Seit langem, eigentlich schon vor der Vereinigung von PDS
und WASG schwelt in der (deutschen) Linken ein Streit um ihr Verhältnis zur
Nation. An aktuellen Anlässen wie der Haltung zur EU, der Aufnahme und
Integration von Geflüchteten, der Asylrechtspraxis, dem europäischen
Grenzregime flammt der Streit immer wieder offen auf, eskaliert bis hin zu
Unterstellungen und persönlichen Verdächtigungen, ohne dass eine politisch
tragfähige Lösung in Sicht käme.
Den jüngsten Anlass bot die Analyse unserer Wahlaussagen zur
"Flüchtlingspolitik" vor der Bundestagswahl. Wie mir scheint, verengt
dies Reiz- und Schlagwort den Blick auf einen Teilaspekt des umfassenderen
strategischen Fragenkomplexes, wie die gesellschaftliche Linke sich heute zur
Nation, deren Souveränität, dem Nationalstaat und deren historischem Schicksal
stellen soll. Mit einer halbwegs fundierten Klärung einiger Grundbegriffe hoffe
ich den Streit zu versachlichen.
Die Entwicklung des Kapitalismus ist untrennbar mit der
Entstehung der Nationen und der Nationalstaaten verbunden. Und da die Klasse,
welche den Kapitalismus im Kampf gegen den Feudaladel durchsetzte und noch
heute vorantreibt, die Bourgeoisie ist, wurde sie zur Trägerin und Führerin der
Nation und ist es bis heute geblieben.
Der bürgerliche Nationalstaat macht die materiellen und
geistigen Güter der Nation zu Privilegien der herrschenden Klasse. Daher,
selbst nach fast zweihundert Jahren Parlamentarismus (in Deutschland), auch
heute noch das grundlegende Misstrauen der Arbeiterklasse gegen den
bürgerlichen Nationalstaat. "Die Arbeiter haben kein Vaterland. Man kann
ihnen nicht nehmen, was sie nicht haben," schrieben die Begründer des
wissenschaftlichen Sozialismus, auf die sich die Linkspartei immer noch als
Ahnherren beruft, Karl Marx/Friedrich Engels in ihr "Kommunistisches
Manifest". Und dennoch hielten sie für unabdingbar, dass "das
Proletariat zunächst sich die politische Herrschaft erobern, sich zur
nationalen Klasse erheben, sich selbst als Nation konstituieren muß"
(ebd).
Keine Rede also davon, die Nation im Zuge der Überwindung
des Kapitalismus - oder sogar noch vor dessen Überwindung?! - auf den Mist zu
werfen. Ganz im Gegenteil waren sämtliche namhaften Führer der Arbeiterbewegung
sich immer einig, der Nation - so spät sie in der Geschichte auch erst auftritt
- noch ein zähes, langes Leben vorauszusagen. Warum? Weil die nationale
Zusammengehörigkeit sich auf viel älteren Grundlagen konstituiert: der
Gemeinschaft der Sprache, des Territoriums, der Kultur, der Moral, Sitten,
Lebensgewohnheiten usw. Sowas lässt sich nicht einfach "abschaffen",
weder durch eine EU-Kommission noch durch einen linken Parteibeschluss.
Die kapitalistische Marktwirtschaft basiert auf der
Konkurrenz privater Warenbesitzer, und zwar sowohl der Kapitalisten als auch
der Arbeiter untereinander. Das schließt von Fall zu Fall Absprachen,
Bündnisse, Verträge und entsprechende Koalitionen nicht aus. Aber bestimmend
bleibt immer das Eigeninteresse jedes Marktteilnehmers, einen möglichst großen
Anteil am Sozialprodukt für sich herauszuschlagen.
In dem Maß, wie das Kapital den Weltmarkt hergestellt hat,
dehnte es die Konkurrenz auch auf die Verhältnisse zwischen den Nationen aus,
und die Nationalstaaten sind es, die die Konkurrenzkämpfe gegeneinander
ausfechten. Bis hin zu Treubrüchen, Krieg, Massenmord usw. Und unter diesen
Bedingungen haben sie auch das nationale Territorium und seine Grenzen zu
sichern. Da heute einfach mir-nichts-dir-nichts "offene Grenzen" zu
fordern, geht an den realen Verhältnissen vorbei.
Auch zwischen den Nationen können schiedlich-friedliche
Regelungen, Verträge und organisierte Kooperation sich mehr oder weniger lange
in Kraft halten. Linke Politik muss selbstverständlich darauf zielen, solche
internationalen Verständigungen möglichst umfassend und dauerhaft zu
installieren. Aber es wäre weltfremde Träumerei, sich einen Kapitalismus (!)
vorzustellen, bei dem der nationale Egoismus auf Dauer aufgehoben ist.
Um am Weltmarkt möglichst reiche Beute zu machen, ist das
Bürgertum bestrebt, die ganze Nation hinter sich zu scharen. Dazu bedient es
sich der Ideologie des Nationalismus, der die eigene Nation über andere erhebt.
Als hundertprozentig bürgerliche Ideologie ist Nationalismus den Anschauungen
und Zielen der Arbeiterklasse - und somit der LINKEN - diametral
entgegengesetzt. Damit haben wir keinerlei "Schnittmenge". Allerdings
müssen wir hier äußerst genau jeden falschen Anschein vermeiden.
Denn es gilt zu unterscheiden zwischen Ideeologien und den
Tatsachen, auf die sie sich beziehen. "Deutschland zuerst" oder
"Deutschland Deutschland über alles" als politiches Ziel zu
proklamieren, ist nationalistische Ideologie und inhuman - aber die Konkurrenz
in der Bevölkerung des kapitalistischen Deutschland um Arbeit, Wohnungen,
Kitaplätze usw. ist eine unübersehbare Tatsache, welche die LINKE immer und
immer wieder anprangern muss.
Linke Politik hat tragfähige und überzeugende Lösungen für
solche Konflikte zu finden. Dazu gehört, die Dinge illusionslos bei ihren Namen
zu nennen. Also auch auszusprechen, dass Menschen verschiedener Nationalität
vom Kapital in Konkurrenz gegeneinander gezwungen werden, und zu verstehen,
dass ihnen dann die eigene Haut näher ist als das internationalistische Ideal
(das erst nach dem Ende des Kapitalismus zur Realität werden kann).
Ich denke, da muss die LINKE selbstkritisch feststellen,
dass wir in der "Flüchtlingskrise" bis jetzt nur ein klitzekleines
bisschen klüger sind als die Kanzlerin. Deren Ratlosigkeit war aber eine
wesentliche Ursache für das Erstarken der AfD. Deswegen ist es durchaus
angebracht, ja notwendig, unsere Lösungsvorschläge auf ihre Stichhaltigkeit ubd
Plausibilität zu überprüfen. Einfach nur "offene Grenzen" zu fordern,
ist unter kapitalistischen Verhältnissen sicher ein Kurzschluss.
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