Donnerstag, 8. Oktober 2015

Notizen aus der Provinzhauptstadt: Das Boot ist niemals voll. Fakten gegen dummdreiste Lüge


BILD und rechtslastige Parteien bis in die Bundesregierung hinein fahren seit Monaten eine massive Kampagne gegen das deutsche Asylrecht und offene Grenzen für Flüchtlinge. Verschreckte, unwissende Bürger plappern ihnen nach, das Boot sei voll, die Obergrenze unserer Belastbarkeit überschritten usw. Da wir mit solchen Äußerungen auch an unseren Infoständen konfrontiert werden, hier ein kleiner Faktencheck am Beispiel Dortmund, erstellt für unsere Bezirksgruppe Hörde:

Wie groß waren die Zuwanderungswellen, die Dortmund in neuerer Zeit verkraftet hat? Vor welche Probleme stellten sie die Stadt, und wie hat Dortmund sie verkraftet? Gibt es eine sachlich begründete Obergrenze der Aufnahmefähigkeit?

Schon Dortmunds Aufstieg von einer beschaulichen Kleinstadt zum montanindustriellen Zentralort des östlichen Ruhrgebiets war nur möglich, weil die Herren der Zechen und Hütten massenhaft Arbeitskräfte vor allem aus Schlesien und Polen anwarben. Zwischen 1871 und dem 1. Weltkrieg versiebenfachte sich Dortmunds Einwohnerzahl nahezu: von 44.000 auf knapp unter 300.000. Das waren über vierzig Jahre lang jedes Jahr 7.500 Menschen mehr. So viele Menschen mit Wohnraum zu versorgen, war eine Herkulesaufgabe, und obgleich ganze Stadtviertel mit „Mietskasernen“, Tausende Werks- und Genossenschaftswohnungen aus dem Boden schossen, herrschte bis in die 1920er Jahre Wohnungsnot wie in „Zille sein Milieu“. Viele der Neu-Dortmunder sprachen bei ihrer Ankunft kein oder nur gebrochenes Deutsch, dennoch verlief ihre Integration ohne schwere ethnische Konflikte.

Der 2. Weltkrieg dezimierte die Dortmunder Bevölkerung um 200.000. Doch ab 1945 wuchs sie dann in zehn Jahren um 290.000 an, um fast 30.000 jährlich. Darunter nicht nur heimgekehrte Dortmunder-innen, sondern ca. 90.000 Kriegsflüchtlinge aus den ehemals deutsch annektierten Gebieten Osteuropas. Diese Flüchtlinge waren nicht selten Anfeindungen der Einheimischen ausgesetzt, nicht nur wegen gewisser amtlicher Vergünstigungen (Flüchtlingsausweis, Vorrang bei Wohnungsvergabe, Lastenausgleich), sondern weil jeder Flüchtling an die größte Schande des deutschen Volkes und die Oberklassen an ihre tiefste Niederlage erinnerte. Doch auch diese Fluchtbewegung verhalf Dortmund zu einem „wunderbaren“ Wirtschaftsaufschwung (vor allem der Bauindustrie mit dem nächsten wahrhaft gigantischen Wohnungsbauprogramm).

Schon kurz darauf setzte eine neue große Zuwanderung ein. Besonders nach dem Mauerbau 1961warben die Unternehmen „Gastarbeiter“ aus halb Europa (Italien, Spanien, Portugal, Griechenland) und besonders der Türkei an. Dortmunds Bevölkerungssaldo stieg ab 1955 zehn Jahre lang um jährlich 4.500 Köpfe. Ohne sie hätte das „Wirtschaftswunder“ hier kaum stattgefunden, deswegen wurden sie hoch willkommen geheißen und bestens integriert.

Noch einen starken Zuwachs erbte Dortmund aus dem Konkurs des gescheiterten Sozialismus im Ostblock. Zwischen 1987 und 1991 kamen 37.600 Übersiedler aus der ehemaligen DDR, Aussiedler und Asylsuchende aus der SU zu uns, in jedem dieser vier Jahre 9.400. Sie waren aus politischem Kalkül, aber auch wegen ihrer Qualifikationen hoch willkommen.

– Und nun setzen wir dagegen, was Dortmund von der gegenwärtigen Massenflucht aus Nahost und Afrika erwartet: Nach dem sogen. „Königsteiner Schlüssel“, der die Verteilung der Asylbewerber in Deutschland regelt, bekommt Dortmund wöchentlich 50 Flüchtlinge zugewiesen, das macht aufs ganze Jahr 2015 hochgerechnet: 2.600. Dies ist tatsächlich die Zahl, mit der die Stadtverwaltung plant. Also nur ein Bruchteil dessen, was wir von sämtlichen früheren Zuwanderungswellen immer verkraftet haben. Und sollte eine größere Dunkelziffer nicht registrierter Flüchtlinge hinzu kommen, wäre auch das verkraftbar: die Stadt plant bis Jahresende 3.925 Plätze in Unterkünften und Wohnungen bereit zu stellen.

Fazit: Das ganze Geschwätz vom „vollen Boot“, „Obergrenzen der Belastbarkeit“ usw. ist rein demagogische fremdenfeindliche Hetze und Volksverdummung. (Das Dortmunder Beispiel schließt natürlich nicht aus, dass vorübergehend etwa in Bayern oder in dem einen oder anderen kleineren Ort im Bundesgebiet tatsächlich höhere Konzentrationen auf engem Raum entstehen, die dann aber den organisatorischen Mängeln in den staatlichen Behörden geschuldet sind.)

Übrigens halten unsere Unternehmer sich bei dieser Hetze ziemlich still. Warum? Weil viele der Flüchtlinge hoch qualifiziert und als Fachkräfte und Lohndrücker ihnen auch diesmal wieder willkommen sind. Dass dennoch rechte Populisten diese Panikkampagne betreiben, hat wiederum einen rein politischen Grund: Die aktuellen Flüchtlingsströme kommen alle aus Ländern zu uns, die kapitalistische Großkonzerne und westliche Regierungen im globalen Wettlauf um Rohstoffe ausgeplündert, verarmt, destabilisiert oder gar zerstört haben. An seine Mitschuld an dieser Barbarei möchte das deutsche Spießbürgertum nicht erinnert werden. Deshalb hetzt es die inländischen Opfer des Kapitalismus gegen die ausländischen.

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