Freitag, 8. Januar 2016

Populismus heute: Krisensymptom des Kapitalismus


Ende 2015 startete in diesem Blog eine Folge von Beiträgen, erstellt für die Bezirksgruppe Hörde der Dortmunder Linkspartei, über Wesen und Wirken eines politischen Konzepts, für das sich das Etikett „populistisch“ eingeführt hat.1 Im ersten Beitrag der Folge (22.12.2015) konnte die historisch-materialistische Einordnung den Populismus der Gegenwart nicht bloß – wie etliche Politik- und Sozialwissenschaftler-innen – für eine kurzschlüssige Antwort von „rechts“- oder „links“-außen auf die Krise der Demokratie halten, sondern ergab: Populismus sei immer ein Reflex der herrschenden Klassen auf den Freiheitsdrang der Beherrschten, somit heute Krisensymptom des Kapitalismus und zugleich Zerfallsprodukt der Klassengesellschaft überhaupt. Diese These soll in mehreren Kapiteln weiter ausgeführt und mit Fakten untermauert werden. Das hier anschließende behandelt Entstehung und Ausbreitung der aktuellen populistischen Flut in Europa und Deutschland, weitere Teile folgen zu Wesensmerkmalen und Programmatik sowie zur politischen Wirkung populistischer Bewegungen.

1In der Sozial- und Politikwissenschaft wird der Begriff Populismus nicht in einer allgemein anerkannten Bedeutung verwendet. Eine einheitliche Definition gibt es bislang nicht. In Politik und Medien dient er häufig als Kampfbegriff ("Schlagwort"), um einen bestimmten gegnerischen Politikertypus oder Politikstil abzuwerten. – Hier soll es jedoch genau um die aktuelle politische Bewegung gehen, die sich z.B. in Deutschland um die AfD und PEGIDA sammelt.

Seit die Menschheit sich aufgespalten hat in Oben und Unten, Mächtige und Beherrschte, setzen die Oberklassen allgemein vier Methoden ein, um ihre Macht gegen unten abzusichern: Unterdrückung von Widerstand (legal oder nicht), Kauf von Hilfspersonal (mit Geld oder Privilegien), ideologisches Verkleistern der Wirklichkeit und Spaltung der Gegenkräfte durch Ablenkung und Resignation. Zur Ablenkung gehört auch, dem Volk nach dem Mund zu reden und scheinbar einfache Patentlösungen komplexer Probleme zu versprechen – also das was Politik und Wissenschaft mit dem Begriff „Populismus“ etikettieren. Die parlamentarische Demokratie, wie wir sie heute kennen, funktioniert nicht anders.

In den letzten fünfzig Jahren gab es in Westeuropa im wesentlichen drei Ideologien, auf die sich die Mächtigen ziemlich sicher verlassen konnten: die christlich-obrigkeitlich-konservative, die marktwirtschaftlich-individualistisch-neoliberale und die sozialdemokratisch-reformistische. Vor allem diese dritte hat inzwischen bei den Beherrschten so dramatisch an Glaubwürdigkeit verloren, dass sie zur Machtsicherung zusehends unbrauchbar wird. Abzulesen am schwindenden Einfluss der Gewerkschaften und an Wähler- und Mitgliederverlusten der sozialdemokratischen Parteien in ganz Europa.

Die Ursache für den Verlust an Bindekraft bürgerlicher Ideologien liegt in der epochalen Krise des kapitalistischen Systems. Bis etwa um 1970 waren die westeuropäischen Demokratien stark sozialreformerisch geprägt. Der Wirtschaftsaufschwung nach dem 2. Weltkrieg hatte Vollbeschäftigung und der Unterschicht einen gewissen Wohlstand ermöglicht; die Sozialsysteme sicherten den Fortschritt in der Lebenshaltung mit relativ geringen staatlichen Transferleistungen. Ab 1966/67 kam es zu wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umbrüchen, in der Bundesrepublik etwa markiert durch die Notstandsgesetze. 1973 brach das System fester Wechselkurse mit der Goldbindung der Leitwährung US-Dollar zusammen; die erste Ölkrise führte zu Arbeitslosigkeit und Insolvenzen in vielen industriellen Branchen. Die Versuche der Politik, antizyklisch gegenzusteuern, scheiterten. Die Regierungen der kapitalistischen Kernländer wandten sich vom (Neo-) Keynesianismus ab und dem Neoliberalismus zu. Damit ging für die abhängig Beschäftigten, aber auch für das Kleinbürgertum soziale Absicherung verloren. Spätestens mit der Banken- und Staatsschuldenkrise seit 2008 ist die Systemkrise ins allgemeine Massenbewußtsein gedrungen.

Etwa zeitgleich mit diesen Umbrüchen und als Reaktion auf sie kamen gegen Ende der 1970er Jahre zunächst in Dänemark und Norwegen neue Rechtsparteien auf, welche die von der Krise betroffenen Menschen umwarben. In Belgien entstand der Vlaams Blok; in Frankreich machte sich der Front National breit; in Österreich schwenkte die FPÖ auf einen populistischen Kurs; Anfang der 1990er folgte die SVP in der Schweiz. In Italien gründete 1993 der Bauspekulant und Medientycoon Silvio Berlusconi die Partei Forza Italia, mit der er nach nur einem Jahr zum Regierungschef gewählt wurde und dies bis 2011 viermal schaffte, 2009 firmierte er die Partei zu „Il Popolo della Libertà“ (PdL) um. Mit der Lijst Pim Fortuyn erreichte die Welle 2002 auch die Niederlande, die bis dahin als aufgeklärt, weltoffen und tolerant gegolten hatten.
In Deutschland war das populistische Feld lange zersplittert, hier kam es seit den 1990er Jahren zu einigen, teilweise wieder untergegangenen Gründungen, etwa der "Offensive für Deutschland" (ehemaliger FDP-Mitglieder), dem "Bund Freier Bürger" (mit engen Kontakten zu Haiders FPÖ), der Schill-Partei, der Partei "Die Freiheit" (des ehemaligen CDU-Mitglieds Stadtkewitz) , der Pro-Bewegung u.a. Erst 2013 gründete sich die „Alternative für Deutschland“ (AfD), die heute das populistische Feld beherrscht (siehe unten).

Kennzeichnend für diese neuen Parteien war und ist, dass sie keine geschlossene neue Ideologie formulierten (etwa zum Unterschied vom Neofaschismus), sondern sich aus existierenden Ideologien bedienen. Ihr zentraler Begriff „Volk“ ist diffus und erhält erst über Ideale wie Patriotismus, Freiheit oder Gerechtigkeit politischen Inhalt. Ihre Programmatik fokussieren sie meist auf einzelne Krisenerscheinungen, die sie aus dem Zusammenhang reißen und zu Krisen höchster Bedrohlichkeit für das bedrohte „Volk“ stilisieren. Zugleich bieten sie einfache Heilmittel für eine radikale Lösung der jeweiligen Krise an.

Charakteristisch für fast alle populistischen Parteien ist eine starke Führungsfigur, die an eine „Sehnsucht nach dem starken Mann“ appelliert und sich als Vorkämpfer für den Volkswillen gegen die etablierten Parteien und Institutionen inszeniert.

Während zu Anfang Europaskepsis und allgemeine Ausländerfeindlichkeit im Fokus standen, entdeckten die westeuropäischen Populisten nach den Anschlägen vom 11.09.2001 vor allem den Islam als Feind. Damit konnte der Populismus eine gemeinsame Identität sehr verschiedener Menschen schaffen, die durch Transformationsprozesse aus ihren ursprünglichen Milieus herausfallen. Ähnlich in Osteuropa, wo nach dem Zusammenbruch der sozialistischen Staaten grundlegende Veränderungen der Gesellschaften stattfinden, die die gesamte Bevölkerung treffen.

Erst gegen Mitte der 1990er Jahre setzte sich in der Politik- und Sozialwissenschaft, danach von dort aus in der politischen Öffentlichkeit die Kennzeichnung dieser neuen Strömung als Populismus durch. (Der Begriff selbst ist wesentlich älter, er wurde schon im 19. Jahrhundert auf Kleinbauernbewegungen in USA, Russland und Südosteuropa, im 20. Jahrhundert z.B. auf den Peronismus in Argentinien und den populistischen Diktator Vargas in Brasilien angewandt. Wie im ersten Teil belegt, gab es „populistische“ Politikkonzepte und Führer schon seit der Antike in allen Klassengesellschaften, auch wenn die Historiker sie nicht so genannt haben.)

Im europäischen Vergleich zeigen sich große Unterschiede zwischen den als populistisch eingeschätzten Parteien und Organisationen, bedingt durch die Betonung der nationalen Besonderheiten, die unterschiedliche Geschichte und Machtstellung der europäischen Staaten.

Die Alternative für Deutschland (AfD) entstand im Februar 2013 zunächst als Anti-Euro-Bewegung wirtschaftsliberaler National-Konservativer. Ihre politische Ausrichtung ist inzwischen heftig umstritten und bewegt sich seit dem Ausscheiden des Lucke-Flügels mit hohem Tempo nach rechts außen.
Deutliche Schnittmengen gibt es mit PEGIDA. Bernd Lucke erklärte schon Ende 2014: „Die AfD teilt viele Pegida-Forderungen“. In Düsseldorf wurde der erste DÜGIDA-Aufmarsch von dem lokalen AfD-Aktivisten Alexander Heumann organisiert, der auch Initiator der „Patriotischen Plattform“ der NRW-AfD ist und als Redner beim HOGESA-Aufmarsch rechtsradikaler Hooligans auftrat.
Zu den Neonazis der Neuen Rechten bestehen enge Verbindungen über die Zeitung „Junge Freiheit“, welche die AfD von Beginn an publizistisch unterstützt und sich zu einer informellen Parteizeitung entwickelt hat. Trotz noch bestehender Skrupel in der Parteiführung, mit den Nazi-Strukturen in Verbindung gebracht zu werden, bietet sich die AfD ihnen als parteipolitisches Dach an.

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