Die 68’er-Revolte wird in den Medien gern als
„Studentenbewegung“ bezeichnet. Meine Beweggründe zur aktiven Teilnahme an den
68’er Kämpfen hatten so gut wie nichts mit Hochschul- oder Bildungspolitik zu
tun. Auch ich empfand die Gängelung an der Uni durch autoritäre Prof‘s als
hinderlich für die freie Entfaltung meiner Fähigkeiten. Doch im Sommer 1967
stand ich schon am Abschluß meines Studiums an der TU Berlin, unmittelbar vor
der Diplomprüfung.
Politik hatte mich bis dahin wenig
interessiert, kaum daß ich Zeitung las. So ließ es mich auch kalt, wie der
Berliner Senat mit großem Brimborium einen orientalischen Gewaltherrscher
empfing, den Schah von Persien. Doch am 2.Juni 1967 lag plötzlich einer, der
dagegen protestierte, auf der Straße, hinterrücks erschossen von einem
Westberliner Polizisten. Das ging auch mir zu weit. Am 3.Juni stand ich auf der
Straße, zum erstenmal in meinem Leben, versuchte Knüppelhieben auszuweichen,
Wasserwerfern zu widerstehen, Polizeiketten zu durchbrechen und Verhaftungen zu
verhindern.
Widerstand gegen die Staatsgewalt – das
passte nun überhaupt nicht in das Weltbild eines gutwilligen, idealistischen
Bürgersöhnchens. Warum schlug der Staat, dem ich bis dahin rückhaltlos vertraut
hatte, friedlich demonstrierende Schahgegner, die keinerlei Machtmittel besaßen
außer Worten, dermaßen brutal nieder?
Während die ganze demokratische
Öffentlichkeit noch darüber diskutierte, steigerten sich die Westberliner
Frontstadt-Profis, an der Spitze die Springerzeitungen, rasch in eine wüste
Hetzkampagne gegen “die Studenten“, und steigerte sich die Staatsmacht in wahre
Knüppelorgien hinein. Und ich auf einmal mitten drin.
Über die Straßenaktionen kam ich in Kontakt
zu studentischen Gruppen, besuchte “Teach-ins“ und beteiligte mich am Aufbau
einer “Kritischen Universität“. Lernte dort die Wortführer der internationalen
Protestbewegungen verstehen. So erinnere ich mich an eine riesige Versammlung
in der Freien Universität mit dem 1933 in die USA emigrierten Philosophen
Herbert Marcuse.
Der hatte vier Jahre vorher als einer der
ersten mit seinem Buch „Der eindimensionale Mensch“ eine systematische Kritik
der „modernen Industriegesellschaft“ der Gegenwart vorgelegt; diese
Gesellschaft beschrieb er als manipuliert durch entfremdete Arbeit für eine
ausbeuterische Technokratie, eine totalitäre Konsumwerbung sei für die
Industrie unverzichtbar, ebenso die bürokratische Verwaltung im „Wohlfahrts-
und Kriegführungsstaat“, eine alle Widersprüche verkleisternde Massenkultur und
positivistische Herrschaftswissenschaft.
Als ersten Schritt einer Gegenstrategie
empfahl er uns die „große Weigerung“, einen Ausstieg aus dem kapitalistischen
System. Seine Konsumkritik bildete eine Wurzel zunächst der Hippie- und
Landkommunenbewegung, etwas später bei uns auch der grün-alternativen
Ideologie. Allerdings stellten sowohl Marcuse als auch der damals
einflußreichste Studentenverband SDS sogleich klar, dass eine Ablehnung des herrschenden
Systems ohnmächtig bleibe, solange die gesellschaftliche Opposition sich nicht
auf eine bessere Alternative verständigt habe. Diese könne nur sozialistisch
sein, aber auch nicht so wie der repressive Sowjetkommunismus.
Das alles ging mir damals zu schnell und zu
weit. Die aktuellen Ereignisse drängten mir viel näher liegende Fragen auf:
Warum brauchte unsere Demokratie auf einmal Notstandsgesetze? Welcher Notstand
drohte denn, dass dagegen eigens eine große Koalition gebildet werden musste?
Lief das nicht auf eine Kriegserklärung an eine aufmüpfige, aber doch radikal
demokratische Minderheit der Gesellschaft hinaus?
Bestand da tatsächlich ein Zusammenhang mit
den vielen ehemaligen Nazigrößen an den Schaltstellen der Republik, sogar in
den höchsten Staatsämtern (Lübke, Carstens, Strauß, Kiesinger)? Waren die für
die mangelnde Aufarbeitung der deutschen Schuld an den NS-Verbrechen
verantwortlich? Und somit auch für das Wiedererstarken rechtsextremer Parteien?
Die Gründe, die mich in die Revolte hineinrissen,
waren also zunächst rein demokratischer Art. Nach dem 2.Weltkrieg hatten sich
unter der Führung der Schutzmacht USA die westlichen Staaten allesamt in
bürokratische und militärische Herrschaftsapparate verwandelt, die mit den
freiheitlichen Ideen der Aufklärung und des Humanismus nicht mehr in Einklang
standen.
Dass der Schah von Persien eine Kreatur der
US-Weltmacht war und deren Statthalter am erdölreichen Golf, wusste ich ja.
Aber gegen diese Weltmacht hatte ich doch nichts – im Gegenteil hatte die
amerikanische Kultur auch mich sehr geprägt.
Gewiss, seit einigen Jahren führten die USA
einen schmutzigen Krieg gegen kommunistische Untergrundkämpfer im fernen
Vietnam – aber war der Vietcong nicht der verlängerte Arm einer anderen, uns
viel unheimlicheren Weltmacht? Dass ich mit Kommunismus oder Sozialismus nicht
das geringste anfangen konnte und wollte, fand ich noch bestätigt, als
sowjetische Panzer den “Prager Frühling“, die Emanzipationsbestrebungen in der
Tschechoslowakei niederwalzten. Auch das geschah 1968, aber das konnte und
durfte uns doch nicht hindern, gegen die Unterstützung des schmutzigen
US-Feldzugs in Vietnam durch unsere Regierung zu protestieren.
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