Dienstag, 15. Dezember 2015

„Ein Dammbruch hat nicht stattgefunden.“ Der Euro und der Rechtsradikalismus


Auszug aus: „Lernen von Marine Le Pen“, von Daniel Binswanger, Das Magazin (Schweiz), 09.12.2015
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Es ist sicher richtig, dass Le Pen vom aktuellen Klima der Angst profitiert und dass ihre Kampagnen gegen die maghrebinische Minderheit heute besser verfangen als noch vor einem Monat. Dennoch ist die Erklärungskraft der Attentate begrenzt. Die rasanten Zuwächse des FN haben viel früher eingesetzt, lange vor dem Bataclan, lange vor Charlie Hebdo. Die heutige Steigerung stellt nichts anderes dar als die Verlängerung einer mehrjährigen Erfolgskurve. Ein Dammbruch hat nicht stattgefunden. Der Front National profitiert von einer langfristigen Entwicklung, deren Dynamik so schnell nicht wieder abflauen wird.
Nicht der Terrorismus, Europa ist die Erklärung. Nicht die Kalaschnikow, der Euro droht der Rechtspopulistin den Weg in den Élysée-Palast zu ebnen. Das heutige Programm des Front National besteht in seinem Kern in einer Rückgängigmachung der französischen EU-Integration: Austritt aus dem Euro, Aufkündigung von Schengen, Widerrufung der Zollunion. Marine Le Pens «Entdiabolisierung» des FN besteht weitgehend darin, das antisemitische Gepoltere ihres Vaters durch ein EU-feindliches Wirtschaftsprogramm zu ersetzen. Sie gibt sich damit nicht nur ein gemäßigteres, pragmatischeres Image. Sie gewinnt auch massiv an Glaubwürdigkeit. Denn obschon ihre Versprechungen demagogisch und unrealistisch sind, hat sie in einem Punkt recht: Die heutige Wirtschaftspolitik innerhalb der Eurozone schadet Frankreich. Wird sie nicht fundamental korrigiert, dürfte der Euro-Austritt irgendwann nicht mehr zu verhindern sein – vermutlich unter einer Präsidentin namens Le Pen.
Die französische Wirtschaftskrise hat selbstverständlich vielschichtige Ursachen, aber der Euro – so wie er heute funktioniert – ist der entscheidende Faktor. Frankreich war Ende der Neunzigerjahre die europäische Konjunkturlokomotive. Die Produktivitätsentwicklung war vorbildlich, die Lohnentwicklung blieb vernünftig, die hohe Staatsquote hat nicht geschadet (dass stets der Staat das Problem ist, glauben nur Leute, die volkswirtschaftliche Statistiken gar nicht erst zur Kenntnis nehmen). Das Problem Frankreichs liegt darin, dass es außenwirtschaftlich auf Gedeih und Verderb von Deutschland, seinem mit Abstand wichtigsten Handelspartner, abhängig ist. Im Jahr 2003 beschloss die Schröder-Regierung die Agenda 2010, im Jahr 2004 kippte die französische Handelsbilanz mit Deutschland zum ersten Mal seit der Wiedervereinigung ins Negative. Auf dem Krisenhöhepunkt 2011 lag das Gesamtaußenhandelsdefizit bei über 90 Milliarden, im Jahr 2014 immer noch bei 86 Milliarden Euro. Etwa 40 Prozent des Defizits entfallen auf den direkten Außenhandel mit Deutschland. Frankreich ist innerhalb der Eurozone Deutschland gegenüber nicht mehr konkurrenzfähig. Solange dieses Ungleichgewicht nicht korrigiert wird, hat Frankreich keine realistischen Aussichten sich zu erholen, und solange sich die Konjunkturaussichten nicht bessern und die Jugendarbeitslosigkeit nicht wenigstens wieder unter 20 Prozent fällt, darf Le Pen voller Optimismus in die Zukunft blicken. Das ist die Lektion von Marines Triumph. Eine Lektion, die man im übrigen Europa nicht zur Kenntnis nehmen will.“

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