Ende 2015 startete in diesem Blog eine Folge von Beiträgen, erstellt für die Bezirksgruppe Hörde der Dortmunder Linkspartei, über Wesen und Wirken eines politischen Konzepts, für das sich das Etikett „populistisch“ eingeführt hat.1 Im ersten Beitrag der Folge (22.12.2015) konnte die historisch-materialistische Einordnung den Populismus der Gegenwart nicht bloß – wie etliche Politik- und Sozialwissenschaftler-innen – für eine kurzschlüssige Antwort von „rechts“- oder „links“-außen auf die Krise der Demokratie halten, sondern ergab: Populismus sei immer ein Reflex der herrschenden Klassen auf den Freiheitsdrang der Beherrschten, somit heute Krisensymptom des Kapitalismus und zugleich Zerfallsprodukt der Klassengesellschaft überhaupt. Diese These soll in mehreren Kapiteln weiter ausgeführt und mit Fakten untermauert werden. Das hier anschließende behandelt Entstehung und Ausbreitung der aktuellen populistischen Flut in Europa und Deutschland, weitere Teile folgen zu Wesensmerkmalen und Programmatik sowie zur politischen Wirkung populistischer Bewegungen.
1In der Sozial- und Politikwissenschaft wird der
Begriff Populismus nicht in einer allgemein anerkannten Bedeutung verwendet.
Eine einheitliche Definition gibt es bislang nicht. In Politik und Medien dient
er häufig als Kampfbegriff ("Schlagwort"), um einen bestimmten
gegnerischen Politikertypus oder Politikstil abzuwerten. – Hier soll es jedoch
genau um die aktuelle politische Bewegung gehen, die sich z.B. in Deutschland um
die AfD und PEGIDA sammelt.
Seit die Menschheit sich aufgespalten hat in Oben und Unten,
Mächtige und Beherrschte, setzen die Oberklassen allgemein vier Methoden ein,
um ihre Macht gegen unten abzusichern: Unterdrückung von Widerstand (legal oder
nicht), Kauf von Hilfspersonal (mit Geld oder Privilegien), ideologisches
Verkleistern der Wirklichkeit und Spaltung der Gegenkräfte durch Ablenkung und
Resignation. Zur Ablenkung gehört auch, dem Volk nach dem Mund zu reden und
scheinbar einfache Patentlösungen komplexer Probleme zu versprechen – also das
was Politik und Wissenschaft mit dem Begriff „Populismus“ etikettieren. Die
parlamentarische Demokratie, wie wir sie heute kennen, funktioniert nicht
anders.
In den letzten fünfzig Jahren gab es in Westeuropa im
wesentlichen drei Ideologien, auf die sich die Mächtigen ziemlich sicher
verlassen konnten: die christlich-obrigkeitlich-konservative, die
marktwirtschaftlich-individualistisch-neoliberale und die
sozialdemokratisch-reformistische. Vor allem diese dritte hat inzwischen bei
den Beherrschten so dramatisch an Glaubwürdigkeit verloren, dass sie zur
Machtsicherung zusehends unbrauchbar wird. Abzulesen am schwindenden Einfluss
der Gewerkschaften und an Wähler- und Mitgliederverlusten der sozialdemokratischen
Parteien in ganz Europa.
Die Ursache für den Verlust an Bindekraft bürgerlicher
Ideologien liegt in der epochalen Krise des kapitalistischen Systems. Bis etwa
um 1970 waren die westeuropäischen Demokratien stark sozialreformerisch
geprägt. Der Wirtschaftsaufschwung nach dem 2. Weltkrieg hatte
Vollbeschäftigung und der Unterschicht einen gewissen Wohlstand ermöglicht; die
Sozialsysteme sicherten den Fortschritt in der Lebenshaltung mit relativ geringen
staatlichen Transferleistungen. Ab 1966/67 kam es zu wirtschaftlichen und gesellschaftlichen
Umbrüchen, in der Bundesrepublik etwa markiert durch die Notstandsgesetze. 1973
brach das System fester Wechselkurse mit der Goldbindung der Leitwährung
US-Dollar zusammen; die erste Ölkrise führte zu Arbeitslosigkeit und Insolvenzen
in vielen industriellen Branchen. Die Versuche der Politik, antizyklisch
gegenzusteuern, scheiterten. Die Regierungen der kapitalistischen Kernländer
wandten sich vom (Neo-) Keynesianismus ab und dem Neoliberalismus zu. Damit
ging für die abhängig Beschäftigten, aber auch für das Kleinbürgertum soziale
Absicherung verloren. Spätestens mit der Banken- und Staatsschuldenkrise seit
2008 ist die Systemkrise ins allgemeine Massenbewußtsein gedrungen.
Etwa zeitgleich mit diesen Umbrüchen und als Reaktion auf sie
kamen gegen Ende der 1970er Jahre zunächst in Dänemark und Norwegen neue
Rechtsparteien auf, welche die von der Krise betroffenen Menschen umwarben. In
Belgien entstand der Vlaams Blok; in Frankreich machte sich der Front National
breit; in Österreich schwenkte die FPÖ auf einen populistischen Kurs; Anfang
der 1990er folgte die SVP in der Schweiz. In Italien gründete 1993 der Bauspekulant
und Medientycoon Silvio Berlusconi die Partei Forza Italia, mit der er nach nur
einem Jahr zum Regierungschef gewählt wurde und dies bis 2011 viermal schaffte,
2009 firmierte er die Partei zu „Il Popolo della Libertà“ (PdL) um. Mit der
Lijst Pim Fortuyn erreichte die Welle 2002 auch die Niederlande, die bis dahin
als aufgeklärt, weltoffen und tolerant gegolten hatten.
In Deutschland war das populistische Feld lange zersplittert,
hier kam es seit den 1990er Jahren zu einigen, teilweise wieder untergegangenen
Gründungen, etwa der "Offensive für Deutschland" (ehemaliger
FDP-Mitglieder), dem "Bund Freier Bürger" (mit engen Kontakten zu
Haiders FPÖ), der Schill-Partei, der Partei "Die Freiheit" (des
ehemaligen CDU-Mitglieds Stadtkewitz) , der Pro-Bewegung u.a. Erst 2013
gründete sich die „Alternative für Deutschland“ (AfD), die heute das
populistische Feld beherrscht (siehe unten).
Kennzeichnend für diese neuen Parteien war und ist, dass sie
keine geschlossene neue Ideologie formulierten (etwa zum Unterschied vom Neofaschismus),
sondern sich aus existierenden Ideologien bedienen. Ihr zentraler Begriff „Volk“
ist diffus und erhält erst über Ideale wie Patriotismus, Freiheit oder
Gerechtigkeit politischen Inhalt. Ihre Programmatik fokussieren sie meist auf
einzelne Krisenerscheinungen, die sie aus dem Zusammenhang reißen und zu Krisen
höchster Bedrohlichkeit für das bedrohte „Volk“ stilisieren. Zugleich bieten
sie einfache Heilmittel für eine radikale Lösung der jeweiligen Krise an.
Charakteristisch für fast alle populistischen Parteien ist
eine starke Führungsfigur, die an eine „Sehnsucht nach dem starken Mann“
appelliert und sich als Vorkämpfer für den Volkswillen gegen die etablierten Parteien
und Institutionen inszeniert.
Während zu Anfang Europaskepsis und allgemeine
Ausländerfeindlichkeit im Fokus standen, entdeckten die westeuropäischen
Populisten nach den Anschlägen vom 11.09.2001 vor allem den Islam als Feind.
Damit konnte der Populismus eine gemeinsame Identität sehr verschiedener
Menschen schaffen, die durch Transformationsprozesse aus ihren ursprünglichen
Milieus herausfallen. Ähnlich in Osteuropa, wo nach dem Zusammenbruch der
sozialistischen Staaten grundlegende Veränderungen der Gesellschaften
stattfinden, die die gesamte Bevölkerung treffen.
Erst gegen Mitte der 1990er Jahre setzte sich in der
Politik- und Sozialwissenschaft, danach von dort aus in der politischen
Öffentlichkeit die Kennzeichnung dieser neuen Strömung als Populismus durch.
(Der Begriff selbst ist wesentlich älter, er wurde schon im 19. Jahrhundert auf
Kleinbauernbewegungen in USA, Russland und Südosteuropa, im 20. Jahrhundert
z.B. auf den Peronismus in Argentinien und den populistischen Diktator Vargas
in Brasilien angewandt. Wie im ersten Teil belegt, gab es „populistische“
Politikkonzepte und Führer schon seit der Antike in allen Klassengesellschaften,
auch wenn die Historiker sie nicht so genannt haben.)
Im europäischen Vergleich zeigen sich große Unterschiede
zwischen den als populistisch eingeschätzten Parteien und Organisationen,
bedingt durch die Betonung der nationalen Besonderheiten, die unterschiedliche
Geschichte und Machtstellung der europäischen Staaten.
Die Alternative für Deutschland (AfD) entstand im Februar 2013
zunächst als Anti-Euro-Bewegung wirtschaftsliberaler National-Konservativer.
Ihre politische Ausrichtung ist inzwischen heftig umstritten und bewegt sich
seit dem Ausscheiden des Lucke-Flügels mit hohem Tempo nach rechts außen.
Deutliche Schnittmengen gibt es mit PEGIDA. Bernd Lucke
erklärte schon Ende 2014: „Die AfD teilt viele Pegida-Forderungen“. In
Düsseldorf wurde der erste DÜGIDA-Aufmarsch von dem lokalen AfD-Aktivisten
Alexander Heumann organisiert, der auch Initiator der „Patriotischen Plattform“
der NRW-AfD ist und als Redner beim HOGESA-Aufmarsch rechtsradikaler Hooligans auftrat.
Zu den Neonazis der Neuen Rechten bestehen enge Verbindungen
über die Zeitung „Junge Freiheit“, welche die AfD von Beginn an publizistisch
unterstützt und sich zu einer informellen Parteizeitung entwickelt hat. Trotz noch
bestehender Skrupel in der Parteiführung, mit den Nazi-Strukturen in Verbindung
gebracht zu werden, bietet sich die AfD ihnen als parteipolitisches Dach an.
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