Dienstag, 18. Oktober 2016

Übernehmen Gangster die Macht? Fragen zum Vordringen des Rechtsradikalismus in staatlichen Institutionen


„So’n Quatsch,“ werden Sie, mein*e Leser*in, mit Ihrem kühlen Kopf denken, „jetzt dreht der Stammnitz ganz durch!“ Tatsächlich springen auf den ersten Blick so viele Gegenargumente ins Auge, dass die Titelfrage absurd erscheint. Heute noch viel absurder als etwa 1923, als ein bis dahin weithin unbekannter Anstreicher mit einer Handvoll radikaler Lumpen einen Marsch zur Münchner Feldherrnhalle unternahm und für die nächsten Jahre hinter Gittern verschwand. Aber was damals jeder kühle Kopf für unvorstellbar hielt, war zehn Jahre später grauenhafte Wirklichkeit in Deutschland.

„Geld regiert die Welt,“ nach der alten Volksweisheit sind die Bauern mit den dicksten Kartoffeln – zeitgemäßer ausgedrückt: die Eigentümer der mächtigsten, kapitalstärksten Finanz- und Industriekonzerne – die eigentlichen Beherrscher der Welt. Und dies umso mehr, je mehr Kapital sie kommandieren. Also heute noch viel mehr als vor 75 Jahren, als nach dem deutschen Überfall auf ganz Europa und Russland und dem japanischen Überfall auf Pearl Harbour der amerikanische Präsident Roosevelt feststellte, die Welt sei „von den Grundsätzen des Gangstertums beherrscht.“

Wer von uns Heutigen es sich nicht so bequem macht, das Nazi-Gangstertum als einzigartigen, eigentlich ganz unbegreiflichen und gerade deswegen unwiederholbaren Betriebsunfall in der historischen Aufwärtsentwicklung abzutun, steht für unsere Gegenwart und Zukunft vor beunruhigenden Fragen:

1.- Grundsatz Kapitalvermehrung oder Gangstertum? Was bewog die deutsche, italienische, japanische Kapitalistenklasse, die Staatsgewalt an notorische Verbrecherbanden zu übertragen, während ihre Konkurrenten in USA, England, Frankreich weiterhin auf Demokratie setzten? Gibt es grundsätzliche Wesensunterschiede zwischen den (auch damals schon) global vernetzten Finanzoligarchien? Oder wechseln sie zwischen friedlich-demokratischen und gewaltsamen Herrschaftsmethoden je nach der Zuspitzung ihrer Konkurrenzkämpfe um Märkte, Rohstoffe, Anlagesphären usw.? Müssen wir folglich damit auch weiterhin rechnen?

2.- Soweit die Motive für den Wechsel von der „Weimarer“ Republik zum Naziterror mit den Krisen nach dem 1. Weltkrieg und der besonders schweren, tiefen Wirtschaftskrise 1929-33 zusammenhingen: Welchen politischen Sprengstoff brüten die heutigen Krisen aus, die ja nicht weniger die Kapitalvermehrung bedrohen? Wird wieder ein autoritäres Regime gebraucht, um die Krisenlasten ganz auf die eigene Bevölkerung und abhängige Völker abzuwälzen?

3.- Krise und Krieg: Seit den 90‘er Jahren nehmen die „Stellvertreterkriege“ weltweit dramatisch zu, an Zahl, Umfang der Zerstörungen und zivilen Opfern. Damit wächst die Gefahr direkter militärischer Konfrontation der Großmächte. Die EU wird gepriesen als Garant des Friedens zwischen den früheren europäischen Kriegsgegnern. Doch seit der Wirtschafts- und Finanzkrise 2008, die in vielen Ländern bis heute nicht überwunden ist, zerfällt die EU, und hinter der Friedensfassade tritt der alte deutsche Vormachtanspruch wieder herrisch ans Licht. Werden die rechtsradikalen Banden in vielen Ländern, aber auch bei uns von der Staatsmacht gedeckt und offen oder heimlich gefördert, um mit Chauvinismus und Herrenmenschendünkel (gegen Muslime, die „faulen Griechen“, Flüchtlinge, Einwanderer generell usw.) die Bevölkerung wieder kriegsbereit zu machen? Und um die Demokratie Schritt für Schritt im Ausnahmezustand zu ersticken, siehe Frankreich?

4.- Beinahe im Wochentakt folgt schon ein Anti-Terror-Gesetz dem anderen. Unbestreitbar werden damit Menschenrechte und demokratische Freiheiten eingeschränkt und abgebaut. Sind die rechten Terrorbanden auch willkommen, um die sich allmählich formierende demokratische Opposition einzuschüchtern und Gegenwehr zu kriminalisieren?

5.- Der Wechsel zu einem autoritären Regime fällt nicht wie ein Blitz aus heiterem Himmel, er benötigt mehr oder weniger lange Vorbereitungsetappen: In den Köpfen müssen „Grundsätze“ ausgewechselt werden. Dazu müssen die Medien auf Linie gebracht werden. Sie vor allem müssen Feindbilder erzeugen, popularisieren und ins Unterbewußtsein hämmern. (Das haben wir von Hugenberg und Goebbels gelernt, in Krisenzeiten braucht das Kapital äußere Feindbilder.) Es müssen flächendeckend rechtsradikale Massenorganisationen aufgezogen, verankert, zur Straßengewalt erzogen, ihr Führungspersonal ämtertauglich geschult werden. Staatliche Überwachungs- und Verfolgungsorgane lassen sich nur Zug um Zug ausbauen. Usw. Fragen also: Tragen die aktuellen Maßnahmen selbst zur Eskalation der Krise bei? Was fehlt noch zur Vorbereitung eines Krisenregimes? Wird das Fehlende schon wo in Angriff genommen?

Während jeder dieser Etappen kann einen Regimewechsel die gesellschaftliche Opposition stoppen – solange sie noch dazu fähig ist. Die notwendige Stärke gewinnt sie nur, wenn sie die Gefahr früh genug erkennt und sich früh genug dagegen einigt. Deshalb sind diese Fragen gar nicht so absurd. Jede*r sollte sich mit kühlem Kopf Wissen und Klarheit darüber verschaffen, dass diese Entwicklungen, die heute weit außerhalb unserer Vorstellungskraft liegen – uns dennoch drohen, wenn wir sie nicht aktiv verhindern. Die Haltung „Es wird schon nicht so schlimm kommen“ hat schon damals nichts verhindert, sondern das Unvorstellbare erst ermöglicht.

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