Montag, 17. Februar 2020

Das Dilemma der CDU

Die Leitmedien und sonstigen politischen Meinungsmacher bescheinigen der CDU ein Führungsdefizit. Sie sehen es darin, dass die Parteispitze es nicht (mehr) schafft, alle Funktionsträger der Partei auf die Einhaltung der offiziell beschlossenen Programmatik und Strategie zu verpflichten. Dahinter steht das Dilemma, dass die letzte verbliebene Volkspartei (die zwar nur noch ein Viertel des Wahlvolks auf ihrer Seite hat, aber doch noch) eine Bandbreite  gesellschaftspolitischer Einstellungen und Strömungen repräsentieren, d.h. auch in ihrer Mitgliedschaft verkörpern muss, die in Zeiten zunehmender gesellschaftlicher Polarisierung die Partei selbst vor Zerreißproben stellt. Diese sind mit Machtworten von oben, Unvereinbarkeitsbeschlüssen u.ä. nicht mehr zu beherrschen.
Nur selten und äußerst oberflächlich wird in der öffentlichen Debatte darauf eingegangen, welches denn die gesellschaftlichen Ursachen für die innerparteilichen Fliehkräfte sind. Da geht es angeblich nur darum, die nach rechts Abwandernden wieder einzufangen bzw. auf Linie zu halten. Zu diesem Zweck sei die von Angela Merkel verschuldete "Sozialdemokratisierung" der Partei rückgängig zu machen und die Partei insgesamt mehr nach rechts zu rücken.
Aber geht es nur darum, die "Brandmauer" gegen die AfD zu verstärken? Das eigentliche Dilemma der CDU reicht tiefer und ist kein Problem des Führungspersonals allein, sondern betrifft die gesamte Partei. Es besteht darin, dass die CDU einer Programmatik folgt, die von den gesellschaftlichen Entwicklungen in der BRD und der Welt längst überholt wurde und in den Papierkorb gehört. Es war Dietmar Bartsch, der darauf hinwies, die CDU stecke noch in den Gräben des Kalten Krieges fest.
Tatsächlich war es Merkels Strategie, mit ein paar kleinen sozialen Zugeständnissen den Anschein zu erwecken, als sei eine SPD nun überflüssig und Sozialpolitik bei der CDU besser aufgehoben. Was die Schwächung der SPD anbelangt war diese Strategie durchaus erfolgreich. Aber sie musste unvermeidlich den wachsenden Unwillen und Widerstand des gehobenen Bürgertums bei der CDU provozieren.
Und tatsächlich gab die Merkel-Strategie keine ausreichende Antwort auf die Existenzfrage, auf welche Seite die CDU sich in den sich verschärfenden Klassenwidersprüchen künftig stellen will. Es reicht ja nicht aus, die Globalisierung als epochale Errungenschaft zu feiern und die Abschaffung des Nationalstaats nach Kräften zu forcieren. Es reicht ja nicht aus, die Digitalisierung des gesamten Lebens für unausweichlich zu erklären und staatlich zu verwalten. Es reicht nicht aus, die dramatisch fortschreitende ökonomisch-soziale Spaltung der Gesellschaft stillschweigend zu befördern. Es reicht nicht aus, der Klimakatastrophe mit faulen Kohlekompromissen begegnen zu wollen. Und so weiter.
Wenn die CDU auf solche Zukunftsfragen keine zeitgemäßen Antworten findet, die ihren eigentlichen Markenkern weiter entwickeln in eine ökologisch-sozial modernisierte Fassung des "rheinischen Kapitalismus", dann werden ihre Flügel und Strömungen zwischen Grünen und AfD weiter auseinander driften und einem postdemokratischen Obrigkeitstaat den Weg bereiten.

Montag, 3. Februar 2020

Zur Zukunft der EU und der SPD nach dem Brexit

Die SPD bleibt auch nach der Wahl ihres neuen Spitzentandems gespalten. Auf der einen Seite das Parteiestablishment mit dem festen Willen zur Fortsetzung der EU - auf der anderen die Minderheit, die hoffte, Veränderung mit neuen Führungsfiguren wählen zu können. Doch die neu gewählte Parteiführung verkörpert mit ihrem "Gesprächsangebot" an die CDU/CSU die klassisch sozialdemokratische Taktik, mit "Links-blinken-rechts-abbiegen" die Unzufriedenen wieder einzufangen.
Gespalten ist auch das traditionelle Wählermilieu der SPD. Dessen Mehrheit glaubt, die dem Land und der "freiheitlichen" Welt drohenden Unwetter am besten mit einer EU durchstehen zu können, selbst wenn deren Fortsetzung die SPD endgültig zum Wurmfortsatz der Konservativen schrumpfen lässt, wie in England zu besichtigen.
Mit jedem Groko-Jahr schwinden so auch mehr und mehr die Chancen für eine politische Mehrheit links von der CDU. Als einzig mögliche Regierungsmehrheit nach dem absehbaren Bankrott der GroKo-SPD bleibt dann nur noch Schwarz-Grün (mit oder ohne FDP).

Auch eine Linkspartei, die von den Idealen der Arbeiterbewegung abbiegt auf einen grenzenlos globalisierten Kosmopolitismus, kann dann nicht mehr das Potential aufbieten, um das SPD-Establishment zur Wiederaneignung der alten Ideale zu drängen. Denn wie zu erwarten hat der entgrenzte Kapitalismus die Individuen ja nicht gestärkt, sondern geschwächt, entsolidarisiert und politisch handlungsunfähig gemacht. In ihm erscheinen die Existenznöte, die viele Menschen bedrücken, nur als Ausdruck ihres ganz persönlichen Scheiterns. Eine globalisierte Welt, in der jeder nur als Individuum für sich kämpfen kann, bietet keine Grundlage für soziale Politik, auch nicht für internationale Solidarität. Globalisierung und Internationalismus sind Gegensätze.

Bei vielen Linken innerhalb und außerhalb der SPD basiert die Zustimmung zur EU auf der resignierten Ansicht, gegen die globale Wirtschaft sei ohnehin kein Kraut gewachsen, folglich sei die EU alternativlos. Verbunden ist dies mit einer tiefen Skepsis gegenüber der Nation. Die Begeisterung für die EU steht für die neuen Werte des linken Kosmopolitismus, der jeden Gedanken an eine Alternative links von der CDU im Keim erstickt.

Dabei war und ist es doch die Nation, die erst die Institutionen der Sozialen Demokratie möglich gemacht hat und erhält. Die Ablehnung dieser EU wäre eine Rückbesinnung auf das demokratische Recht auf eine solidarische Politik. Das haben die Engländer uns vorgemacht.

Mittwoch, 18. Dezember 2019

Die Zukunft der SPD in der GroKo

Die SPD bleibt auch nach der Wahl ihres neuen Spitzentandems gespalten. Auf der einen Seite das Partei-Establishment mit dem festen Willen zur Fortsetzung der GroKo - auf der anderen die Minderheit, die hoffte, Veränderung wählen zu können. Die neu gewählte Parteiführung verkörpert mit ihrem "Gesprächsangebot" an die CDU/CSU die klassisch sozialdemokratische Taktik, mit "Links-blinken-rechts-abbiegen" die Unzufriedenen wieder einzufangen.
Gespalten ist auch das traditionelle Wählermilieu der SPD. Dessen Mehrheit glaubt, die dem Land und der "freien" Welt drohenden Unwetter am besten unter der GroKo trocken zu überstehen, selbst wenn deren Fortsetzung die SPD endgültig zum Blinddarm der Konservativen schrumpfen lässt. Bei vielen innerhalb und außerhalb der SPD basiert die Zustimmung zur GroKo auf der resignierten Ansicht, gegen die globale Wirtschaft sei ohnehin kein Kraut gewachsen, folglich sei die GroKo alternativlos.
Auch eine Linkspartei, die von den Idealen der Arbeiterbewegung abbiegt auf einen klassenlosen Kosmopolitismus, kann dann nicht mehr das Potential aufbieten, um das SPD-Establishment zur Wiederbelebung der alten Ideale zu drängen. Denn wie zu erwarten hat der entgrenzte Kapitalismus die Individuen ja nicht gestärkt, sondern geschwächt, entsolidarisiert und politisch handlungsunfähig gemacht. In ihm erscheinen die Existenznöte, die viele Menschen bedrücken, nur als Ausdruck ihres ganz persönlichen Scheiterns. Eine globalisierte Welt, in der jeder nur als Individuum für sich kämpfen kann, bietet keine Grundlage für sozialdemokratische Politik, sofern man diese nicht  mit „Fördern-und-Fordern“ verwechselt.
Verbunden ist das mit weit verbreiteter Skepsis gegenüber der Nation. Die Begeisterung für die EU steht für die neuen Werte des „Supranationalismus“. Die Nation war und ist es doch, die erst die Demokratie und den Sozialstaat möglich machte und erhält. Die Ablehnung dieser „supranationalen“ EU wäre eine Rückbesinnung auf das demokratische Recht auf solidarische Politik, und als solche eine Absage an die GroKo. Und anstelle des holden Traums von „offenen-Grenzen-für-alle“ eine Rückbesinnung auf internationale Solidarität. Denn Globalisierung und Internationalismus sind Gegensätze.
Mit dem weiteren Schwund der GroKo-SPD schwindet auch mehr und mehr die Aussicht auf die Parlamentsmehrheit links von der CDU. Als einzig mögliche Regierungskoalition bleibt dann nur noch Schwarz-Grün (mit oder ohne FDP und Tolerierung durch die AfD). So führt uns die SPD herrlichen Zeiten entgegen.

Freitag, 15. November 2019

Oskar Lafontaine zum rechtsterroristischen Putsch in Bolivien

Man bekommt Zustände, wenn man die Berichte der deutschen Medien über den Putsch in Bolivien liest. Jetzt zeigt sich wieder, in welchem Ausmaß die US-Propaganda Zeitungsredaktionen und Rundfunkanstalten in Deutschland beeinflusst. Spätestens seit dem Sturz von Allende in Chile 1973 dürfte bekannt sein, dass die verbrecherische US-Oligarchie nach folgendem Grundsatz verfährt: Solange wir die Rohstoffe der südamerikanischen Länder plündern und unseren Reibach damit machen können, dulden wir jedes Regime, sei es auch noch so undemokratisch und grausam. Sobald eine Regierung, wie die des Evo Morales in Bolivien, die Rohstoffe des Landes verstaatlicht um Sozialprogramme für die Bevölkerung zu finanzieren, muss sie weg.
Dabei ist der korrupten US-Oligarchie jedes Mittel recht, siehe Venezuela, wo in Folge der US-Sanktionen innerhalb eines Jahres 40.000 Menschen ums Leben gekommen sind, weil notwendige Medikamente fehlen. Im Irak mussten in den 90er Jahren aufgrund der US-Sanktionen 500.000 Kinder sterben, weil die US-Verbrecherclique keine Ruhe gab, bis sie auch Zugriff auf das irakische Öl hatte.
Die liebedienerische Bundesregierung unterstützt mehr oder weniger die ruchlose Außenpolitik der USA. Man muss wohl damit rechnen, dass Außenminister Maas, nachdem er schon dem brasilianischen Präsidenten Bolsonaro und dem selbsternannten Präsidenten Venezuelas, Guaidó, die Hand geschüttelt hat, jetzt auch bald der selbsternannten Präsidentin Boliviens, Áñez, den Hof machen wird.
Die Politiker der „hemmungslose Schurken-Supermacht“ USA (US-Politikberater Robert Kagan) gehören längst vor den Internationalen Strafgerichtshof.

Quelle: facebook #oskarlafontaine

Dienstag, 22. Oktober 2019

Oskar Lafontaine über "Ein Haus voller Narren und Esel"


Der britische „Guardian“ nennt das „House of Commons“ „ein Parlament der Esel, geführt von Fadenwürmern. Und nicht einmal sonderlich intelligenten.“ Die „Daily Mail“ schreibt auf ihrer Titelseite: „Das Haus der Narren“. Diese krasse Kritik übernimmt die “Frankfurter Allgemeine Zeitung” mit der Überschrift: „Ein Haus voller Narren und Esel“. Wie würde die altehrwürdige FAZ, das Leitorgan des gutsituierten Bürgertums, eine Volksvertretung bezeichnen, die:
  • an einer Rentengesetzgebung festhält, die zu millionenfacher Altersarmut führt und zur Folge hat, dass die Rentner im Durchschnitt 800 Euro im Monat weniger haben als die österreichischen Nachbarn
  • einen Mindestlohn von 9,19 Euro die Stunde billigt, der niedriger ist als in Nachbarländern und zwingend zu Altersarmut führt
  • ein Gesetz verabschiedet hat, das gut ausgebildete Beschäftigte dazu zwingt, jede beliebige schlecht bezahlte Arbeit anzunehmen
  • keine Vermögenssteuern erhebt, obwohl eine kleine Minderheit immer mehr Vermögen anhäuft, während die Hälfte der Bevölkerung kaum Vermögen bilden kann
  • Soldaten in völkerrechtswidrige Kriege schickt, obwohl die Mehrheit ihrer Wählerinnen und Wähler dagegen ist
  • Waffen an Diktaturen liefert, die Krieg führen, obwohl sie auch dafür keine Zustimmung in der Bevölkerung hat
  • eine Wohnungsbaupolitik macht, die dazu führt, dass Leute mit durchschnittlichen Löhnen nicht mehr in den Zentren der großen Städte wohnen können
  • eine Gesundheitspolitik zu verantworten hat, die dazu führt, dass immer mehr Ältere und Kranke nicht mehr menschenwürdig gepflegt werden
  • es zulässt, dass zweieinhalb Millionen Kinder in Armut leben und
  • in die schwarze Null so verliebt ist, dass die öffentliche Infrastruktur verfällt.
Die Beispiele ließen sich fortführen.
Dreimal darf man raten, welches Parlament hier gemeint sein könnte. Aber sicher können wir sein, dass die ehrwürdige FAZ dieses Parlament nicht mit solchen unparlamentarischen Worten an den Pranger stellen würde.
Quelle: Oskar Lafontaine via facebook

Dienstag, 18. Juni 2019

Notizen aus der Provinzhauptstadt: Dortmunder Sozialbericht zeichnet katastrophale Entwicklung.

DIE LINKE in Dortmund hat bei der Europawahl rund 700 Stimmen hinzugewonnen, aber relativ gesehen aufgrund der höheren Wahlbeteiligung Stimmenanteile auf nun 5,6 Prozent der Stimmen verloren. Damit liegen wir in Dortmund leicht über dem Bundesdurchschnitt. Das linke Spektrum insgesamt war bei dieser Wahl auch aufgrund vieler antretender und zum Teil neu aufgetretener Kleinparteien sehr zersplittert. Ein Ziel für die im kommenden Jahr anstehende Kommunalwahl wird es sein, diese fast 26.000 Stimmen wieder bei der LINKEn zu bündeln, um ihnen auch politische Wirkung zu verleihen. Das ist umso dringender, als der jetzt nach über zehn Jahren erneuerte Sozialbericht der Stadt - den die Fraktion DIE LINKE & PIRATEN intensiv vom Sozialamt eingefordert hat - katastrophale Defizite aufzeigt. Hier ein Auszug aus dem Newsletter unserer Ratsfraktion:

30 Prozent aller Dortmunder Kinder leben in einem Hartz IV-Haushalt. Fast ein Fünftel aller Dortmunder*innen lebt irgendwie vom amtlichen Existenzminimum (mehr als 18 Prozent). In den letzten zehn Jahren sind rund 15.000 Menschen zusätzlich in Hartz IV oder die Grundsicherung gerutscht. Die Arbeitsmarktdaten weisen auf grundsätzliche Probleme hin. Zwar feiert die Stadtspitze regelmäßig eine sinkende Arbeitslosenquote und eine steigende Zahl von sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätzen. Aus den Daten des Sozialberichtes geht aber hervor, dass diese zusätzlichen Stellen zu drei Vierteln aus Teilzeitstellen bestehen. Insgesamt 30.000 Menschen arbeiten mehr in Teilzeit als noch vor zehn Jahren. Das ist eine Verdoppelung dieser überwiegend prekären Jobs gegenüber den Vergleichsdaten aus 2007.

Auffällig – aber nicht überraschend – sind auch die völlig unterschiedlichen Lebensverhältnisse in den Dortmunder Stadtteilen. Im Süden beträgt die Transferleistungsquote nur 3,6 Prozent, in der Nordstadt dagegen sind zum Teil bis zu 44 Prozent aller Bewohner*innen auf staatliche Unterstützung angewiesen. Das hat mit einer „Sozialen Stadt“ nichts mehr zu tun. Es entspricht vielmehr den Warnungen linker Sozialwissenschaftler wie Prof. Christoph Butterwegge. Dieser hatte schon vor Jahren vor einer gespaltenen Stadt gewarnt, bei der die Lebenslagen immer weiter auseinander klaffen. Konflikte sind dann auf Dauer unvermeidbar.

Die neuen Daten wurden von Linken & Piraten selbstverständlich in die Kategorie „besondere Bedeutung und öffentliches Interesse“ eingestuft. Das heißt: Fraktionssprecher Utz Kowalewski hatte beantragt, das Thema als einen „Tagesordnungspunkt von besonderer Bedeutung“ ganz vorne auf die Tagesordnung der Ratssitzung im Mai zu setzen. Leider sah die Mehrheit das anders und behandelte den Sozialbericht unter „ferner liefen“.

Den neuen Sozialbericht gibt es als pdf unter: https://www.dortmund.de/de/rathaus_und_buergerservice/lokalpolitik/aktionsplan_sozial e_stadt/startseite_aktionsplan/index.html

Sonntag, 12. Mai 2019

Der Strategie-Streit der LINKEN muss weitergehen


Wegen einer zwar ungefährlichen, aber kraftraubenden Erkrankung konnte ich lange die öffentlichen Diskussionen um linke Politik nur aus der Ferne verfolgen und stellte dabei fest, dass sie auch ohne meine altklugen Ratschläge auskommt. Nun drängt es mich doch noch einmal zu einer Wortmeldung, aus aktuellem Anlass. Nach dem Formelkompromiss des letzten LINKEN-Parteitags im Streit um „offene Grenzen“ und nach dem Rückzug von Sahra Wagenknecht von ihren Parteiämtern ist es merkwürdig still um diesen Streit geworden, so dass manche innerhalb und außerhalb der Partei schon hoffen, ein unerklärtes Abrücken von „R2G“ oder von „aufstehen“ wäre schon der Sieg der Gegenseite. Doch auf Dauer würde die LINKE ein stilles Weiter-so nicht überleben.

Anlass zu meinen hier nur knapp umrissenen Überlegungen ist die schon öfter vorgetragene, Anfang Mai im „Stern“ wiederholte These des Kultursoziologen Andreas Reckwitz, der tiefgreifende ökonomische und technologische Strukturwandel der letzten Jahrzehnte habe die arbeitenden Klassen - Arbeiterklasse und kleine selbständig Erwerbstätige – mehr und mehr in drei etwa gleichgroße Blöcke (Schichten) umgruppiert: eine "neue Mittelschicht" gut qualifizierter Gewinner des Strukturwandels, die "alte Mittelklasse" als die verbliebenen Erben der ehemaligen "nivellierten Mittelstandsgesellschaft" (H.Schelsky), sowie die "neue Unterschicht" der gering Qualifizierten und "Abgehängten".

Marxist*innen kann diese Einteilung ebenso wenig überraschen wie Reckwitz‘ weitere Erläuterung, dass die Lebenslagen und Ansprüche dieser drei gesellschaftlichen Großgruppen sich erheblich unterscheiden: Die Angehörigen der „neuen Mittelschicht“ - die so etwa der klassischen Oberschicht der Arbeiterklasse entspricht, die Friedrich Engels „Arbeiteraristokratie“ nannte) - als aktiv Gestaltende des Wandels in den neuen Dienstleistungen, der Digitalisierung, der Bildungsexpansion usw. können sie die materiellen Mittel gewinnen für einen ambitionierten Lebensstil, der sich auch kulturell an den gesellschaftlich und global entgrenzten, individualistischen, auf permanente Selbstinszenierung gerichteten neoliberalen Wertewandel anpasst. Dann die übrig gebliebene „alte Mittelschicht“ aus Facharbeitern, Verwaltungsangestellten, kleinen Selbständigen, die großen Teils in die Verteidigung ihrer zunehmend unsicheren Existenzen gedrängt wird, worauf sie mit konservativer Sicherung des Altgewohnten gegen alles Neue und mit sozialer und nationaler Abschottung gegen alle Anderen reagiert. Schließlich die „neue Unterschicht“, die um ein menschenwürdiges Existenzminimum sowie erträgliche Arbeits- und Lebensbedingungen kämpft und sich dabei vielfach in Konkurrenz auch zu deklassierten Kleinbürgern, Zuwanderern usw. sieht.

An dieser Bestandsaufnahme, die ich grosso modo für zutreffend halte, setzen die folgenden Überlegungen an. Daraus ergibt sich, dass eine Sozialpolitik, wie sie den Markenkern der LINKEN bildet, nur bei der neuen Unterschicht auf überproportionale Zustimmung rechnen kann. Denn nur diese hat als einzige soziale Schicht ein starkes Eigeninteresse am Erhalt der Reste des ruinierten Sozialstaats. Und solange sie nur eine relativ einflussarme Minderheit der Gesellschaft ausmacht, liegt es in ihrem Interesse, zur Durchsetzung einer sozialeren und ökologisch verantwortbaren Politik sowohl mit der "neuen Mittelschicht" als auch mit Teilen des alten "Mittelstands" ein gesellschaftliches Bündnis anzustreben.

Nun stellt sich die Frage, wie bei derart unterschiedlichen Lebenslagen ein Bündnis dieser drei Großgruppen zustande kommen kann. Völlig konträr dazu liegt es jedenfalls, wenn die LINKE denjenigen Parteien, die in Programmatik und Praxis die Interessen der anderen erwerbstätigen Schichten vertreten - also in erster Linie SPD und Grünen, aber auch Piraten u.a. - Wähler abjagen will. Genau darauf zielen ausdrücklich jene Strömungen in der LINKEN, die sich einem Kosmopolitismus der "offenen Grenzen für Alle" verschrieben haben, das Nationale für nicht mehr zeitgemäß erklären, die großkapitalistische EU als angebliches Friedenswerk feiern und erhalten wollen, der Privatisierung öffentlicher Einrichtungen Vorschub leisten usw. Diese Strategie läuft darauf hinaus, anstelle der rechten Gegner die potentiellen Bündnispartner zu schwächen. Das Ergebnis wäre eine weitere Isolierung der LINKEN (was manche Wortführer*innen dieser Strömungen in prahlerischer Selbstüberschätzung in Kauf nehmen).

Nein, nicht mit linker Anpassung an liberale Ideologien können wir unsere Ziele erreichen. Neben den (öko-)liberalen Grünen und der (neo-)liberalen FDP eine dritte (links-)liberale Partei wäre nicht das, worauf das Wahlvolk am dringendsten wartet. Nein, unsere Ziele erreichen wir nur, wenn wir in den potentiellen Bündnisparteien diejenigen Kräfte stärken, die realistisch genug sind, um einzusehen, dass es nur einen einzigen Weg gibt, (wieder) regierungsfähig zu werden, nämlich gemeinsam. Und zwar wohlgemerkt, ohne dass eine der beteiligten Parteien sich in Richtung einer anderen verbiegen und ihre jeweilige Stammklientel verprellen muss wie die SPD in der GroKo!

Wer das nicht so sieht, mache sich die Zahlenverhältnisse klar, wie sie sich etwa anhand der aktuellen Sonntagsfragen darstellen. Danach hat die SPD auf absehbare Zeit keine Chance, weit über 20 Prozent der Wählerstimmen zu kommen, die Grünen erreichen mit 15 Prozent etwa das Limit ihres gesellschaftlichen Rückhalts, die LINKE bleibt mit maximal 10 Prozent auf ihre Stammklientel beschränkt; gemeinsam erreichen sie also um die 45 Prozent. Alle Hoffnungen, dass diese (grob geschätzten) Proportionen sich in absehbarer Zukunft entscheidend verschieben könnten, sind unernste Traumtänzerei.

Auf der Gegenseite kommen CDU/CSU und FDP zusammen auf ca. 40 Prozent. Folglich bringt jede von der CDU/CSU geführte Koalition immer mehr zusammen als SPD und Grüne ohne die LINKE. Das heißt, SPD und Grüne können nur entweder als Hilfstruppen der CDU/CSU mitregieren - oder gemeinsam mit der LINKEN regieren. Wer das bestreitet, ist ein Träumer oder ein Scharlatan, dem sein persönlicher Vorteil wichtiger ist als seine Wähler*innen.

Damit ein solches "R2G"-Bündnis dermaleinst zustande kommt und regierungsfähig wird, gilt es also vor allem, die gesellschaftlich wünschenswerte Vereinbarkeit der ursprünglichen Kernziele dieser drei Parteien herauszustellen, die nur gemeinsam das gewandelte (Selbst-)Bewusstsein der erwerbstätigen Klassen abbilden. Und die einzige Hoffnung der LINKEN für ihr langfristiges Überleben ist, dass diese realistische Einsicht in die gesellschaftliche Entwicklung der Bundesrepublik allmählich an Akzeptanz gewinnt. Daran mitzuwirken ist die alles entscheidende strategische Aufgabe der LINKEN.