Vierzig Jahre lang, von 1949 bis 1989 gab die
westdeutsche Bundesrepublik das abstoßende Bild einer Demokratie auf dem
Rückzug. Ihre Parlamentsparteien lösten sich in wechselnden Koalitionen an den
Hebeln der Staatsmaschine ab, ohne dass sich an den gesellschaftlichen
Machtverhältnissen zwischen der großbürgerlichen Oligarchie und der subalternen
Mehrheit je etwas änderte; im Gegenteil sicherte die Austauschbarkeit der
„Volksparteien“ die ungefährdete Kontinuität der großbürgerlichen Herrschaft.
Der angebliche Souverän, die abhängig arbeitende Masse hat sich repräsentativ
befrieden lassen, hat das Bewußtsein der Klassenspaltung der Gesellschaft
beinahe restlos verloren und jeglichen Anspruch auf politische Macht aufgegeben
zugunsten der privaten Konkurrenz gleichberechtigter Verbraucher auf
Warenmärkten (zu denen inzwischen selbstverständlich auch die Politik zählt:
„Bringen Sie das Geld, dann können Sie mitreden“, F.J.Strauß). Nicht anders die
Masse der Erwerbslosen. Die einstige Klassenorganisation der Ausgebeuteten, die
Gewerkschaften haben den Klassenkampf gegen die Ausbeutung längst ersetzt durch
Verteilungskämpfe zwischen Berufsgruppen (unter denen der “Beruf“ des
Unternehmers nur als einer von vielen gilt).
Für Krisenzeiten wurde vorgesorgt. Sofern Kritik
sich zu Fundamentalopposition verfestigt, wird sie bespitzelt und bedroht mit
dem ganzen Arsenal des Polizei-, Straf- und Verfassungsrechts, von
Berufsverboten über Vereinigungsverbote bis zum noch immer rechtskräftigen
KPD-Verbot. Die 68‘er
Revolte verlief sich auf dem Weg in die Institutionen und ins Sektenabseits. Noch
Willy Brandts berühmtes Wahlversprechen von 1969 „Mehr Demokratie wagen“ gestand
im Subtext ein, dass für die herrschende Schicht Demokratie immer ein Wagnis
bleibt. Wozu die SPD sechzig Jahre brauchte, das schafften die Grünen in zehn:
Koalitionsfähig zu werden, das heißt verlässliche Stütze der bürgerlichen
Herrschaft.
Doch dann traten zwei weltgeschichtliche Ereignisse
ein und bringen nun die fein geknüpften Sicherheitsnetze der Macht
durcheinander. Beide hängen mit der Machterweiterung des deutschen Kapitals
zusammen.
1. Der Kollaps der DDR sah zunächst bloß nach
Kapitulation des Sozialismus vor der scheinbar haushohen Überlegenheit des
Kapitalismus und der bürgerlichen Demokratie aus. Doch er bereicherte auch die
nun gesamtdeutsche Gesellschaft um eine erkleckliche Anzahl Menschen, die auch
nach zwanzig Jahren leibhaftiger Erfahrung mit diesem Kapitalismus und dieser
Demokratie nicht vergessen wollen, dass eine Alternative dazu möglich und
erstrebenswert bleibt. Sie haben eine eigene Partei gebildet und sich mit
Gleichgesinnten im Westen zusammengeschlossen.
Diese Partei steht am Scheideweg. Ich halte es für
eine äußerst spannende und heute durchaus offene Frage, ob sie den Weg der SPD
und der Grünen geht und sich den Machthabern als weitere Reformvariante für
deren Herrschaft andient (mit Speck fängt man Mäuse) – oder ob sie sich zur Fundamentalopposition
verfestigt.
Diese müsste ja schon durch ihre bloße Existenz und
Selbstbehauptung allein gegen den ganzen repressiven und manipulativen
Herrschaftsapparat die Klassenspaltung der kapitalistischen Gesellschaft wieder
sichtbar und bewußt machen und die bürgerlichen Befriedungstechniken
unterlaufen. Damit, und das heißt: nur indem die LINKE sich zur
Fundamentalopposition durchringt – was natürlich Kämpfe um Reformen im
Interesse der Bevölkerungsmehrheit immer einschließt! – wäre die Machtfrage
historisch wieder offen.
2. Nicht zuletzt infolge des Untergangs des
sozialistischen Lagers hat das deutsche Kapital eine Stärke erlangt, die ihm
nun erlaubt (und es aufgrund der ökonomischen Logik auch dazu zwingt), ganz
Europa seinen, den deutschen Verwertungsbedingungen unterzuordnen. Damit droht
die aktuelle ökonomische und Krise der Staatsfinanzen in eine brandgefährliche
machtpolitische Konfrontation, zwischen dem deutschen „Kerneuropa“ und der von
ihm ruinierten, zur deutschen „Sonderwirtschaftszone“ entrechteten Peripherie
zu eskalieren.
Ich halte es für abenteuerlich, diesen Konflikt „von Deutschland aus“ lösen zu wollen, wie manche Linke es jetzt diskutieren: Die deutsche Linke hat nicht die Macht dazu – und die deutsche Rechte hat solche Konflikte nie friedlich-demokratisch gelöst. Die LINKE hat in dieser Lage für sich nur eine Möglichkeit: Sie muss sich bedingungslos ohne Wenn und Aber auf die Seite der anderen Völker gegen die deutsche Übermacht stellen. Und wenn die anderen ihr Recht auf Austritt aus dem Euro einfordern, dann müssen wir sie darin unterstützen. Alles andere käme der “Vaterlandsverteidigung“ der SPD von 1914 bis 2013 gleich.
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