Ideen sind Abbilder der objektiven Wirklichkeit, Interpretation und Vision der in ihr verborgenen Möglichkeiten, wie alle Bilder subjektiv gestaltet. Das gilt auch für die Wirtschaft. Wirtschaftstheorien sind subjektive, interessenbestimmte Ideen, wie die Wirtschaft funktionieren könnte.
In einer Gesellschaft, die alle Lebenssphären des Menschen auf den Markt, in den Wettbewerb zwingt, müssen auch Ideen gegeneinander um die Gunst der Kundschaft konkurrieren. Die Ziele der Kunden bestimmen die Nachfrage nach zielkonformen Theorien. Wer sind die Nachfrager von Wirtschaftstheorien? Natürlich diejenigen, die täglich darauf angewiesen sind, die Funktionen des Wirtschaftens möglichst „richtig“, das heißt zielkonform abzubilden, um ihr Handeln danach auszurichten. Zu allererst die Unternehmer. Je größer deren Marktmacht, umso bestimmender ihr Einfluß auf die Auswahl der jeweils vorherrschenden Wirtschaftstheorie. Die herrschenden Ideen sind die Ideen der Herrschenden, Karl Marx.
Wie „richtig“ eine Wirtschaftstheorie die Wirklichkeit abbildet, erweist sich am Erfolg des wirtschaftlichen Handelns. Jede Wirtschaftskrise ist unter anderem auch immer ein sicheres Indiz für die Unzulänglichkeit der herrschenden Wirtschaftstheorie. Das gilt sogar für Theorien, die eine quasi natürliche Krisenanfälligkeit des Kapitalismus zugeben und in ihre Erklärungsmuster einbeziehen: Krisen vermeiden können sie nicht, ohne den Boden des Kapitalismus zu verlassen. Je tiefer, dramatischer die Krise, umso dringlicher stellen die von ihr betroffenen Teile der Gesellschaft auch ihre alten Theorien auf den Prüfstand und suchen nach neuen Wegweisern aus der Krise. Wenn denn die Charakterisierung der gegenwärtigen Krise als „Systemkrise des Kapitalismus“ zutrifft, könnten wir eigentlich erwarten, daß die Herrschaften selbst ihre neoliberale Heilslehre auf den Schrotthaufen der überholten, als falsch erwiesenen Ideen entsorgen. Die Vitalität und Überlegenheit einer herrschenden Klasse zeigt sich historisch ja immer in ihrer Anpassungsfähigkeit an veränderte Verhältnisse.
Aber weit gefehlt. Damit sieht es gegenwärtig gar nicht gut aus. Eine Erkenntnis springt schon dem interessierten Laien ins bloße Auge: Die herkömmlichen Mittel der kapitalistischen Krisenbewältigung, als da sind: Kapitalvernichtung und -restrukturierung, Schuldenschnitte, Konzentration und Zentralisation der Produktionskapitale, Rationalisierung der Prozesse und Technologien, massenhafte Vernichtung überschüssiger Arbeitskraft, verschärfte Ausbeutung, Anpassung der Währungsrelationen usw., sie alle greifen in der gegenwärtigen Krise zu kurz. Das beim deutschen Bürgertum so beliebte Zusammenstreichen des Staatsverbrauchs („Sparprogramme“, „Schuldenbremsen“) verschärft die Krise sogar bedrohlich. Aber auch mit dem keynesianischen Werkzeugkasten allein ist ihr nicht beizukommen. Denn ihre Ursache war in der herrschenden Theorie gar nicht vorgesehen, sie liegt in einer völlig hypertrophen, so noch nie dagewesenen Überdimensionierung der Finanzsphäre gegenüber der Produktionssphäre auf Grundlage eines jahrzehntelangen schuldenfinanzierten Wachstums und der alles Gewohnte sprengenden Umverteilung der geschaffenen Werte in den Finanzsektor, der sich infolgedessen als fiktives, spekulatives Kapital von der materiellen Produktion abgekoppelt und verselbständigt hat. Da geht es jetzt nicht mehr bloß um den nächsten zyklischen Aufschwung aus der Talsohle der Konjunktur, sondern tatsächlich darum, eine systemische Fehlentwicklung des Ganzen zu überwinden. Es geht nicht mehr weiter wie bisher, rien ne va plus ohne Transformation des Kapitalismus in etwas neues.
Angesichts dieser enormen Aufgabe erscheint die Hilflosigkeit unserer Eliten, ihre Unfähigkeit oder mangelnde Bereitschaft, die alten Rezepte in Frage zu stellen, ihre feige Tabuisierung neuer Antworten geradezu selbstmörderisch. Ihre Ignoranz brachte Altkanzler Helmut Schmidt auf den bräsigen Nenner: „Wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen!“
Die neuen Ideen liegen ja längst auf dem Markt. Gegenwärtig läuft alles auf die Frage zu, welche Klasse der Gesellschaft den Mut und die Kraft aufbringt, sie sich anzueignen. Alle scheinen gespannt darauf zu warten. Es kommt aber darauf an, selbst zuzugreifen.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen