Montag, 12. Oktober 2015

Was der Streit um „Obergrenzen“ verschweigt: Fluchtursachen sind Folge unserer Lebensweise


Im September 2015 veröffentlichte der Philosoph Slavoj Zizek „vier konstruktive Vorschläge zur Flüchtlingsfrage“.* Ausgehend von der unwiderlegbaren Voraussage, dass auf die Menschheit in näherer Zukunft noch weit größere – selbst verursachte ! – Migrationswellen zurollen, wenn sie so weiter macht, sieht er „die schwierigste und wichtigste Aufgabe in einem ökonomischen Wandel, der die Bedingungen abschaffen sollte, die zu Flüchtlingsströmen führen.“ Deren eigentliche Ursache sei der globale Kapitalismus, „und wenn wir ihn nicht radikal transformieren, werden sich den afrikanischen Flüchtlingen bald Einwanderer aus Griechenland und anderen europäischen Ländern anschließen… dann sind wir wirklich verloren.“

Zizek hat den Mut, daraus die Konsequenz zu ziehen: „In meiner Jugend nannte man einen solchen organisierten Versuch, das Gemeingut, die commons, zu regulieren, Kommunismus. Vielleicht sollten wir ihn neu erfinden. Vielleicht ist dies, langfristig gesehen, unsere einzige Lösung.“

Eine ebenso nüchterne wie mutige Konsequenz, der gewiss nicht viele Leser/innen folgen mögen. Aber war es denn nicht immer so, dass zuerst Einzelne die Zeichen der Zeit richtig deuten und die Kühnheit zu richtigen Schlüssen aus ihnen aufbringen – dann kleine gesellschaftliche Minderheiten ihnen zustimmen – und erst in langwierigen, qualvollen Lernprozessen Mehrheiten Geschichte schreiben? Ein solches Geschichtsverständnis muss nicht zwangsläufig bei elitärem Personenkult landen, sondern es fordert jede-n auf, für gewonnene Einsichten einzustehen, sich auch unbequemen Einsichten zu öffnen, wenn nötig auch gegen den Strom zu schwimmen.

Es braucht heute schon viel Mut zu Zizeks Konsequenz. Aber sie ist und bleibt richtig.

*DIE ZEIT 10.09.2015 Seite 47

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