bei der Gründung der EWG nicht vorgesehen - aber doch eigentlich der einzig logische Ausgang dieser Geschichte. Denn Nationen und ihre Egoismen lassen sich nun mal nicht einfach per Weisung aus Brüssel, Washington oder Berlin auflösen, das ist ein sehr langer historischer Prozess (weit über das Ende des Kapitalismus hinaus, siehe dazu meine letzten Posts in diesem Blog). Im Kapitalismus führt aber die Konkurrenz der Nationen unvermeidlich zum Sieg der stärksten Macht über die schwächeren.

Statt die Konkurrenz der Nationen aufzuheben, zerfällt nun Europa insgesamt und jedes europäische Land immer dramatischer in "Modernisierungsgewinner", die es verstehen, auf der Globalisierungswelle obenauf mitzuschwimmen - überproportional gehäuft zu finden in den "jungen urbanen Milieus" - und den Massen der "Modernisierungsverlierer", die unter dem Druck der ihnen aufgezwungenen Konkurrenz gegeneinander in dumpfen Nationalismus zurück drängen.

Diesen letzteren muss der ahistorische "Supranationalismus" der EU mit seinen grenzüberschreitenden "vier Grundfreiheiten" (grenzenloser Waren-, Dienstleistungs-, Kapital- und Personenverkehr), die vorherrschende Ideologie der neoliberalen Eliten Europas, als Kampfansage vorkommen. Und so ist sie auch gemeint. Ihr beide, Katja und Bernd, und alle anderen linken Anhänger der kosmopolitischen Entgrenzung müsst euch also genau überlegen, wessen Geschäfte ihr da unterstützt, wenn ihr heute "offene Grenzen für Alle" fordert. Vielleicht denkt ihr nochmal drüber nach.

Mit solidarischem Gruß
Wolf Stammnitz

Die LINKE Dortmund

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