Ich weiß aus eigener schmerzlicher Erfahrung, wie schwer wir uns tun, eingeschliffene Anschauungen zu überprüfen und veränderten Realitäten anzupassen. Aber das ist für einen Marxisten, der ich bin und bleibe, unverzichtbar. Deshalb habe ich mir angewöhnt, jede größere Wendung in unserer Lage zur Überprüfung meiner Anschauungen zu nutzen. So auch wieder die jüngste politische Entwicklung in Europa.
Für den Weg zu unserem großen Ziel, der Überwindung des
Kapitalismus, können wir von Lenin vor allem eins lernen: seine unglaubliche
Flexibilität in der Strategie und Taktik auf diesem Weg. Niemals (wirklich in
keiner einzigen Situation) hat Lenin sich mit dem Aufstellen von
Maximalforderungen begnügt, sondern immer hat er die Spalten und Brüche im
herrschenden System aufgespürt, wo er den Hebel ansetzen konnte, um dem großen
Ziel ein kleines Stückchen näher zu kommen. Immer hat er nach dem Kompromiss
gesucht, der die Ausgangsposition für den nächsten Schritt sein konnte.
Dies auf den Konflikt um Griechenland angewandt, komme ich
zu folgendem Ergebnis:
1. Der Wahlsieg von SYRIZA ist Ausdruck der Enttäuschung und
Wut eines großen Teils der griechischen Bevölkerung über die Politik der EU -
aber noch nicht Ausdruck eines Mehrheitswillens, mit dem Kapitalismus Schluss
zu machen. SYRIZA konnte gerade deswegen siegen, weil sie eine breite, ziemlich
bunte linke Sammlungsbewegung ist, die auch in sich noch sehr unklare
Vorstellungen und große Differenzen zum Charakter einer neuen griechischen und
europäischen Gesellschaft und zu den Fragen des Übergangs zu dieser neuen
Gesellschaft vereinigt. Das ist keine aussichtsreiche Basis für den sofortigen
Bruch mit den herrschenden Oligarchien. Sondern es ging zunächst darum, Zeit zu
gewinnen für die anstehenden Klärungsprozesse.
2. Die Aufforderung der linken Minderheit in Griechenland
und der europäischen Linken, den von der griechischen Regierung ausgehandelten
Kompromiss mit den europäischen Institutionen abzulehnen, lässt die Tatsache
außer acht, dass noch in keinem Land der Eurozone eine Mehrheit bereit ist, mit
der Herrschaft der Oligarchie zu brechen. Solange dies sich nicht ändert, kann
keine Regierung und kein Parlament die Zusammenarbeit mit diesen Institutionen
verweigern. Solange geht es immer darum, ob ein jeweils erzielter Kompromiss
den realen Kräfteverhältnissen entspricht oder hinter ihnen zurück bleibt.
3. Hätte der Bundestag die Vereinbarung zwischen den
"Institutionen" und der griechischen Regierung mehrheitlich
abgelehnt, wäre die Vereinbarung gescheitert. Eine Neuverhandlung mit
deutlichen Nachbesserungen für Griechenland wäre aber bis Ende Februar nicht zu
erreichen gewesen. Infolgedessen hätte Griechenland ab März die fälligen
Tilgungsraten nicht bezahlen können und damit das Ausscheiden aus der
Währungsunion riskiert.
4. Damit hätte der deutsche Bundestag die griechische Regierung in die Zwangslage
gebracht, gegen den erklärten Willen der überwältigenden Bevölkerungsmehrheit
den Euro zu verlassen und damit noch viel größeres Leid über die griechische
Bevölkerung zu bringen als durch die Vereinbarung über die Kreditverlängerung.
Das hätte nicht nur die soziale und humanitäre Katastrophe verschärft, sondern
vermutlich auch die SYRIZA-Regierung gestürzt und unkalkulierbare chaotische
Entwicklungen ausgelöst.
5. Im Fall der jetzt erzielten Vereinbarung über die
Kreditverlängerung war nach realistischer Bewertung aller Fakten kein besserer
Kompromiss erreichbar, jedenfalls nicht in der Kürze der verfügbaren Zeit. Es
ging also vor allem darum, mehr Zeit zu gewinnen.
6. Die Solidarität mit Griechenland und SYRIZA hätte also
geboten, dem Kompromiss zuzustimmen.
7. Übrigens: Die mit Nein oder Enthaltung stimmenden
Abgeordneten der Linksfraktion konnten sich ihr Abstimmungsverhalten nur
leisten, weil eine sichere Mehrheit für die Zustimmung zu erwarten war. Ein
Abstimmungsverhalten, das sich nur eine Minderheit leisten kann, weil und
solange sie Minderheit bleibt, das also explizit oder implizit nicht nach der
Mehrheit strebt, ist im Wortsinn "verantwortungslos", weil es die
Verantwortung für seine Folgen nicht übernehmen muss und will.
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