Samstag, 14. Oktober 2017

Schluss mit der linken Ignoranz gegenüber der Nation

Seit langem, eigentlich schon vor der Vereinigung von PDS und WASG schwelt in der (deutschen) Linken ein Streit um ihr Verhältnis zur Nation. An aktuellen Anlässen wie der Haltung zur EU, der Aufnahme und Integration von Geflüchteten, der Asylrechtspraxis, dem europäischen Grenzregime flammt der Streit immer wieder offen auf, eskaliert bis hin zu Unterstellungen und persönlichen Verdächtigungen, ohne dass eine politisch tragfähige Lösung in Sicht käme.

Den jüngsten Anlass bot die Analyse unserer Wahlaussagen zur "Flüchtlingspolitik" vor der Bundestagswahl. Wie mir scheint, verengt dies Reiz- und Schlagwort den Blick auf einen Teilaspekt des umfassenderen strategischen Fragenkomplexes, wie die gesellschaftliche Linke sich heute zur Nation, deren Souveränität, dem Nationalstaat und deren historischem Schicksal stellen soll. Mit einer halbwegs fundierten Klärung einiger Grundbegriffe hoffe ich den Streit zu versachlichen.

Die Entwicklung des Kapitalismus ist untrennbar mit der Entstehung der Nationen und der Nationalstaaten verbunden. Und da die Klasse, welche den Kapitalismus im Kampf gegen den Feudaladel durchsetzte und noch heute vorantreibt, die Bourgeoisie ist, wurde sie zur Trägerin und Führerin der Nation und ist es bis heute geblieben.

Der bürgerliche Nationalstaat macht die materiellen und geistigen Güter der Nation zu Privilegien der herrschenden Klasse. Daher, selbst nach fast zweihundert Jahren Parlamentarismus (in Deutschland), auch heute noch das grundlegende Misstrauen der Arbeiterklasse gegen den bürgerlichen Nationalstaat. "Die Arbeiter haben kein Vaterland. Man kann ihnen nicht nehmen, was sie nicht haben," schrieben die Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus, auf die sich die Linkspartei immer noch als Ahnherren beruft, Karl Marx/Friedrich Engels in ihr "Kommunistisches Manifest". Und dennoch hielten sie für unabdingbar, dass "das Proletariat zunächst sich die politische Herrschaft erobern, sich zur nationalen Klasse erheben, sich selbst als Nation konstituieren muß" (ebd).

Keine Rede also davon, die Nation im Zuge der Überwindung des Kapitalismus - oder sogar noch vor dessen Überwindung?! - auf den Mist zu werfen. Ganz im Gegenteil waren sämtliche namhaften Führer der Arbeiterbewegung sich immer einig, der Nation - so spät sie in der Geschichte auch erst auftritt - noch ein zähes, langes Leben vorauszusagen. Warum? Weil die nationale Zusammengehörigkeit sich auf viel älteren Grundlagen konstituiert: der Gemeinschaft der Sprache, des Territoriums, der Kultur, der Moral, Sitten, Lebensgewohnheiten usw. Sowas lässt sich nicht einfach "abschaffen", weder durch eine EU-Kommission noch durch einen linken Parteibeschluss.

Die kapitalistische Marktwirtschaft basiert auf der Konkurrenz privater Warenbesitzer, und zwar sowohl der Kapitalisten als auch der Arbeiter untereinander. Das schließt von Fall zu Fall Absprachen, Bündnisse, Verträge und entsprechende Koalitionen nicht aus. Aber bestimmend bleibt immer das Eigeninteresse jedes Marktteilnehmers, einen möglichst großen Anteil am Sozialprodukt für sich herauszuschlagen.

In dem Maß, wie das Kapital den Weltmarkt hergestellt hat, dehnte es die Konkurrenz auch auf die Verhältnisse zwischen den Nationen aus, und die Nationalstaaten sind es, die die Konkurrenzkämpfe gegeneinander ausfechten. Bis hin zu Treubrüchen, Krieg, Massenmord usw. Und unter diesen Bedingungen haben sie auch das nationale Territorium und seine Grenzen zu sichern. Da heute einfach mir-nichts-dir-nichts "offene Grenzen" zu fordern, geht an den realen Verhältnissen vorbei.

Auch zwischen den Nationen können schiedlich-friedliche Regelungen, Verträge und organisierte Kooperation sich mehr oder weniger lange in Kraft halten. Linke Politik muss selbstverständlich darauf zielen, solche internationalen Verständigungen möglichst umfassend und dauerhaft zu installieren. Aber es wäre weltfremde Träumerei, sich einen Kapitalismus (!) vorzustellen, bei dem der nationale Egoismus auf Dauer aufgehoben ist.

Um am Weltmarkt möglichst reiche Beute zu machen, ist das Bürgertum bestrebt, die ganze Nation hinter sich zu scharen. Dazu bedient es sich der Ideologie des Nationalismus, der die eigene Nation über andere erhebt. Als hundertprozentig bürgerliche Ideologie ist Nationalismus den Anschauungen und Zielen der Arbeiterklasse - und somit der LINKEN - diametral entgegengesetzt. Damit haben wir keinerlei "Schnittmenge". Allerdings müssen wir hier äußerst genau jeden falschen Anschein vermeiden.

Denn es gilt zu unterscheiden zwischen Ideeologien und den Tatsachen, auf die sie sich beziehen. "Deutschland zuerst" oder "Deutschland Deutschland über alles" als politiches Ziel zu proklamieren, ist nationalistische Ideologie und inhuman - aber die Konkurrenz in der Bevölkerung des kapitalistischen Deutschland um Arbeit, Wohnungen, Kitaplätze usw. ist eine unübersehbare Tatsache, welche die LINKE immer und immer wieder anprangern muss.

Linke Politik hat tragfähige und überzeugende Lösungen für solche Konflikte zu finden. Dazu gehört, die Dinge illusionslos bei ihren Namen zu nennen. Also auch auszusprechen, dass Menschen verschiedener Nationalität vom Kapital in Konkurrenz gegeneinander gezwungen werden, und zu verstehen, dass ihnen dann die eigene Haut näher ist als das internationalistische Ideal (das erst nach dem Ende des Kapitalismus zur Realität werden kann).


Ich denke, da muss die LINKE selbstkritisch feststellen, dass wir in der "Flüchtlingskrise" bis jetzt nur ein klitzekleines bisschen klüger sind als die Kanzlerin. Deren Ratlosigkeit war aber eine wesentliche Ursache für das Erstarken der AfD. Deswegen ist es durchaus angebracht, ja notwendig, unsere Lösungsvorschläge auf ihre Stichhaltigkeit ubd Plausibilität zu überprüfen. Einfach nur "offene Grenzen" zu fordern, ist unter kapitalistischen Verhältnissen sicher ein Kurzschluss.

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