Linke, die ernsthaft einen Ausstieg aus dem Kapitalismus suchen, müssen sich gründlich überlegen, unter welchen Bedingungen sie sich an die Spitze eines kapitalistischen Staates stellen. Für diese Entscheidung genügt weder die Aussicht auf eine tragfähige Regierungskoalition mit bürgerlichen Parteien (Thüringen) noch gerechte Empörung über die kapitalistischen Schandtaten. Allgemein gesprochen ergibt sich die Möglichkeit einer Kräfteverschiebung nach links immer dann, wenn die herrschenden Klassen ökonomisch und / oder politisch den Karren so tief in den Dreck gefahren haben, dass sie mit ihren alten Methoden nicht mehr herrschen können und zugleich am Ausweg nach rechts gehindert werden. Sind in so verfahrener Lage die breiten Massen zwar entschlossen, den Staat gegen die offene Gewaltherrschaft von rechts zu verteidigen, aber noch nicht bereit, den Kapitalismus hinter sich zu lassen, dann steht jede Regierung vor der undankbaren Aufgabe, den kapitalistischen Karren wieder aus dem Dreck zu ziehen.
Linke Krisenpolitik
Unter der Bedingung, dass die Volksmassen noch nicht
"fertig" sind mit dem Kapitalismus, kann auch eine linke Regierung in
der Krise nur "kapitalistische" Politik machen – genauer gesagt: einen
links-sozialdemokratischen „new deal“, der die Verwertungsbedingungen des
Kapitals und die Lebensbedingungen der Massen wieder soweit „ausgleicht“, dass
beide überleben können. Das muss nicht automatisch falsch sein: Reformen, die
diesen Namen verdienen, die Kapitalverwertung beschränken, den Klassenkampf um
sie zuspitzen und die Grenzen der Reformierbarkeit des Kapitalismus sichtbar
machen, das können Schritte des Herankommens an die Machtfrage, Schritte zur
Erringung der Hegemonie sein. Mehr schafft diese Taktik dann nicht. Es wäre
dumm, dies einer regierenden Linken vorzuwerfen. Wenn sie eine sich
bietende Chance ergreift, die Krise des Kapitalismus ausnutzt, um dessen
Überwindung vorzubereiten, handelt sie durchaus revolutionär. Die griechische
Kommunistische Partei KKE hat das bis heute nicht begriffen, und Teile der
deutschen Linken ebenso wenig.
…und SYRIZA ?
SYRIZA's Wahlsieg vom 25.Januar war Ausdruck der gerechten
Empörung der griechischen Massen über die Politik der Oberschicht und der EU.
Aber noch nicht Ausdruck eines Mehrheitswillens - sei es auch nur der
griechischen Arbeiterklasse - mit dem Kapitalismus Schluss zu machen. In diesem
Fall ist allerdings noch völlig offen, ob SYRIZA den Staatskarren und die
nationale Ökonomie wieder flott kriegen kann. Allein um der tief in der
griechischen Gesellschaft wuchernden Korruption, des Steuerbetrugs und der
Vetternwirtschaft Herr zu werden, braucht SYRIZA eine solche zielstrebige
Geschlossenheit und darauf basierend eine solche Autorität, dass sie die
Bevölkerung - zumindest die Arbeiterklasse - zum Kampf gegen millionenfache
alte Gewohnheiten mobilisieren und zugleich die korruptionsverseuchte Staatsverwaltung
gegen sich selbst aufbieten kann. Das erfordert einige administrative
Gewaltanwendung und wird das Land in Millionen Konflikte stürzen. Und zwar
nicht in Jahren, sondern binnen weniger Wochen, um den akuten Staatsbankrott abzuwenden
und weitere erpresserische "Hilfs"kredite ablehnen zu können.
Offen ist darüber hinaus aber auch, ob SYRIZA willens und
zielklar genug ist zu einer solchen Taktik des Herankommens an die sozialistische
Umwälzung, wie ich sie oben skizziert habe. SYRIZA konnte gerade deswegen
siegen, weil sie eine breite, ziemlich bunte linke Sammlungsbewegung ist, die
auch in sich noch sehr unklare Vorstellungen und große Differenzen zum
Charakter einer neuen griechischen und europäischen Gesellschaft und zu den
Fragen des Übergangs zu dieser neuen Gesellschaft vereinigt. Das ist keine
aussichtsreiche Basis für den sofortigen Bruch mit den herrschenden
Oligarchien. Sondern es geht zunächst darum, Zeit zu gewinnen für die
anstehenden Klärungsprozesse.
"Rettet den
Kapitalismus"
Der heutige griechische Finanzminister Iannis Varoufakis hat
sich dazu schon ein Jahr vor seiner Amtsübernahme, also weit vor den jetzt
laufenden Verhandlungen mit den Eurokraten, in einem Grundsatzreferat geäußert.
Unter der Überschrift "Rettet den Kapitalismus" erklärte er, warum
man zunächst das System vor sich selber schützen müsse: "Europas aktuelle
Lage stellt eine Bedrohung für die ganze Zivilisation dar...Die Krise in Europa
wird wohl kaum eine bessere Alternative zum Kapitalismus hervorbringen, sondern
viel eher gefährliche rückwärtsgewandte Kräfte entfesseln, die ein Blutbad
verursachen und gleichzeitig jede Hoffnung auf Fortschritt auf Generationen
hinaus vernichten könnten..." V. sieht "einen krisengeschüttelten,
zutiefst unvernünftigen und abstoßenden europäischen Kapitalismus, dessen
Zusammenbruch, trotz all seiner Fehler, unter allen Umständen vermieden werden
sollte." Dies Bekenntnis solle dazu dienen, "Radikale von einem
widersprüchlichen Auftrag zu überzeugen: den freien Fall des europäischen
Kapitalismus zu stoppen, eben gerade damit wir Zeit bekommen, um eine
Alternative zu formulieren."
Für mich klang das zunächst sehr nach Gorbatschows
Begründung, warum er den ersten sozialistischen Staat der Welt endgültig wieder
an den Kapitalismus auslieferte und im Vorbeigehen auch die DDR zum Anschluss
an die BRD freigab: Weil es angeblich jenseits der Klassen und ihrer
Machtkämpfe allgemeine Menschheitsfragen gäbe, die nicht mit
Sozialismus-Kommunismus zu lösen seien, sondern nur mit einer kapitalistisch-sozialdemokratischen
Reformpolitik. Und dieser Gorbatschow'sche Mist hatte mich damals schon an die
klassisch gewordene Ansage des sozialdemokratischen Politikers Fritz Tarnow
erinnert (1931, mitten in der ersten Weltwirtschaftskrise): Mit der Behauptung,
die Sozialdemokratie müsse "Arzt am Krankenbett des Kapitalismus"
sein, rechtfertigte er die Tolerierung der Brüning'schen Notverordnungen, die
den Faschismus vorbereiteten.
Bei Varoufakis hingegen basiert die Strategie, zunächst den
Kapitalismus vor dem Zusammenbruch zu retten, auf einer auch für Marxisten
annehmbaren Analyse der gegenwärtigen Krise. Verkürzt gesagt läuft seine
Argumentation darauf hinaus, dass die Marx'sche Analyse der zyklischen
Konjunkturkrisen für die heutige Systemkrise nicht mehr ausreicht und das
Kapital die schon von Rosa Luxemburg aufgezeigte Alternative "Sozialismus
oder Barbarei" immer mehr in Richtung Barbarei beantwortet. Eine barbarisierte,
brutalisierte, durch anhaltendes Krisenelend demoralisierte Menschheit aber
hätte einen viel weiteren Weg zum Sozialismus als unser noch halbwegs
demokratisch zivilisiertes Gegenwarts-Europa. Diese Überlegung steht in
diametralem Gegensatz zu den Illusionen von Sozialdemokraten, die den
Kapitalismus gern verewigen möchten, so er denn human und friedlich würde.
Und dan n ?
Wie dem auch sei, muss die sozialistische Linke nicht nur in
Griechenland, sondern in ganz Europa noch zu der Reife finden, ihre Antwort auf
die Systemkrise des Kapitalismus weiter zu klären, in ein einigendes Programm
zu schreiben und in Europas Klassenkämpfen zu erhärten. Dafür braucht sie noch
einige Zeit. Wenn SYRIZA uns diese Zeit gegen die schiefe Ebene der Krise
erkämpft, hat die europäische Linke schon viel gewonnen.
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