Freitag, 22. Juni 2018

Wie „68“ mein Leben veränderte. Erfahrungsbericht - Teil 2


Am 18. Februar 1968 zogen durch Westberlin 15.000 junge Vietnamkriegsgegner. Ich mitten mang. Wir verbanden den Protest gegen den US-Imperialismus mit der schon seit zehn Jahren existierenden Kampagne für Frieden und Abrüstung, gegen die Aufrüstung und Kriegsvorbereitung der Bundeswehr, mit der Anti-Atom-Bewegung und dem Ostermarsch, der es dann zu Ostern 1968 auf 300.000 Teilnehmer brachte.
Dass diese Friedensbewegung auch von verbotenen kommunistischen Organisationen getragen wurde, nahmen die marktbeherrschenden Großmedien zum Vorwand, die ganze oppositionelle Bewegung als „fünfte Kolonne Moskaus“ zu diffamieren. Allen voran der Springerverlag, der damals etwa die Hälfte des bundesdeutschen Zeitungs- und Zeitschriftenmarktes beherrschte, erklärte den Sozialistischen Deutschen Studentenbund und dessen Wortführer Rudi Dutschke zum „Staatsfeind Nr.1“. Als daraufhin ein verhetzter BILD-Leser am 11.04.68 Dutschke niederschoss, was diesen für den Rest seines Lebens zum geistigen Krüppel machte, kam es in vielen Städten zu gewaltsamen Versuchen, die Springerzeitungen am Erscheinen zu hindern.
Als im Mai 1968 in Frankreich Hunderttausende auf die Straße gingen, erkannten wir einen wesentlichen, noch bis heute nachwirkenden Unterschied zwischen Deutschland und Frankreich: Während dort die Gewerkschaften mehr als 10 Millionen Franzosen zum Generalstreik gegen das autoritäre Regime des Generals De Gaulle mobilisierten, fand sich bei uns nur eine kleine Minderheit der Arbeiterklasse zum Bündnis mit den rebellischen Studenten bereit, die große Mehrheit blieb passiv abwartend, und die Gewerkschaftsführungen verteidigten ihre SPD-Genossen in der großen Notstandskoalition mit zum Teil genauso übler Hetze wie die Springerpresse.
Daraus zogen viele von uns, auch ich,  den Schluss, dass eine Demokratie von unten nur eine Chance bekommt, wenn die Arbeiterbasis sie zu ihrer eigenen Sache macht, und sei es notfalls auch gegen die eigenen Funktionäre, denen offenbar die Sozialpartnerschaft mit den Herrschenden wichtiger war als die Demokratie. Erst dadurch wurde auch mir das Engagement für Demokratie und gegen den Krieg zu einer Klassenfrage, und ich begann mich für Theorien über Gesellschaftsklassen, ihre unterschiedlichen Interessen und die Klassenkämpfe zwischen Kapital und Arbeit zu interessieren.
Erst mit zweijähriger Verspätung, im Herbst 1969 explodierte die allgemeine Unzufriedenheit auch in der westdeutschen Arbeiterschaft in einer riesigen Welle spontaner -„wilder“- Streiks, auch diese zum Teil brutal bekämpft von sozialpartnerschaftlichen Gewerkschaftsführern.
Im Herbst 1968 hatte ich nach bestandenem Examen ein Arbeitsangebot beim Stadtplanungsamt von München angenommen. Schon wenige Tage nach meinem Umzug fand ich dort den Weg zum „Republikanischen Club“, einem Haufen liberaler Intellektueller und linker Gewerkschafter. Sie bezeichneten sich selbst als „außerparlamentarische Opposition“ (APO) gegen die „Große Notstandskoalition“. Sie bemühten sich, ihre Basis in der Bevölkerung zu verbreitern durch die Bildung von Basisgruppen auf Stadtteilebene, die Mieter gegen Spekulanten und deren politische Komplizen zu mobilisieren suchten. 
Diese Verbindung von Opposition mit praktischer Veränderung entsprach ganz meinen Vorstellungen. Die Interessengegensätze zwischen Vermietern und Mietern und daraus entspringende Konflikte in der Stadtplanung fand ich treffend erklärt in Friedrich Engels´ Schrift “Zur Wohnungsfrage“. Von ihr aus begann ich darüber nachzudenken, wie ungerecht es ist, daß enorm ungleiche Einkommen auf dem Markt gegeneinander konkurrieren müssen, und worauf diese Einkommensunterschiede beruhen. Über Engels erschlossen sich mir die grundlegenden Schriften von Karl Marx. (“Lohn, Preis und Profit“, “Lohnarbeit und Kapital“, später sein Hauptwerk “Das Kapital“ und viele mehr.)
Aus den Stadtteilgruppen heraus gründeten wir antiautoritäre Kinderläden, in einem von denen arbeiteten meine Frau und ich aktiv mit und wussten unseren Sohn in kindgerechten Verhältnissen gut aufgehoben.
1972 starteten wir eine Rot-Punkt-Aktion gegen Fahrpreiserhöhungen in städtischen Bussen und Bahnen. Wir setzten uns auf die Straßenbahnschienen, fuhren gemeinsam “schwarz“ und riefen Autofahrer auf, Leute kostenlos mitzunehmen, um so Druck auf die Verkehrsbetriebe auszuüben. Wir unterlagen, wie in anderen Großstädten, der geballten Ordnungsmacht.
Erfolgreicher war eine Kampagne zur Öffnung eines großen Klosterparks für die Bevölkerung, vor allem für die Kinder, denen es an Grün- und Spielflächen mangelte. Nach einigen Wochen gab die Kirche nach, ließ die Mauer abreißen und stellte den Park der Öffentlichkeit zur Verfügung.
Als ich 1972 wegen meiner Aktivitäten gegen die mieterfeindliche Sanierungspolitik der Stadt München meinen Job verlor, wechselte ich in einen Industriebetrieb und schulte zum Werkzeugmacher um.
Diesen Weg gingen viele „68er“. – Das Etikett „Studentenbewegung“ trifft auf 1968 überhaupt nur soweit zu, als Studenten und Schüler in allen Gesellschaften die mobilsten Gruppen bilden, am schnellsten zum Rebellieren neigen und so auch an „1968“ überproportional beteiligt waren. Aber es würde der Sache nicht gerecht, die Inhalte und Ziele dieser Bewegung auf studentische Belange, die Zustände an den Hochschulen oder die katastrophalen Defizite im deutschen Bildungswesen zu reduzieren.Was wir lernten, war: Eine "Studentenbewegung" bleibt eine Kinderei, wenn die Arbeiter sich nicht bewegen.
Dennoch haben wir Veränderungen bewirkt, die heute noch auf Schritt und Tritt zu spüren sind. Einen Klimawandel in der Gesellschaft. Einen Grad der Befreiung des Individuums, wie es ihn für die breite Masse noch nie gegeben hatte. Und zwar in Solidarität miteinander. Eine Generation war aufgestanden, emanzipierte sich von überlebten Obrigkeiten, veränderte ihre eigenen Verhältnisse, lernte besser miteinander zu leben.
Hätten wir mehr erreichen können? Nein, die Revolte konnte zu keiner Revolution aufwachsen, weil die APO sich nicht auf eine bessere Alternative zum kapitalistischen System einigen konnte, sondern sich darüber heillos zerstritt. Das war allerdings keine deutsche Besonderheit, sondern globale Folge der Spaltung der kommunistischen Weltbewegung zwischen dem Sowjetblock und der VR China. In diesem Streit schlug ich mich auf Maos Seite – aber China war ein armes, unterentwickeltes Bauernland, dessen System auf unser hochproduktives Industrieland übertragen zu wollen, war kindisch naiv. Es bewies nur, daß wir von der materiellen Basis einer Gesellschaft keine blasse Ahnung hatten, jeder Fabrikarbeiter konnte nur den Kopf über uns schütteln.
Aus diesem Grund blieben die Veränderungen, die wir erkämpften, auf den Überbau beschränkt, auf den Zustand der Demokratie, die Gesetzgebung und die Kultursphäre. Da haben wir tatsächlich einiges verändert, was sich in den Folgejahren manifestierte: Liberalisierungen des Strafrechts, der Erziehung und Bildung, Gleichstellung der Frau usw. Aber die kapitalistische Struktur der wirtschaftlichen Basis konnten wir nicht ernsthaft angreifen, weil wir keine Alternative hatten. Eine soziale Bewegung erreicht immer nur höchstens die Veränderungen, zu denen die jeweilige Zeit, das heißt die Gesellschaft als ganze reif ist. Zu mehr war unsere Gesellschaft nicht reif.

Ab 1970 begann die Bewegung merklich abzuflauen. Die oppositionellen Zirkel reagierten darauf entweder mit ihrer Auflösung oder mit regionalen und überregionalen Zusammenschlüssen. Damit begann ein – heute lächerlich wirkender Veitstanz linker Möchtegern-Parteien, die sich gegenseitig verbissen bekämpften. Je mehr sie in die Isolation gerieten, umso mehr steigerten sie sich in “Vorhut“-Phantasien hinein. Von Abenteurern, die vom bewaffneten Kampf träumten und jede Rangelei mit der Polizei schon als solchen ausgaben, distanzierten wir uns scharf, ebenso vom etwas später auftretenden Baader-Meinhof-Terror. – Was die Massenmedien jedoch nicht hinderte, wider besseres Wissen die ganze 68’er Revolte als gewalttätig zu diffamieren, um den von uns erzwungenen Wandel zu mehr Demokratie wieder zurück zu drehen. Zehn Jahre lang machten die „Anti-Terror-Gesetze“ jegliche Opposition gegen die Wende zum neoliberalen Gesellschaftsmodell mundtot.

Wie Ihr seht, ließ ich mich nicht mundtot machen. Meine Empörung hat nicht nachgelassen. 1980  war ich einer der Aktivsten gegen die Kandidatur des Altnazis F-J Strauß zum Bundeskanzler. Die konnten wir verhindern. Meine 68er-Erfahtrungen waren denn auch ein entscheidendes Motiv, mich 1995 der PDS anzuschließen, um auch in Westdeutschland wieder eine starke antikapitalistische Alternative zu bekommen.

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