Die Entscheidung der SPD für die Fortsetzung des großen Weiter-so und mithin für ihren Abgang in die historische Gerümpelkammer stellt uns vor die Zwangslage, dass in Deutschland auf absehbare Zeit keine Regierung mehr gegen die Schwarzen-Gelb-Blau-Grünen und Braunen möglich wird. Daraus haben wir Konsequenzen zu ziehen. Ein Weiter-so ist auch für die gesellschaftliche wie parteiliche Linke keine vernünftige Strategie mehr. Was heute vernünftig ist, lässt sich aber, wenn man will, schon ziemlich genau eingrenzen.
Nach dem Philosophen Immanuel Kant, der versuchte, im aufkommenden
Kapitalismus Ethik neu zu bestimmen, können und müssen wir unsere Pflicht aus
unserer Fähigkeit zur Vernunft ableiten. Pflicht und Tugend ließen sich durch einen
logischen Mechanismus definieren, der allen Menschen gemeinsam sei. Der
Menschenfreund Jean Jaques Rousseau hat den Glauben an die Allmacht der
Vernunft in die ideale Form eines Gesellschaftsvertrags ("contrat social")
gegossen.
Später, als wir auch diesen Glauben auf den Prüfstand der Wissenschaft
stellten, fanden wir: Weder Vernunft noch Ethik sind allgemein menschliche
Eigenschaften, sondern entstanden in Jahrtausende langer Evolution als Spaltprodukte
der Klassengesellschaft(en). In Epochen, in denen Gesellschaftsklassen, aus
materiellen Gründen, einander antagonistisch gegenüberstehen, ist Klassenversöhnung
unvernünftig und Klassenkampf vernünftig.
Das haben sämtliche Sozialreformer immer hoch und heilig bestritten.
Wer auf allgemein Menschliches schwört, muss implizit oder explizit die
Klassenspaltung der Gesellschaft leugnen. Ein Interesse, den Wunderglauben allgemein
menschlicher Vernunft aufrecht zu erhalten, haben jetzt nur noch die
besitzenden und herrschenden Klassen (sowie deren reformistische Bauchredner).
Was die Lohnabhängigen, Prekarisierten und Milliarden Selbstversorger
der Erde tatsächlich gemeinsam haben, ist die Klassenvernunft zur Durchsetzung
einer nicht-marktbestimmten, solidarischen Wirtschafts- und Lebensweise von
unten. Also die praktische Lösung der Eigentumsfrage: Commons plus Ökologie
plus Aneignung digitaler Technologie.
Die solidarische Gesellschaft müssen wir nicht völlig neu erfinden,
es existieren viele gute und mutige Ansätze. In den aktuellen Krisen zeigt
sich, dass die Menschen besonders in den Krisenländern ihre eigenen
vernünftigen Alternativen suchen und finden. Weltweit, besonders in Südamerika
und Südeuropa, beginnen Städte und ganze Regionen sich gegen imperiale Verwertung
und neoliberale Bevormundung zu stellen. In selbstorganisierten
Basisbewegungen, zum Teil mit mutigen Politiker-innen an der Spitze unternehmen
sie erste Schritte, sich selbst zu regieren.
Vielleicht stößt die von Oskar L. und Sahra W. aufgegriffene
Idee einer Sammlungsbewegung in Form einer neuen linken "Volkspartei"
diese Tür auch bei uns weiter auf? Natürlich provoziert sie einen Aufschrei
nicht nur der neoliberalen Gralshüter, sondern auch aller Dogmatiker und
Reformist-innen auf der Linken. Sie könnte aber der zeitgemäßen Klassenvernunft
der Beherrschten eine breitere Basis schaffen.
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