Montag, 28. Juli 2014

Am Beispiel Palästina. Zu den Religionskriegen des 21. Jahrhunderts


Es gibt aktuell wohl keinen zweiten heißen Krieg auf der Welt, dessen Historie, Ursachen und Hintergründe so breit und umfassend analysiert vor aller Augen liegen wie beim Krieg um Palästina. Den allbekannten Tatsachen können die täglichen Gräuelnachrichten nichts wirklich Neues hinzufügen – was sie nicht weniger entsetzlich macht. Wie politische Repräsentanten zu diesem Krieg Stellung beziehen, ist längst zu einer Frage ihrer eigenen politisch-ethischen Grundhaltung geworden, zur Scheidelinie zwischen Rechts und Links, Oben und Unten, Gestern und Morgen.

Um das zu verdeutlichen, rufe ich nur zwei Momente dieses Konflikts in Erinnerung, die wirklich schon rauf und runter ausdebattiert sind und dennoch von den meisten Menschen immer wieder „vergessen“ werden.

Erstens: Seit 1948 (sogar noch früher) wird dieser Krieg von beiden Seiten nicht nur im Namen gegensätzlicher Nationalinteressen, sondern auch zum Schutz der jeweiligen Religionen geführt. Die Unversöhnlichkeit und verbissene Opferbereitschaft beider Seiten wurzelt vor allem darin. Wie ist das möglich, dass im 21. Jahrhundert Nationen im Namen jahrtausendealter Mythen sich gegenseitig abschlachten? Begreifen kann das nur, wer sich das Wesen und die gesellschaftliche Funktion der Religion klar macht.

Religion ist eine Fluchtbewegung der Menschheit, eine geistige Hilfskonstruktion, mit der sie alle Erscheinungen der Natur, die sie nicht versteht, denen sie geistig nicht gewachsen ist, für die ihr Erkenntnisvermögen nicht hinreicht, auf eine übernatürliche, überirdisch-jenseitige Ursache abschiebt, in Gestalt eines göttlichen Willens, dem sich der religiöse Mensch bedingungslos unterworfen glaubt und der ihn des eigenen menschlichen Willens (als Konsequenz aus eigener Welterkenntnis) enthebt, ihn von der Not (-wendigkeit) eigener Erkenntnisanstrengung und den darin eingeschlossenen Konflikten erlöst.

Da beim religiösen Menschen der Gehorsam gegenüber einem fremden, ihn allmächtig beherrschenden Willen an die Stelle eigener ethischer Entscheidung tritt, eignet Religion sich bestens, um Menschen für Handlungen zu motivieren, auf die sie sich aus eigenem freiem Willen niemals einlassen würden. Religion eignet sich dazu sogar besser als die vulgärdarwinistische Ideologie vom „Kampf ums Überleben“, mit der die bürgerliche Klasse ihre Konkurrenzkämpfe verbrämt, und die doch immer auch die gefährliche Frage nach Sinn und Richtung des evolutionären Fortschritts aufwirft – wohingegen Religion solche Fragen mit der Berufung auf den göttlichen Willen ausschließt.

Während die modernen westlichen Demokratien, ebenso wie sozialistische Staaten, Religion(en) zur „unpolitischen“ Privatsache der Individuen erklärten – Trennung von Staat und Kirche, ein epochaler Fortschritt zu geistiger Freiheit und zu den Menschenrechten! – kehren sowohl die zionistische Ideologie als auch fundamentalistische Varianten des Islam wieder zur religiösen Bevormundung der Menschen und der Politik zurück – und damit zu den Glaubenskriegen des Mittelalters. Diesen Rückfall ins Mittelalter wird die Menschheit nur überwinden können auf dem Weg, den Karl Marx in Anlehnung an Bruno Bauer schon vor 170 Jahren aufzeigte: „In Bauers Sinn hat jedoch die Judenfrage eine allgemeine, von den spezifisch deutschen Verhältnissen unabhängige Bedeutung. Sie ist die Frage von dem Verhältnis der Religion zum Staat, von dem Widerspruch der religiösen Befangenheit und der politischen Emanzipation. (…) Der Mensch emanzipiert sich politisch von der Religion, indem er sie aus dem öffentlichen Recht in das Privatrecht verbannt.“ (Karl Marx, Zur Judenfrage, 1843/44)

Zweitens: Seine materielle Grundlage hat der Anachronismus des „Religionskrieges“ in den Sozialstrukturen, Herrschafts- und Eigentumsverhältnissen innerhalb der kriegführenden Gesellschaften. Beide dort aufeinander einschlagende Glaubensbekenntnisse wenden sich äußerst elitär und aggressiv gegen Andersgläubige.

Nach zionistischer Doktrin ist das Volk der Juden von Gott auserwählt, Seiner Weltordnung eine „Heimstatt“ zu schaffen, und zwar in „Eretz Israel“, dem heiligen Land, das wieder in Besitz zu nehmen göttliches Gebot sei. Ihm geht es also erklärtermaßen um die Aneignung eines Landes und seiner Reichtümer aus fremdem Eigentum. Mit diesem erklärten Ziel dienten sich die Zionisten schon vor dem ersten Weltkrieg den Nahostinteressen der britischen Kolonialmacht und später den strategischen lnteressen des US-Imperiums an, beide benutzten und benutzen noch heute die zionistische Bewegung als Waffe gegen ein Erstarken der arabischen Länder. Bis heute könnte der zionistische Staat seine permanenten gewaltsamen Übergriffe auf arabisches Eigentum nicht durchführen ohne die massive finanzielle und militärische Aufrüstung aus der US-amerikanischen Hochfinanz. Die israelische Oberklasse profitiert, neben den Subventionen aus den USA und der Ausbeutung der eigenen israelischen Staatsbürger, von den Hunderttausenden billigster palästinensischer „Gastarbeiter“, die das vom israelischen Besatzungsregime erzeugte und aufrecht erhaltene Elend, die Sperrung sogar der Wasserversorgung usw., über die Grenze in die israelischen Agrar- und Industriebetriebe treibt.

Auf der Gegenseite predigt der fundamentalistische Flügel des Islam die Erlösung der Gläubigen durch den Märtyrertod im heiligen Krieg gegen die Ungläubigen. Dies menschenverachtende Dogma konnte im Gazastreifen von der Hamas zur Staatsreligion erhoben werden, weil es aufgrund der elenden Lebensbedingungen unter der israelischen Besatzungspolitik eine besondere Überzeugungskraft in den verarmten, oft gewaltsam enteigneten kleinbäuerlichen Massen gewinnt. Man könnte es für eine besonders perfide zionistische Strategie halten, gerade im Gazastreifen die Lebensgrundlagen so unerträglich zu zerstören, um in der zunehmenden Verzweiflung und daraus folgenden Radikalisierung der Bevölkerung immer neue Vorwände für militärische „Strafexpeditionen“ zu finden, die eine friedliche Koexistenz beider Völker unmöglich machen.  Während in Gaza die Verwaltung sich fast ausschließlich aus der Funktionärshierarchie von Hamas rekrutiert, bestimmen in der Westbank immer noch die großen Grundbesitzerclans die Politik und Verwaltung. Naturgemäß sind sie mehr an Verhandlungslösungen mit den Großmächten interessiert, Hamas hingegen sucht und findet eher Hilfe bei ähnlich fundamentalistisch ausgerichteten Golfstaaten.

In Kenntnis dieser Fakten kann es für linke Politik zu diesem Konflikt nur eine Haltung geben:

Wenn heute die deutsche Regierung, im Einklang mit den USA und allen westlichen Großmächten – und in ihrem Kielwasser leider auch einige Vertreter der Linkspartei – die zionistische Expansion in Palästina und die Verhinderung eines souveränen und lebensfähigen palästinensischen Staates als „Verteidigung des Existenzrechts Israels“ ausgeben, so leistet das nicht nur Beihilfe zu den zionistischen Kriegsverbrechen, sondern schlägt dem eigenen Verfassungsgrundsatz der modernen laizistischen Demokratie offen ins Gesicht. Im Gegensatz dazu muss eine „besondere deutsche Solidarität mit Israel“ sich heute klar auf die Seite der israelischen Friedensbewegung gegen die israelische Regierung stellen. Diese klare Unterscheidung zwischen dem militanten Zionismus und den guten Kräften des jüdischen Volkes wäre auch die notwendige Kampfansage an jeglichen Antisemitismus.

– Auf der anderen Seite kann nur ein starker internationaler Einsatz für die Unantastbarkeit palästinensischen Eigentums und das volle palästinensische Selbstbestimmungsrecht, bis zur Gründung eines einheitlichen, souveränen und lebensfähigen Palästinenserstaates die Bedingungen schaffen, um den radikal-islamistischen Gotteskriegern der Hamas den Boden zu entziehen. Nur durch energische Unterstützung der Zwei-Staaten-Lösung kann linke Politik heute zum Frieden in Palästina beitragen.

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