Sonntag, 12. Mai 2019

Der Strategie-Streit der LINKEN muss weitergehen


Wegen einer zwar ungefährlichen, aber kraftraubenden Erkrankung konnte ich lange die öffentlichen Diskussionen um linke Politik nur aus der Ferne verfolgen und stellte dabei fest, dass sie auch ohne meine altklugen Ratschläge auskommt. Nun drängt es mich doch noch einmal zu einer Wortmeldung, aus aktuellem Anlass. Nach dem Formelkompromiss des letzten LINKEN-Parteitags im Streit um „offene Grenzen“ und nach dem Rückzug von Sahra Wagenknecht von ihren Parteiämtern ist es merkwürdig still um diesen Streit geworden, so dass manche innerhalb und außerhalb der Partei schon hoffen, ein unerklärtes Abrücken von „R2G“ oder von „aufstehen“ wäre schon der Sieg der Gegenseite. Doch auf Dauer würde die LINKE ein stilles Weiter-so nicht überleben.

Anlass zu meinen hier nur knapp umrissenen Überlegungen ist die schon öfter vorgetragene, Anfang Mai im „Stern“ wiederholte These des Kultursoziologen Andreas Reckwitz, der tiefgreifende ökonomische und technologische Strukturwandel der letzten Jahrzehnte habe die arbeitenden Klassen - Arbeiterklasse und kleine selbständig Erwerbstätige – mehr und mehr in drei etwa gleichgroße Blöcke (Schichten) umgruppiert: eine "neue Mittelschicht" gut qualifizierter Gewinner des Strukturwandels, die "alte Mittelklasse" als die verbliebenen Erben der ehemaligen "nivellierten Mittelstandsgesellschaft" (H.Schelsky), sowie die "neue Unterschicht" der gering Qualifizierten und "Abgehängten".

Marxist*innen kann diese Einteilung ebenso wenig überraschen wie Reckwitz‘ weitere Erläuterung, dass die Lebenslagen und Ansprüche dieser drei gesellschaftlichen Großgruppen sich erheblich unterscheiden: Die Angehörigen der „neuen Mittelschicht“ - die so etwa der klassischen Oberschicht der Arbeiterklasse entspricht, die Friedrich Engels „Arbeiteraristokratie“ nannte) - als aktiv Gestaltende des Wandels in den neuen Dienstleistungen, der Digitalisierung, der Bildungsexpansion usw. können sie die materiellen Mittel gewinnen für einen ambitionierten Lebensstil, der sich auch kulturell an den gesellschaftlich und global entgrenzten, individualistischen, auf permanente Selbstinszenierung gerichteten neoliberalen Wertewandel anpasst. Dann die übrig gebliebene „alte Mittelschicht“ aus Facharbeitern, Verwaltungsangestellten, kleinen Selbständigen, die großen Teils in die Verteidigung ihrer zunehmend unsicheren Existenzen gedrängt wird, worauf sie mit konservativer Sicherung des Altgewohnten gegen alles Neue und mit sozialer und nationaler Abschottung gegen alle Anderen reagiert. Schließlich die „neue Unterschicht“, die um ein menschenwürdiges Existenzminimum sowie erträgliche Arbeits- und Lebensbedingungen kämpft und sich dabei vielfach in Konkurrenz auch zu deklassierten Kleinbürgern, Zuwanderern usw. sieht.

An dieser Bestandsaufnahme, die ich grosso modo für zutreffend halte, setzen die folgenden Überlegungen an. Daraus ergibt sich, dass eine Sozialpolitik, wie sie den Markenkern der LINKEN bildet, nur bei der neuen Unterschicht auf überproportionale Zustimmung rechnen kann. Denn nur diese hat als einzige soziale Schicht ein starkes Eigeninteresse am Erhalt der Reste des ruinierten Sozialstaats. Und solange sie nur eine relativ einflussarme Minderheit der Gesellschaft ausmacht, liegt es in ihrem Interesse, zur Durchsetzung einer sozialeren und ökologisch verantwortbaren Politik sowohl mit der "neuen Mittelschicht" als auch mit Teilen des alten "Mittelstands" ein gesellschaftliches Bündnis anzustreben.

Nun stellt sich die Frage, wie bei derart unterschiedlichen Lebenslagen ein Bündnis dieser drei Großgruppen zustande kommen kann. Völlig konträr dazu liegt es jedenfalls, wenn die LINKE denjenigen Parteien, die in Programmatik und Praxis die Interessen der anderen erwerbstätigen Schichten vertreten - also in erster Linie SPD und Grünen, aber auch Piraten u.a. - Wähler abjagen will. Genau darauf zielen ausdrücklich jene Strömungen in der LINKEN, die sich einem Kosmopolitismus der "offenen Grenzen für Alle" verschrieben haben, das Nationale für nicht mehr zeitgemäß erklären, die großkapitalistische EU als angebliches Friedenswerk feiern und erhalten wollen, der Privatisierung öffentlicher Einrichtungen Vorschub leisten usw. Diese Strategie läuft darauf hinaus, anstelle der rechten Gegner die potentiellen Bündnispartner zu schwächen. Das Ergebnis wäre eine weitere Isolierung der LINKEN (was manche Wortführer*innen dieser Strömungen in prahlerischer Selbstüberschätzung in Kauf nehmen).

Nein, nicht mit linker Anpassung an liberale Ideologien können wir unsere Ziele erreichen. Neben den (öko-)liberalen Grünen und der (neo-)liberalen FDP eine dritte (links-)liberale Partei wäre nicht das, worauf das Wahlvolk am dringendsten wartet. Nein, unsere Ziele erreichen wir nur, wenn wir in den potentiellen Bündnisparteien diejenigen Kräfte stärken, die realistisch genug sind, um einzusehen, dass es nur einen einzigen Weg gibt, (wieder) regierungsfähig zu werden, nämlich gemeinsam. Und zwar wohlgemerkt, ohne dass eine der beteiligten Parteien sich in Richtung einer anderen verbiegen und ihre jeweilige Stammklientel verprellen muss wie die SPD in der GroKo!

Wer das nicht so sieht, mache sich die Zahlenverhältnisse klar, wie sie sich etwa anhand der aktuellen Sonntagsfragen darstellen. Danach hat die SPD auf absehbare Zeit keine Chance, weit über 20 Prozent der Wählerstimmen zu kommen, die Grünen erreichen mit 15 Prozent etwa das Limit ihres gesellschaftlichen Rückhalts, die LINKE bleibt mit maximal 10 Prozent auf ihre Stammklientel beschränkt; gemeinsam erreichen sie also um die 45 Prozent. Alle Hoffnungen, dass diese (grob geschätzten) Proportionen sich in absehbarer Zukunft entscheidend verschieben könnten, sind unernste Traumtänzerei.

Auf der Gegenseite kommen CDU/CSU und FDP zusammen auf ca. 40 Prozent. Folglich bringt jede von der CDU/CSU geführte Koalition immer mehr zusammen als SPD und Grüne ohne die LINKE. Das heißt, SPD und Grüne können nur entweder als Hilfstruppen der CDU/CSU mitregieren - oder gemeinsam mit der LINKEN regieren. Wer das bestreitet, ist ein Träumer oder ein Scharlatan, dem sein persönlicher Vorteil wichtiger ist als seine Wähler*innen.

Damit ein solches "R2G"-Bündnis dermaleinst zustande kommt und regierungsfähig wird, gilt es also vor allem, die gesellschaftlich wünschenswerte Vereinbarkeit der ursprünglichen Kernziele dieser drei Parteien herauszustellen, die nur gemeinsam das gewandelte (Selbst-)Bewusstsein der erwerbstätigen Klassen abbilden. Und die einzige Hoffnung der LINKEN für ihr langfristiges Überleben ist, dass diese realistische Einsicht in die gesellschaftliche Entwicklung der Bundesrepublik allmählich an Akzeptanz gewinnt. Daran mitzuwirken ist die alles entscheidende strategische Aufgabe der LINKEN.

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