Der Landesvorsitzende der niedersächsischen LINKEN Manfred
Sohn hat die europäische Wirtschafts- und Finanzkrise in den Zusammenhang der
allgemeinen, „finalen“ Krise vor dem Ende des kapitalistischen Systems gestellt
(„Vor dem Epochenbruch“, nd-online 06.08.13).
Sehr zu Recht, wie ich finde. Tatsächlich offenbaren alle
aktuellen Krisensymptome die dramatisch eskalierenden Schwierigkeiten des
Kapitals, sich zu verwerten. Sie bestätigen die von Karl Marx erforschte
Gesetzmäßigkeit, dass jeder Produktivitätsfortschritt das Kapital zwingt,
lebendige Arbeit durch „vergangene, tote“ Arbeit (Maschinen, Technik) zu
ersetzen, aus dem Wirtschaftskreislauf hinauszudrängen und sich damit selbst
die Quelle seiner Vermehrung abzugraben.
Es verschafft den antikapitalistischen Kräften einen starken
Impuls zur strategischen Klärung, dass endlich einmal ein namhafter Exponent
der LINKEN, gegen all die anderen, die Marx schon vor Jahrzehnten „überholt“
haben, auf diese innere Schranke des Profitsystems hinweist, an der es über
kurz oder lang scheitern muss. Man dürfte einen bekennenden Marxisten und
Landesvorsitzenden einer vielfältig praktisch tätigen Partei wohl kaum
ernsthaft verdächtigen, er empfehle als Konsequenz aus dieser Krisensicht, mit
den Händen im Schoß abzuwarten, bis das ganze kapitalistische Gebäude im
„großen Kladderadatsch“ in sich zusammenfällt. Und doch, über die Absage an
reformistische Hoffnungen auf fette Arzthonorare am „Krankenbett des Kapitals“
hinaus bleibt dieser Rekurs auf Marx seltsam folgenlos für die linke Strategie.
Das hängt zusammen mit seiner kurzschlüssigen, so nicht
haltbaren Behauptung, der Kapitalismus habe nun keine Methoden mehr, den Fall
der Profitrate aufzuhalten und damit den finalen Crash hinauszuzögern. Er nennt
derer Methoden drei, von denen seiner Meinung nach keine mehr zur Verfügung
stehe:
- Ein „großer Krieg“ als Mittel gegen die große Krise
scheidet in der Tat seit der Existenz von neun Atommächten aus, richtig.
Ich halte dagegen: Aber auch die Rüstungsproduktion für
weltweite lokale und regionale Kriege um Rohstoffe, Märkte,
Aufstandsbekämpfung, „Friedenserzwingung“ usw. kann die Profitraten der
kapitalistischen Zentren zeitweise stabilisieren. Das wäre genauer zu untersuchen.
- „Die großen Erfolge der Arbeiterbewegung“, vom
10-Stunden-Tag bis zum Realsozialismus, die die Massenproduktion des
Industriezeitalters erst ermöglichten, sie endeten mit der großen Niederlage
von 1989. Richtig.
Ich halte dagegen: Aber das schließt natürlich für die
Zukunft nicht aus, dass soziale Bewegungen im Kampf um ein besseres Leben neue
Reformen durchsetzen, die ebenso belebend auf die kapitalistische Wertschöpfung
wirken, wenngleich immer nur vorübergehend.
- Während früher große Krisen zur Erschließung neuer Märkte
und Produktionszweige führten – „industrielle Revolutionen“ – seien derlei
Auswege heute nicht mehr in Sicht, behauptet Sohn. Weder die Elektronik noch
der Dienstleistungssektor können das gigantisch angeschwollene Kapital
aufnehmen, das heute nach Verwertung giert. Auch die hybrid aufgeblähte,
entfesselte und scheinbar verselbständigte „Finanzindustrie“ bietet keine
Krisenlösung, da reale Werte nur in der materiellen Warenproduktion durch
lebendige Arbeit entstehen. Das ist alles richtig.
Ich halte dagegen: Aber es schließt nicht aus, dass noch
eine ganze Weile Kredit- und Spekulationsblasen die Profitraten der globalen
Riesenkonzerne stabilisieren und so auch die Krise der Realwirtschaft weiter
hinausschieben, u.a. durch Plünderung der Staatshaushalte, Sozialversicherungen
usw. Ebenso wenig dürften wir ohne nähere Prüfung bestimmte
Zukunftstechnologien (z.B.für Klimaschutz, Energieeffizienz, gentechnische
Landwirtschaft, Raumfahrt u.a.) von vorn herein als bedeutungslos abtun.
- Ausgeklammert bleiben bei Manfred Sohn leider alle Bestrebungen
der Unternehmer, die Ausbeutung der Noch-Arbeitenden mithilfe verschärfter
gesetzlicher Rahmenbedingungen zu steigern, wie z.B. die Ausdehnung des
Niedriglohnsektors, der befristeten und Leiharbeit mithilfe der Hartz-Gesetze
usw. All das verzögert den Fall der Profitrate und droht uns natürlich auch in
Zukunft, solange die Arbeiterklasse noch nicht wieder stark genug ist, solche
Anschläge abzuwehren.
- Nicht erwähnt hat Sohn auch den Faschismus, der sowohl
mittels brutalster Unterdrückung, Entrechtung und schrankenloser Ausbeutung der
Arbeiterklasse als auch durch Zwangskartellierung der Wirtschaft –
Einschränkung der Konkurrenz, Regulierungen zugunsten des Monopolkapitals – die
Profite vorübergehend steigern kann. In eine heutige antikapitalistische
Strategie ist unerlässlich die Gefahr einzubeziehen, dass das Kapital erneut –
und nicht nur in peripheren Ländern wie Chile, Griechenland, Türkei… -
versuchen wird, mit einem Wechsel der politischen Herrschaftsform seine finale
Krise hinauszuschieben.
Die kritische Sicht auf Manfred Sohns begrüßenswerten
Denkanstoß führt mich zu einigen Schlussfolgerungen, die teils mit ihm
übereinstimmen, teils abweichen.
1. Ja, das kapitalistische Weltsystem muss und wird
unvermeidlich zerfallen. Die gegenwärtige Krise ist eine Erscheinungsform des
Systemzerfalls.
2. Der Zerfallsprozess kann sich über viele Jahrzehnte
hinschleppen, von Krise zu Krise in jeweils verschiedenen Ausprägungen, mit
wechselnden regionalen Brennpunkten, von zunehmender Verelendung auch in den
kapitalistischen Kernländern über Verödung weiter Landstriche, vorübergehende
Sonderkonjunkturen und Erholungsphasen, verschiedenen antidemokratischen
Barbareien (Faschismen, Demagogenregimes, religiösen Sekten usw.) bis zum chronischen
Ausnahmezustand.
3. Der „Epochenbruch“ hat schon begonnen – wenngleich in
Europa nach dem ersten sozialistischen Großversuch unterbrochen. Er zieht sich
ebenso über Generationen hin und bringt überall unterschiedliche
gesellschaftliche und politische Formen hervor, von zeitweisen Linksregierungen
und „neuen Demokratien“ über Inseln solidarischer, ökologischer Selbsthilfe und
Selbstverwaltung bis zur schließlichen In-Besitznahme brachfallender
Produktionsmittel durch die lebendige Arbeit.
4. Die alten Industriestaaten hätten zwar die günstigsten
Bedingungen für einen raschen Übergang zum Sozialismus – hoher
Entwicklungsstand der Produktivkräfte, starke, gut ausgebildete, disziplinierte
und erfahrene Arbeiterklasse, effiziente staatliche und gesellschaftliche
Organisationen – aber hier ist die Macht des Kapitals besonders stark
konzentriert und hegemonial verankert, daher die Gefahr groß, dass hier die
Arbeiterklasse sich noch besonders lange an den kleinen Finger „ihrer“
Bourgeoisie klammert und sich erst spät den antikapitalistischen Kräften
anschließt. Darunter wird die LINKE noch lange zu leiden haben!
5. Eine der wichtigsten aktuellen wie permanenten Aufgaben
der antikapitalistischen Strategie ist demnach, darum zu kämpfen, dass unsere
Arbeiterklasse und das einschlägig vorbelastete deutsche Kleinbürgertum sich
nicht für vermeintliche chauvinistische oder rassistische Krisenlösungen zum Schaden
anderer Nationen missbrauchen lassen.
6. In der Tat ist es in dieser Großwetterlage eine zentrale
Aufgabe der LINKEN, sich ein fundiertes, wissenschaftlich abgesichertes
Verständnis des ganzen „Epochenbruchs“ weltweit zu schaffen. Denn wer maßt sich
an, eine so gewaltige Menschheitsleistung wie die Überwindung der (bis gestern)
fortgeschrittensten Produktionsweise und Gesellschaftsformation durch eine neue
praktisch zu bewerkstelligen, ohne zu verstehen um was es geht? An Marx führt
uns kein Weg vorbei.
7. Weil das große Kapital noch einige Möglichkeiten in petto
hat, sein Ende zu verzögern, lässt sich der Fortgang der Krise aber nicht exakt
vorhersagen. Im voraus können wir nur allgemein bestimmen, wie linke Strategie
auf welche Wendung, so sie denn eintritt, reagieren müßte, und zwar auf
Grundlage des reichen Erfahrungsschatzes aus den früheren Klassenkämpfen. Diese
gründliche Vorbereitung ist heute schon unverzichtbar für eine LINKE, die ihren
historischen Aufgaben gewachsen sein will.
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