Heiner Flassbeck ist ein Ökonom, dessen Beiträge zur „Regimekritik“
des Neoliberalismus Spitze sind. Über seine Ratschläge zur Strategie der Linken
kann ich nur den Kopf schütteln, sie zeugen von erstaunlich ahistorischer
Kurzsichtigkeit. In einer Wortmeldung zu den Ergebnissen der Bundestagswahl polemisierte
er jetzt gegen jene Linken, die sogar in Wahlprogrammen immer noch auf eine
Zukunft jenseits des Kapitalismus setzen.
Den Kern seiner Einwände gegen sozialistische Zukunftsträume
bringt schon seine Überschrift auf den Punkt: "Gibt es nur eine
Alternative im Nirgendwo?" Ins Nirgendwo führe nämlich die linke
"Flüchtlingsdebatte", und zwar vor allem, weil in linken Kreisen
"der Kapitalismus" als solcher am Pranger stehe. Das hält Flassbeck
für abwegig, weil heute niemand sagt (und sagen kann), wie eine
nicht-kapitalistische Zukunft besser funktionieren soll als das gegenwärtige
System.
Na und? frage ich, was unterscheidet darin die Endzeit der
bürgerlich-kapitalistischen Ära von allen vorhergegangenen Epochen? War es
nicht immer so, dass die Herrschenden ihre Herrschaft schon deshalb für ewig hielten,
weil sie sich partout nicht vorstellen können, wie eine subalterne Klasse
dahergelaufener Nobodys, die bis dato keinerlei politische Rolle spielte, arme
Teufel, ungebildet, schlecht organisiert, mit der Macht unvertraut und ohne
Plan, ein ganz neues Herrschaftssystem aus dem Boden stampfen könnte? Und haben
die Nobodys nicht doch immer ihren ganz neuen Weg in unbekanntem Gelände suchen
müssen - und gefunden?! Hatte das junge Bürgertum, als es erst in England, dann
in Frankreich Revolution machte und seine bürgerliche Herrschaft erfand, etwa
ein fix-und-fertiges Rezept in der Tasche, eine Roadmap in die Zukunft? Nein,
Flassbeck, man muss nicht Geschichte studiert haben um zu erkennen, dass der
Einwand, wir hätten keinen genauen Plan für's Leben jenseits des Kapitalismus,
ahistorisch kurzsichtig ist. Wer von der Linken so einen Plan erwartet, wird
zeitlebens der realen Entwicklung hinterher traben.
Zu kurz ist aber auch die Messlatte, die Flassbeck an
jegliche Zukunftsvision anlegen will: „Die große Mehrheit will kein anderes
System." „Kritische Linke bestätigen permanent, dass es keine Alternative
außer dem Umbruch, der Revolution gibt, die aber die Menschen in den westlichen
Gesellschaften mit großer Mehrheit ablehnen..."
Wie hat man sich dann also die Geburt einer neuen Zeit vorzustellen?
Durch Ankreuzen auf dem Wahlzettel? Darf die Menschheitsgeschichte unter keinen
Umständen fortschreiten, ehe nicht die Mehrheit zugestimmt und idealerweise das
alte bürgerliche Parlament ihr Votum beglaubigt hat? In der wirklichen
Geschichte können wohl große Menschenmassen (Mehrheiten??) überlebte Strukturen
umstürzen, wenn diese nicht mehr ihren Bedürfnissen entsprechen. Aber dem Neuen,
das regelmäßig von Minderheiten aus der Taufe gehoben wird, stimmt die Mehrheit
erst nach und nach zu, je mehr sie sich praktisch überzeugen kann, dass es dem
Altgewohnten überlegen ist. Die Folge ist, dass Altes und Neues meist lange
nebeneinander bestehen, bis das Neue sich endgültig durchsetzt. Wer sich
historische Schübe wie die Auflösung der bürgerlich-kapitalistischen Verhältnisse
so idyllisch – vielmehr bürokratisch! – vorstellt, dass man sie an einem
Wahlsonntag erledigen kann, liegt mindestens ebenso falsch wie jene Revoluzzer,
die vom großen Kladderadatsch träumen.
An dieser Stelle geht es ans Eingemachte: Hier müsste nämlich
auch ein Makroökonom sich fragen, was eigentlich (außer dem Wahlprogramm der
Linkspartei, haha) geschichtliche Entwicklungen voran treibt. Hat der angeblich
alternativlose Kapitalismus überhaupt eine Zukunft? Vielmehr wir, die
Menschheit, in ihm? Ich meine damit hier jetzt nicht das Katastrophenszenario,
das uns täglich mehr Menetekel an die Wand schreibt. Sondern die ernste Frage, wie
weit das trägt, was Flassbeck als "Alternative innerhalb des Systems"
empfiehlt: "höhere Löhne, Umverteilung von Reich zu Arm, bessere soziale
Absicherung der Arbeitslosen und vom Staat Abhängigen" und alles wird gut?
Hier stößt der seriöse Wirtschaftsfachmann an die Grenzen
seiner wissenschaftlichen Sorgfaltspflicht. Anstelle solcher wohlfeilen
Patentrezepte hätte er zu fragen, welche systemischen Ursachen die doch
unübersehbaren Krisenerscheinungen haben, die "den Kapitalismus"
seinem Kollaps zutreiben. – Falsch, sagt Flassbeck, "den
Kapitalismus" gibt es ja gar nicht. - Aber dessen Krise(n) gibt es, und
sollte die Analyse ergeben, dass sie systemische Ursachen haben, etwa in den
zunehmenden Widersprüchen einer Produktionsweise, die vom Privateigentum an den
Produktionsmitteln und somit von Marktbeziehungen geprägt ist, mit der
fortschreitenden Vergesellschaftung der Arbeit, dann müsste auch der Ökonom
sich um die Zukunft Sorgen machen.
Flassbeck hinterfragt das aber nicht. Wenn die Leute keine
andere Alternative wollen, meint er, hätten sie "damit vollkommen Recht.
Denn es gibt kein anderes System, das man heute jenseits von Träumereien und
Spinnereien als ernstzunehmende Alternative an den Mann und an die Frau bringen
könnte." Basta! Also müssten wir uns mit dem abfinden, was wir den
Privateigentümern vom gesellschaftlichen Reichtum vielleicht abringen können.
Und weil er das für die historische Perspektive hält, setzt
er all seine und unsere Hoffnung auf "den Staat". – Wer aber ist
"der Staat"? Flassbeck äußert sich dazu nicht weiter. Da erscheint der
Staat als ein neutraler Dritter zwischen Reich und Arm, neben Kapital und
Arbeit, sogar als demokratische Herrschaft über das Kapital. Kann das sein?
Unbestreitbar wird Wirtschaft schon seit Jahrtausenden
staatlich organisiert. Genauer gesagt: mithilfe der Staatsmacht. Denn Staat ist
Macht. Und zwar eine andere Art Macht als die wirtschaftliche. Wer sind die
Träger der Staatsmacht? Individuen? Beamte? Gewählte “Volksvertreter“? “Die
Wähler“? Nun, alle politische Macht basiert auf den verschiedenen Funktionen
der Gesellschaftsklassen in der Produktion des gesellschaftlichen Reichtums. Vor
allen anderen hier zu nennen: Kapital und Arbeit. Das Kapitalverhältnis, als
gesellschaftliches Verhältnis des Privateigentums an den Produktionsmitteln und
seiner Kehrseite, der Lohnarbeit, erzeugt aber ein asymmetrisches
Abhängigkeitsverhältnis der Arbeit vom Kapital. Wer auch nur einen Tag in einem
kapitalistischen Unternehmen beschäftigt war, wird das bestätigen. Dies
Klassenverhältnis macht den Staat zum Machtinstrument der Kapitalistenklasse.
In ihm sind die grundlegenden, systemtypischen Konflikte
nicht von kurzfristigen (Wähler-) Präferenzen erzeugt, nicht einmal an bestimmte
Regierungsformen gebunden (etwa die parlamentarische Demokratie), sondern vom
Niveau und der langfristigen Entwicklung der Produktivkräfte der Gesellschaft abhängig.
Die zukunfts-entscheidende Frage ist also nicht, ob und wieweit “der Staat“ in
demokratischer Willensbildung den Kapitalismus zügeln und humanisieren kann,
sondern: Sind die dramatisch eskalierenden Widersprüche innerhalb der
kapitalistischen Produktionsverhältnisse lösbar oder sprengen sie diese Verhältnisse
in die Luft?
Solche Überlegungen liegen offenbar außerhalb von Flassbecks
Gesichtskreis. Das macht seinen Ratschlag an die Linke zur platten Ideologie.
Leider.
Soviel kann man zur vor uns liegenden Aufgabe schon sagen -
und die LINKE sagt es (bei allen Streitigkeiten um die Strategie und
Unklarheiten über Details des Übergangs):
Die Produktivkräfte haben ein Niveau erreicht, das sich nur
noch mit "common-istischer" Organisation der Produktion und der Verteilung
beherrschen lässt. Die Überwindung der privaten Macht über Produktionsmittel
und -ergebnisse – und damit des Warentauschs – ist daher zur Existenzfrage der
Menschheit geworden. Auf Gedeih und Verderb muss die Menschheit sie neu beantworten.
Auch wenn die Gefahr wächst, dass Mehrheiten dies erst erkennen, wenn das Kind
im Brunnen liegt.
Flassbeck schließt seine Polemik damit, der LINKEN einen
"Godesberg-Moment" zu wünschen, nämlich den Verzicht auf jegliches
Streben nach Systemüberwindung, „um wirklich etwas verändern zu können." –
Frage: Hat die SPD nach ihrem Godesberg "den Kapitalismus“ so verändert,
dass er uns nicht in seine Katastrophe(n) mitreißt? Frommer Wunsch, zu kurz gedacht,
abgelehnt. Schade.
p.s.: Flassbeck bleibt dennoch ein großer, von allen
Kritikern des wirtschafts- und finanzpolitischen Status-quo der
unverzichtbarste.
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