Donnerstag, 5. März 2015

Noch einmal zur Bewertung der Kreditverlängerung für Griechenland


Ich weiß aus eigener schmerzlicher Erfahrung, wie schwer wir uns tun, eingeschliffene Anschauungen zu überprüfen und veränderten Realitäten anzupassen. Aber das ist für einen Marxisten, der ich bin und bleibe, unverzichtbar. Deshalb habe ich mir angewöhnt, jede größere Wendung in unserer Lage zur Überprüfung meiner Anschauungen zu nutzen. So auch wieder die jüngste politische Entwicklung in Europa.
Für den Weg zu unserem großen Ziel, der Überwindung des Kapitalismus, können wir von Lenin vor allem eins lernen: seine unglaubliche Flexibilität in der Strategie und Taktik auf diesem Weg. Niemals (wirklich in keiner einzigen Situation) hat Lenin sich mit dem Aufstellen von Maximalforderungen begnügt, sondern immer hat er die Spalten und Brüche im herrschenden System aufgespürt, wo er den Hebel ansetzen konnte, um dem großen Ziel ein kleines Stückchen näher zu kommen. Immer hat er nach dem Kompromiss gesucht, der die Ausgangsposition für den nächsten Schritt sein konnte.

Dies auf den Konflikt um Griechenland angewandt, komme ich zu folgendem Ergebnis:
1. Der Wahlsieg von SYRIZA ist Ausdruck der Enttäuschung und Wut eines großen Teils der griechischen Bevölkerung über die Politik der EU - aber noch nicht Ausdruck eines Mehrheitswillens, mit dem Kapitalismus Schluss zu machen. SYRIZA konnte gerade deswegen siegen, weil sie eine breite, ziemlich bunte linke Sammlungsbewegung ist, die auch in sich noch sehr unklare Vorstellungen und große Differenzen zum Charakter einer neuen griechischen und europäischen Gesellschaft und zu den Fragen des Übergangs zu dieser neuen Gesellschaft vereinigt. Das ist keine aussichtsreiche Basis für den sofortigen Bruch mit den herrschenden Oligarchien. Sondern es ging zunächst darum, Zeit zu gewinnen für die anstehenden Klärungsprozesse.
2. Die Aufforderung der linken Minderheit in Griechenland und der europäischen Linken, den von der griechischen Regierung ausgehandelten Kompromiss mit den europäischen Institutionen abzulehnen, lässt die Tatsache außer acht, dass noch in keinem Land der Eurozone eine Mehrheit bereit ist, mit der Herrschaft der Oligarchie zu brechen. Solange dies sich nicht ändert, kann keine Regierung und kein Parlament die Zusammenarbeit mit diesen Institutionen verweigern. Solange geht es immer darum, ob ein jeweils erzielter Kompromiss den realen Kräfteverhältnissen entspricht oder hinter ihnen zurück bleibt.
3. Hätte der Bundestag die Vereinbarung zwischen den "Institutionen" und der griechischen Regierung mehrheitlich abgelehnt, wäre die Vereinbarung gescheitert. Eine Neuverhandlung mit deutlichen Nachbesserungen für Griechenland wäre aber bis Ende Februar nicht zu erreichen gewesen. Infolgedessen hätte Griechenland ab März die fälligen Tilgungsraten nicht bezahlen können und damit das Ausscheiden aus der Währungsunion riskiert.
4. Damit hätte der deutsche Bundestag  die griechische Regierung in die Zwangslage gebracht, gegen den erklärten Willen der überwältigenden Bevölkerungsmehrheit den Euro zu verlassen und damit noch viel größeres Leid über die griechische Bevölkerung zu bringen als durch die Vereinbarung über die Kreditverlängerung. Das hätte nicht nur die soziale und humanitäre Katastrophe verschärft, sondern vermutlich auch die SYRIZA-Regierung gestürzt und unkalkulierbare chaotische Entwicklungen ausgelöst.
5. Im Fall der jetzt erzielten Vereinbarung über die Kreditverlängerung war nach realistischer Bewertung aller Fakten kein besserer Kompromiss erreichbar, jedenfalls nicht in der Kürze der verfügbaren Zeit. Es ging also vor allem darum, mehr Zeit zu gewinnen.
6. Die Solidarität mit Griechenland und SYRIZA hätte also geboten, dem Kompromiss zuzustimmen.
7. Übrigens: Die mit Nein oder Enthaltung stimmenden Abgeordneten der Linksfraktion konnten sich ihr Abstimmungsverhalten nur leisten, weil eine sichere Mehrheit für die Zustimmung zu erwarten war. Ein Abstimmungsverhalten, das sich nur eine Minderheit leisten kann, weil und solange sie Minderheit bleibt, das also explizit oder implizit nicht nach der Mehrheit strebt, ist im Wortsinn "verantwortungslos", weil es die Verantwortung für seine Folgen nicht übernehmen muss und will.

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