Wegen einer zwar ungefährlichen, aber kraftraubenden Erkrankung
konnte ich lange die öffentlichen Diskussionen um linke Politik nur aus der Ferne
verfolgen und stellte dabei fest, dass sie auch ohne meine altklugen Ratschläge
auskommt. Nun drängt es mich doch noch einmal zu einer Wortmeldung, aus aktuellem
Anlass. Nach dem Formelkompromiss des letzten LINKEN-Parteitags im Streit um
„offene Grenzen“ und nach dem Rückzug von Sahra Wagenknecht von ihren
Parteiämtern ist es merkwürdig still um diesen Streit geworden, so dass manche
innerhalb und außerhalb der Partei schon hoffen, ein unerklärtes Abrücken von „R2G“
oder von „aufstehen“ wäre schon der Sieg der Gegenseite. Doch auf Dauer würde
die LINKE ein stilles Weiter-so nicht überleben.
Anlass zu meinen hier nur knapp umrissenen Überlegungen ist
die schon öfter vorgetragene, Anfang Mai im „Stern“ wiederholte These des
Kultursoziologen Andreas Reckwitz, der tiefgreifende ökonomische und
technologische Strukturwandel der letzten Jahrzehnte habe die arbeitenden
Klassen - Arbeiterklasse und kleine selbständig Erwerbstätige – mehr und mehr
in drei etwa gleichgroße Blöcke (Schichten) umgruppiert: eine "neue
Mittelschicht" gut qualifizierter Gewinner des Strukturwandels, die
"alte Mittelklasse" als die verbliebenen Erben der ehemaligen
"nivellierten Mittelstandsgesellschaft" (H.Schelsky), sowie die
"neue Unterschicht" der gering Qualifizierten und
"Abgehängten".
Marxist*innen kann diese Einteilung ebenso wenig
überraschen wie Reckwitz‘ weitere Erläuterung, dass die Lebenslagen und
Ansprüche dieser drei gesellschaftlichen Großgruppen sich erheblich unterscheiden:
Die Angehörigen der „neuen Mittelschicht“ - die so etwa der klassischen
Oberschicht der Arbeiterklasse entspricht, die Friedrich Engels
„Arbeiteraristokratie“ nannte) - als aktiv Gestaltende des Wandels in den neuen
Dienstleistungen, der Digitalisierung, der Bildungsexpansion usw. können sie die
materiellen Mittel gewinnen für einen ambitionierten Lebensstil, der sich auch
kulturell an den gesellschaftlich und global entgrenzten, individualistischen, auf
permanente Selbstinszenierung gerichteten neoliberalen Wertewandel anpasst. Dann
die übrig gebliebene „alte Mittelschicht“ aus Facharbeitern,
Verwaltungsangestellten, kleinen Selbständigen, die großen Teils in die
Verteidigung ihrer zunehmend unsicheren Existenzen gedrängt wird, worauf sie
mit konservativer Sicherung des Altgewohnten gegen alles Neue und mit sozialer
und nationaler Abschottung gegen alle Anderen reagiert. Schließlich die „neue
Unterschicht“, die um ein menschenwürdiges Existenzminimum sowie erträgliche
Arbeits- und Lebensbedingungen kämpft und sich dabei vielfach in Konkurrenz auch
zu deklassierten Kleinbürgern, Zuwanderern usw. sieht.
An dieser Bestandsaufnahme, die ich grosso modo für
zutreffend halte, setzen die folgenden Überlegungen an. Daraus ergibt sich,
dass eine Sozialpolitik, wie sie den Markenkern der LINKEN bildet, nur bei der
neuen Unterschicht auf überproportionale Zustimmung rechnen kann. Denn nur diese
hat als einzige soziale Schicht ein starkes Eigeninteresse am Erhalt der Reste
des ruinierten Sozialstaats. Und solange sie nur eine relativ einflussarme
Minderheit der Gesellschaft ausmacht, liegt es in ihrem Interesse, zur
Durchsetzung einer sozialeren und ökologisch verantwortbaren Politik sowohl mit
der "neuen Mittelschicht" als auch mit Teilen des alten
"Mittelstands" ein gesellschaftliches Bündnis anzustreben.
Nun stellt sich die Frage, wie bei derart unterschiedlichen
Lebenslagen ein Bündnis dieser drei Großgruppen zustande kommen kann. Völlig
konträr dazu liegt es jedenfalls, wenn die LINKE denjenigen Parteien, die in
Programmatik und Praxis die Interessen der anderen erwerbstätigen Schichten
vertreten - also in erster Linie SPD und Grünen, aber auch Piraten u.a. -
Wähler abjagen will. Genau darauf zielen ausdrücklich jene Strömungen in der
LINKEN, die sich einem Kosmopolitismus der "offenen Grenzen für Alle"
verschrieben haben, das Nationale für nicht mehr zeitgemäß erklären, die
großkapitalistische EU als angebliches Friedenswerk feiern und erhalten wollen,
der Privatisierung öffentlicher Einrichtungen Vorschub leisten usw. Diese Strategie
läuft darauf hinaus, anstelle der rechten Gegner die potentiellen
Bündnispartner zu schwächen. Das Ergebnis wäre eine weitere Isolierung der
LINKEN (was manche Wortführer*innen dieser Strömungen in prahlerischer
Selbstüberschätzung in Kauf nehmen).
Nein, nicht mit linker Anpassung an liberale Ideologien
können wir unsere Ziele erreichen. Neben den (öko-)liberalen Grünen und der
(neo-)liberalen FDP eine dritte (links-)liberale Partei wäre nicht das, worauf
das Wahlvolk am dringendsten wartet. Nein, unsere Ziele erreichen wir nur, wenn
wir in den potentiellen Bündnisparteien diejenigen Kräfte stärken, die
realistisch genug sind, um einzusehen, dass es nur einen einzigen Weg gibt,
(wieder) regierungsfähig zu werden, nämlich gemeinsam. Und zwar wohlgemerkt,
ohne dass eine der beteiligten Parteien sich in Richtung einer anderen
verbiegen und ihre jeweilige Stammklientel verprellen muss wie die SPD in der
GroKo!
Wer das nicht so sieht, mache sich die Zahlenverhältnisse
klar, wie sie sich etwa anhand der aktuellen Sonntagsfragen darstellen. Danach
hat die SPD auf absehbare Zeit keine Chance, weit über 20 Prozent der
Wählerstimmen zu kommen, die Grünen erreichen mit 15 Prozent etwa das Limit
ihres gesellschaftlichen Rückhalts, die LINKE bleibt mit maximal 10 Prozent auf
ihre Stammklientel beschränkt; gemeinsam erreichen sie also um die 45 Prozent.
Alle Hoffnungen, dass diese (grob geschätzten) Proportionen sich in absehbarer
Zukunft entscheidend verschieben könnten, sind unernste Traumtänzerei.
Auf der Gegenseite kommen CDU/CSU und FDP zusammen auf ca.
40 Prozent. Folglich bringt jede von der CDU/CSU geführte Koalition immer mehr
zusammen als SPD und Grüne ohne die LINKE. Das heißt, SPD und Grüne können nur
entweder als Hilfstruppen der CDU/CSU mitregieren - oder gemeinsam mit der
LINKEN regieren. Wer das bestreitet, ist ein Träumer oder ein Scharlatan, dem sein
persönlicher Vorteil wichtiger ist als seine Wähler*innen.
Damit ein solches "R2G"-Bündnis dermaleinst
zustande kommt und regierungsfähig wird, gilt es also vor allem, die
gesellschaftlich wünschenswerte Vereinbarkeit der ursprünglichen Kernziele
dieser drei Parteien herauszustellen, die nur gemeinsam das gewandelte (Selbst-)Bewusstsein
der erwerbstätigen Klassen abbilden. Und die einzige Hoffnung der LINKEN für
ihr langfristiges Überleben ist, dass diese realistische Einsicht in die
gesellschaftliche Entwicklung der Bundesrepublik allmählich an Akzeptanz
gewinnt. Daran mitzuwirken ist die alles entscheidende strategische Aufgabe der
LINKEN.