Annäherung an das neue Programm der LINKEN
In einer demokratisch verfassten Gesellschaft gilt eine Parteistrategie als erfolgreich, der es gelingt, die Interessen der Parteianhängerschaft in politische Mehrheiten umzusetzen. Und diese sollten auf längere Sicht gesellschaftliche Mehrheiten abbilden. So will es die Theorie. Die Praxis stellt sich komplizierter dar.
Klassenpartei oder Arm gegen Reich
Zwar lassen sich auf zentralen politischen Konfliktfeldern durchaus Mehrheitsinteressen ablesen, die die LINKE vertritt – so z.B. die Ablehnung des Afghanistankriegs, der Atomenergienutzung, der Hartz-Gesetze – aber derlei Einzelaspekte ergeben in der Summe noch kein Gesamtbild der grundlegenden Interessen, welche die Gesellschaft prägen. Wohl kann man sie alle irgendwie auf den grundlegenden Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit zurückführen. Für das Verständnis der gesellschaftlichen Zusammenhänge und Mechanismen ist das unverzichtbar. Folglich wurde in den neuen Programmentwurf ein Abschnitt „Deutschland – eine Klassengesellschaft“ eingefügt. Wenngleich die darin gebotene Analyse noch Mängel aufweist, bedeutet sie einen wesentlichen Fortschritt im Erkenntnisprozess der jungen Partei.
Aber für die Strategie der linken Bewegung ist es heutzutage – mit dem Schrumpfen der Industrie zugunsten von Dienstleistungen und der De-Industrialisierung weiter Regionen - innerhalb wie außerhalb der Partei umstritten, ob die Interessen der Arbeiterschaft noch gleichzusetzen sind mit denen der Gesellschaftsmehrheit.
Indessen zeigt der Kapitalismus eine unbestreitbare Tendenz zur Steigerung der Ausbeutung sämtlicher Ressourcen in einem Ausmaß, das die ganze Gesellschaft bedroht. Sie stellt sich heute vor allem dar als krisenhafter Gegensatz zwischen der Bereicherung von Finanzinvestoren und der Verarmung und Prekarisierung der Arbeits- und Lebensverhältnisse bis weit in die Mittelschichten hinein. Daraus ergibt sich tatsächlich ein Mehrheitsinteresse an der Aufhebung dieses grundlegenden gesellschaftlichen Widerspruchs, als Kern des zeitgemäßen linken Programms. Alle partiellen Klasseninteressen müssen sich in ihm „aufheben“ und stehen nur noch dem entgegengesetzten Interesse der „Reichen“, „Wettbewerbsgewinner“, „Ausbeuter“, „Abzocker“ gegenüber. Ebenso verhält es sich mit dem beschleunigten Raubbau der Rohstoffe und der Zerstörung unserer natürlichen Lebensgrundlagen.
Allerdings erscheint die Überwindung des Kapitalismus auf absehbare Zeit bei uns nicht mehrheitsfähig. Statt einer nicht-kapitalistischen Gesellschaft wünscht sich die Mehrheit einen gezähmten, moderaten, staatlich regulierten Kapitalismus als sozial gerechten Kompromiß. Eine Partei, die aus Einsicht und Verantwortung auf der antikapitalistischen Perspektive beharrt, wird dafür lange keine Mehrheit finden. Das LINKE-Programm versucht diesen Spagat durchzustehen, und das ist gut so.
Braucht Deutschland eine neue Sozialdemokratie ?
Auf die programmatische Leitidee des „demokratischen Sozialismus“ hat DIE LINKE kein Copyright. Der Begriff diente der SPD zuerst in den zwanziger Jahren zur Abgrenzung gegenüber dem „stalinistischen“ Kommunismus und wurde nach 1945 gleichbedeutend mit „sozialer Demokratie“ in die SPD-Programme übernommen.
Kein Zweifel, die SPD hat seither dramatisch an gesellschaftlichem Rückhalt verloren. Und mit ihr der demokratische Sozialismus. Die Ursache liegt nicht nur darin, dass die Industriearbeiterschaft, auf die sie sich anderthalb Jahrhunderte lang hauptsächlich bezog, seit Jahrzehnten an Bedeutung verliert, die Stammbelegschaften der Großindustrie schmelzen ab – Leiharbeiter und andere prekär Beschäftigte sahen sich ohnehin nie von der SPD vertreten – parallel zur ehemaligen Arbeiterpartei erodiert die Mitgliederbasis der Gewerkschaften usw.
Eine weitere wesentliche Ursache liegt vielmehr darin, dass die SPD-Führung unter Gerhard Schröders Parteivorsitz und Kanzlerschaft offen vom Inhalt der „sozialen Demokratie“ abrückte: Einhundert Jahre lang hatte die SPD durch alle Krisen und Katastrophen hindurch an der Verheißung festgehalten, auf demokratischem Wege den Interessengegensatz von Kapital und Arbeit in einem für beide Seiten annehmbaren sozialen Kompromiß zu versöhnen, und hatte damit die Hoffnungen von Millionen auf sich gezogen. Doch nun lief der „Genosse der Bosse“ an der Spitze der Müntes, Steinbrücks und -meiers, Gabriels offen auf die Seite der Hartze und Ackermänner, des großen Kapitals über. Seither ist die Hoffnung auf einen gezähmten, gemäßigten, sozial gerechten, demokratisch über den Klassen stehenden Kapitalismus parteipolitisch heimatlos geworden.
Die LINKE besitzt gute Chancen, im Wettbewerb um das Erbe des Reformismus, auch nach der halbherzigen Kurskorrektur der SPD unter Gabriel und Nahles, weiter an Boden zu gewinnen. Allerdings muß sie gründlich darüber nachdenken, was sie damit eigentlich gewinnt.
Eine simple Rückkehr ins sozialdemokratische Zeitalter ist unmöglich geworden. Der Kapitalismus hat sich seit den 70er Jahren weiter entwickelt. Er hat nicht nur den „Sozialstaat“ in den „Wettbewerbsstaat“ transformiert, sondern die ganze Gesellschaft einem Strukturwandel unterworfen. Die Arbeiterklasse hat er nach Arbeits- und Lebensbedingungen vielfach zersplittert. Das hat Auswirkungen auf politische Orientierungen. Kurzfristig bedeutet es: Selbst wenn man die Grünen im politischen Spektrum noch links einordnet – wofür nicht mehr allzuviel spricht – hatten SPD, Grüne und LINKE zusammen bei der letzten Bundestagswahl keine Wählermehrheit. Sie müßten sich schon auf ein sehr überzeugendes, attraktives Reformprojekt einigen, um in erheblichem Umfang enttäuschte Wähler/-innen wieder an die Wahlurnen zurück zu holen. Ob und wann SPD und Grüne dazu noch zu gewinnen wären, erscheint ungewiss.
Dabei lägen auch jetzt einige sozialdemokratische Forderungen im Interesse der Gesellschaftsmehrheit, z.B. eine Re-Regulierung des Finanzsektors, strengere Bankenaufsicht, Verbot besonders riskanter Spekulationsgeschäfte, dauerhafte Verstaatlichung von Pleitebanken, kurz: alles was die Gefahr neuer Spekulationsblasen mindert und die Krisenfolgen für Beschäftigung, Masseneinkommen und Sozialtransfers mildert. Insofern kann man bejahen, dass Deutschland eine sozial – demokratische Reformpolitik braucht, und zwar solange, wie es am kapitalistischen Krisensystem festhält. Die LINKE tut gut daran, solche Reformforderungen in ihr Programm aufzunehmen und SPD und Grünen die gemeinsame Durchsetzung vorzuschlagen.
Zum andern, auf mittlere Sicht verbessert der Kapitalismus selbst die Voraussetzungen für künftige rosa-grün-rote Mehrheiten, indem er immer größere Teile der Gesellschaft in ihren Existenzgrundlagen bedroht.
Ein Reformkonzept gegen diese Bedrohung kann bei der einfachen Wiederinstandsetzung der alten sozialstaatlichen Sicherungen nicht stehen bleiben. Diese sind schon heute nicht mehr wie früher allein aus der Lohnarbeit zu finanzieren (die paritätische Beitragsfinanzierung verschleierte das bloß), dafür müssten ab sofort die Reichen und Privilegierten zur Kasse gebeten werden. Es ist fraglich, ob und wann unter dem wachsenden Druck der Krisen SPD und Grüne hierzu bereit sein werden – heute sind sie es nicht.
Aber mehr als so ein Reparaturbetrieb zur Linderung der Not, mehr als die zeitweise Begrenzung der Krisengefahren und –folgen kann sozialdemokratische Politik nicht leisten. Das ist keine Frage des Wollens. Denn niemals würden die Wirtschaftsbosse gütlich-friedlich auf die Ausbeutung fremder Arbeit verzichten, ist sie ihnen doch von Staats und Rechts wegen zugesichert. Denn es ist ihr Staat, er gehört ihnen, schützt und exekutiert ihr bürgerliches Recht auf Bereicherung. Seit dem Revisionismusstreit in der SPD um die Wende zum 20. Jahrhundert lag ein Wesensmerkmal der Sozialdemokratie immer darin, diesen Klassencharakter der Staatsmacht zu verschleiern.
Das neue Programm der LINKEN macht hier ganz sozialdemokratisch weiter. Und das ist nicht gut so. Wer den Kapitalismus überwinden und durch eine sozial gerechtere, friedliche und ökologisch nachhaltige Gesellschaftsordnung ablösen will, wie es die LINKE vorhat, muß von Illusionen über den Staat und die Macht Abschied nehmen. Da lässt dies Programm auch in seiner letzten Fassung jegliche Klarheit vermissen. Denn darauf hat die Partei keine konsensfähige Antwort. Es reicht da nicht aus, dem Stalinismus abzuschwören, da muß man sich unvoreingenommen und schonungslos mit dem modernen Staatswesen auseinander setzen, wie Marx und Engels es uns vormachten. Solange maßgebliche Kreise der Partei dazu nicht bereit sind, stößt hier die kollektive Weisheit auf die Grenze des Pluralismus. Mit dem Ergebnis, dass zu diesem entscheidenden Punkt der Staatsmacht das Programm nicht mehr bietet als Schönfärberei und fromme Wünsche.
Noch aus einem anderen Grund erscheint fragwürdig, wem mit einer Neuauflage des sozialdemokratischen Projekts gedient wäre. Deutschland gehört zu den Ländern, deren herrschende Kreise sogar von den aktuellen und absehbaren Katastrophen des globalen Kapitalismus noch profitieren, und zwar zunehmend zu Lasten anderer Völker. Das gegenwärtige Krisenszenario bestätigt schlagend die hundertjährige Erfahrung, dass in solchen „imperialistischen“ Staaten die Mehrheit der Gesellschaft sich durch Medienpropaganda und allerlei kleine Vorteile für die Ausplünderung, Bevormundung und sogar militärische Unterwerfung anderer Länder in Stellung bringen lässt, nicht zuletzt mit Hilfe sozialdemokratischer Burgfriedenspolitik. Es gehört heute keine großartige Weitsicht mehr zu der Voraussage, dass das 21. Jahrhundert eine Epoche zunehmender Aufstände und „asymmetrischer“ Kriege gegen die globalen Unterdrückermächte wird. Dazu genügt schon der Realismus des ehemaligen Verteidigungsministers Peter Struck, der den sozialdemokratischen Burgfrieden mit dem Kapital auf die zeitgemäße Formel brachte, Deutschland werde heute am Hindukusch verteidigt. – Und in Libyen, nicht wahr Herr Gabriel, Frau Nahles?
Seitdem muß klar sein, auf welche Seite in diesen Konflikten linke Parteien sich nur stellen können, die weltweit als Linke bestehen wollen: Nicht auf die Seite von Bundeswehr-, NATO- oder EU-Einsätzen, unter welchem „robust humanitären“ Mandat auch immer. Für diese Sicht der künftigen Entwicklungen wird sich jedoch lange keine gesellschaftliche Mehrheit in Deutschland finden. Da muß die LINKE in der Tat wählen zwischen „Regierungsfähigkeit“ und Linksbleiben. Unsere eigenen Burgfriedenspolitiker haben es immerhin wieder nicht geschafft, die Friedensbarrikade der LINKEN aus dem Weg zu räumen. Ein dicker Pluspunkt für das Programm.
Massenbewegung, Opposition, Regierungsbeteiligung
Wie sich schon zur Landtagswahl in NRW 2010 zeigte, steht die Linke vor dem Dilemma, dass ein entschieden sozial-ökologisches Reformprogramm wohl gesellschaftliche Akzeptanz, aber ohne einen gehörigen Linksschwenk von SPD und Grünen keine parlamentarische Mehrheit findet, und dass einem darüber hinausgehend antikapitalistischen Programm auf absehbare Zeit die breite Basis in der Bevölkerung fehlt.
Aus diesem Dilemma gibt es nur einen Ausweg. Die Menschen müssen wieder lernen, Apathie, Resignation und mediale Verdummung zu überwinden und ihre Interessen selbst zu vertreten. Parteien können entsprechende Ansätze von Massenbewegungen unterstützen und befördern, aber wegen ihrer Einbindung in den parlamentarischen Betrieb, ihrer engen Verflechtungen mit der Staatsmacht taugen sie selbst schlecht als Gefäße der Massenorganisation.
Daraus ergeben sich zwei klare Kriterien für das Verhältnis der LINKEN zu außerparlamentarischen Bewegungen einerseits und zu möglichen Regierungseintritten andererseits:
1. Weg von parlamentarischer Stellvertreterpolitik ohne Massenbasis, hin zur aktiven Unterstützung von Basisinitiativen.
2. Regierungsbeteiligung nur unter der Bedingung, dass sie von einer breiten, lebendigen, selbstbewußten außerparlamentarischen Basis getragen, inhaltlich bestimmt und kontrolliert werden kann.
Beide finden sich im Programm nur ungenügend wieder. Mit dem erst genannten Kriterium können wir sofort unmittelbar arbeiten. Es muß zu den Standardaufgaben jedes sich „links“ verortenden Menschen gehören, in sozialen und / oder ökologischen Bewegungen aktiv mitzumischen. Erst wenn auf diesem Weg ein gesellschaftlicher Klimawandel spürbar wird, macht ein Regierungseintritt der LINKEN Sinn.
Dagegen markiert der Streit um die Formulierung „roter Haltelinien“ im Programm, also unverhandelbare Grenzen linker Regierungsbeteiligung, eigentlich schon die Kapitulation der Partei vor Leuten, die sich lieber heute als morgen auf jeden Ministersessel drängen möchten.
Die gesamte bürgerliche Meinungsmache, aber auch manche LINKE-Vertreter tun so, als ob gesellschaftliche Interessen sich nur von der Regierungsbank herunter durchsetzen ließen. Eine solche Darstellung vernebelt das Wesen von Politik. Und sie entmündigt die breite Masse der unorganisierten Menschen zu passivem Stimmvieh. Alle politischen Veränderungen stehen zuerst in Opposition zum Althergebrachten und müssen aus der Opposition heraus das gesellschaftliche Klima schaffen, in dem sie zur Mehrheitsforderung werden. Erst dann rückt ihre staatliche Ausführung auf die Agenda. Erst dann ist eine linke Regierungsbeteiligung herangereift. Erst dann haben wir die Grundlage dafür, dass Regierungsbeteiligung uns nicht bloß zurück wirft auf den seit 100 Jahren immer gescheiterten sozialdemokratischen Versuch, den Tiger zu reiten. Auch die LINKE könnte daran nur scheitern.
Mein Fazit
Trotz schwerwiegender Mängel bestärkt dies Programm reformorientierte Linke ebenso wie Marxist-innen, in der LINKEN und mit ihr zusammen zu arbeiten. Kein anderes heute greifbares Parteiprogramm bietet mehr Aussicht auf realen gesellschaftlichen Fortschritt.
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