Freitag, 18. August 2017

Deutschland im Agenda-Rausch – Europa im Kater? Nach der Bundestagswahl kriegen wir die Rechnung.

Sämtliche bürgerlichen Parteien zielen mit ihrer Wahlpropaganda auf die "Mitte der Gesellschaft". Sie umfasst nicht nur das komplette Groß- und Kleinbürgertum, sondern auch die verbürgerlichten Schichten der Arbeiterschaft, also die "Arbeiteraristokratie" (Engels/Lenin), die Mehrheit der technischen Intelligenz und der Wissenschaft, privilegierte Facharbeiter sowie die Restbestände der christlichen und der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung. Diese bürgerliche und verbürgerte Mitte bildet die breite Mehrheit der Wahlbevölkerung.

Einzig die LINKE hat die Bedürfnisse und Forderungen der "Unterschicht", der einfachen Lohnarbeiter-innen, Benachteiligten und Abgehängten zur Kernbotschaft ihres Wahlkampfs gemacht. Solange sie auf diesem Bein steht, ist und bleibt sie Repräsentantin einer Minderheit der Wahlberechtigten. Im Zeitverlauf nimmt die Zuordnung zur Arbeiterschicht ab. Nach Daten von ALLBUS stuften sich 2016 noch 19 Prozent der Erwerbstätigen als Arbeiter ein, 2000 waren es noch 30 Prozent, 1976 ordneten sich 37 Prozent als Angehörige der »Arbeiterschicht« und 55 Prozent als der »Mittelschicht« zu.

Darüber hinaus darf jedoch eine umfassende linke Strategie nicht darauf verzichten, die Interessengegensätze zwischen den „Großkopfeten“ und der von diesen ausgeplünderten Bevölkerungsmehrheit aufzudecken. Unser Wahlkampf kann folglich nicht nur um die Verteidigung der Hartz-IV-Opfer gegen Verarmung und Entrechtung durch die Agenda 2010 gehen, sondern auch um den Nachweis, wie die Agenda-Politik die ganze Volkswirtschaft, die Lebensgrundlage der Mehrheit tief geschädigt hat und weiter schädigt - und das nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa.

Bei genauerem Hinsehen müssen wir allerdings zur Kenntnis nehmen, dass die Agenda-Politik nicht nur dem großen Kapital nützt, das sie in Auftrag gegeben hat, sondern dass bestimmte Schichten und Interessengruppen des Bürgertums und sogar des Proletariats kurzfristige Gewinne aus ihr ziehen, die dazu verleiten, vor den gesamtwirtschaftlichen und langfristigen Schäden die Augen zu schließen.

Vor kurzem traf ich einen mir bekannten Ingenieur eines großen Dortmunder Technologieunternehmens. Er glaubt sich vor Hartz IV einigermaßen sicher, auch weil die Politik der Großen Koalition den lange anhaltenden Wirtschaftsaufschwung ermöglicht habe, mit stetig steigender Beschäftigung und deutlicher Abnahme der Arbeitslosigkeit. Das hätten wir nicht zuletzt Schröders Agenda zu verdanken, meinte er.

Meinen Einwand, dass der Beschäftigungszuwachs vor allem aus der massiven Ausweitung von Leiharbeit, Befristungen, Zerlegung von Vollzeit- in Teilzeitstellen und Minijobs besteht, was auch alles ab 2003 mit der Agenda gesetzlich befördert wurde, ließ er nur zum Teil gelten: Zwar seien von den mehr als 4 Millionen zusätzlichen Beschäftigungsverhältnissen seit dem Start der Agenda  tatsächlich 3,2 Millionen sogenannte "atypische" oder "prekäre" Jobs (eben Leiharbeit, Teilzeit, befristete und Minijobs u.a.) - aber immerhin auch fast eine Million neue Normal-Arbeitsverhältnisse entstanden. Diese seien doch zweifellos das Ergebnis der verbesserten Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Unternehmen. Das sehe er am wachsenden Exporterfolg des Unternehmens, in dem er arbeitet.

Auf die Frage nach den Ursachen der deutschen Exporterfolge reicht allerdings sein berechtigter Stolz auf seine "deutsche Wertarbeit" nicht aus. Wie mein Bekannter einräumen musste, ist am Weltmarkt mindestens ebenso wichtig wie die Qualität der Produkte ihr Preis. Und da wären wir wieder bei der Politik…

…Ein erklärtes Ziel der Schröder-Agenda und aller ihrer Macher bis heute ist, deutsche Produkte am Weltmarkt preisgünstiger anbieten zu können. Der entscheidende Hebel dafür ist die Senkung der Lohnstückkosten. Vor allem dies versteht die deutsche Wirtschaftspolitik unter "Wettbewerbsfähigkeit", genau dies bezweckt ihre Agenda:

Durch Absenkung der früheren Arbeitslosenhilfe auf das ALG-2-Niveau, durch Sanktionsdruck auf Arbeitslose, vor allem aber durch die neuen Zumutbarkeitsregeln und die enorme Ausweitung der "atypischen" Arbeitsverhältnisse schufen Schröder und seine Nachfolger Europas breitesten Niedriglohnsektor. Der Sozialdemokrat erpresste sogar die Gewerkschaften damit, das Günstigkeitsprinzip im deutschen Arbeitsrecht abzuschaffen, wenn sie sich nicht auf Öffnungsklauseln in den Tarifverträgen einließen. Die Exportstärke der deutschen Wirtschaft wurde unterstützt durch betriebliche Bündnisse mit Betriebsräten und durch Verzicht auf Lohnerhöhungen, der zugleich den Konsum einschränkte.

Mehr als 15 Millionen Menschen haben seitdem zumindest zeitweilig mit Hartz IV Bekanntschaft machen müssen. Eine Fürsorgeleistung auf Sozialhilfeniveau, scharfe Sanktionen und Zumutbarkeitsregeln entfalten ihre disziplinierende Wirkung auf die gesamte Arbeitnehmerschaft. Arbeit zu 1 Euro 50 die Stunde und der Zwang zur Annahme der miesesten Jobs bis an die Grenze der Sittenwidrigkeit haben die Bereitschaft aller Beschäftigten erhöht, schlechter entlohnte Jobs und ungünstigere Arbeitsbedingungen zu akzeptieren. Diese Abschreckungseffekte sind auch Ursache dafür, dass freiwillige Arbeitsplatzwechsel abnehmen. Berufliche Aufstiegschancen und die Eintrittschancen für Arbeitslose werden so verbaut.

So wurde die von den Unternehmern gewünschte Wettbewerbsfähigkeit erfolgreich geschaffen. Ja, Deutschland ist auf Rekordkurs. Es hat 2016 einen Leistungsbilanz-Überschuss von über 300 Milliarden Dollar erreicht. Das ist deutlich mehr als im Vorjahr und entspricht einem neuen Weltrekord. (China rutschte mit einem Überschuss von 260 Milliarden Dollar auf den zweiten Weltrang ab.)

Ist das nicht supergeil? - Leider nicht, sondern schlicht irre. Einem Überschuss in der Leistungsbilanz steht zwingend ein gleich hohes Defizit in der Kapitalbilanz mit dem Ausland gegenüber. Einfacher gesagt: 300 Milliarden Dollar flossen aus Deutschland ins Ausland ab. Damit baut Deutschland laufend höhere Forderungen gegenüber dem Rest der Welt auf. Dauerhaft hohe Leistungsbilanz-Ungleichgewichte gefährden folglich die Stabilität des Wirtschafts- und Finanzsystems. Daher wurde innerhalb der EU der maximal tolerierte Überschuss auf 6 Prozent des Bruttoinlandprodukts begrenzt. - Deutschlands Leistungsbilanzüberschuss beträgt aber fast 9 Prozent des BIP, nach 8,5 Prozent im Vorjahr. Die Folge ist: Die deutschen Exportüberschüsse treiben die anderen Euroländer in die Defizitzone und in die Verschuldung und befeuern einen ruinösen Wettbewerb um die niedrigsten Löhne weltweit.

Der jährliche deutsche Kapitalexport übersteigt das komplette BIP von Dänemark, Irland oder eines jeden der 16 schwächeren unter den 28 EU-Ländern (sogar der acht schwächsten Länder gemeinsam). Anders gesagt, eignen sich die deutschen Gläubiger Jahr für Jahr den Gegenwert der kompletten Wirtschaftsleistung kleinerer Länder an. Es liegt aber keineswegs im Interesse der deutschen Bevölkerung, dass derart viel Kapital aus dem Land abfließt. Der horrende Kapitalüberschuss besagt nämlich auch, dass die deutsche Bevölkerung die Früchte ihrer Arbeit nicht voll genießen kann. Die inländischen Ersparnisse sind um 300 Milliarden Dollar höher als die inländischen Investitionen und der inländische Konsum, und diese Differenz verschwindet als Kapitalexport ins Ausland. Ein hoher Leistungsbilanzüberschuss bedeutet nicht einfach, dass deutsche Produkte auf dem Weltmarkt so gefragt sind, weil sie so gut sind. Er bedeutet vor allem, dass Deutschland zu wenig investiert und zu wenig konsumiert.

Und das liegt an der Verteilung der verfügbaren Einkommen. Deren Ungleichheit hat in Deutschland in den vergangenen 20 Jahren gigantisch zugenommen. Auch das begünstigt durch die Agenda-Politik. Die Unternehmer- und Vermögenseinkommen stiegen von 2000 bis 2014 um 30 Prozent - viermal so stark wie die Löhne. Während die zehn Prozent Bestverdiener ihr verfügbares Einkommen um 14 Prozent steigerten, blieb in der Mitte gerade mal ein Prozent übrig - und das ärmste Zehntel verlor neun Prozent. Der Anteil der Niedriglöhner, die weniger als zwei Drittel des Durchschnittslohns erhalten, stieg bis 2010 auf 22 Prozent aller Beschäftigten. Höher ist er in der EU nur im Baltikum, in Polen, Rumänien und Zypern. (Inzwischen hat sich der Anteil der Niedriglöhner "stabilisiert", auch dank dem gesetzlichen Mindestlohn, dem bislang einzigen größeren Bruch mit der Agenda-Politik).

Eine weitere Langzeitfolge der Agenda 2010: Stundenlöhne unter 12 Euro erhöhen das Armutsrisiko im Alter, die Niedriglöhne haben es massiv erhöht und treiben es fast ungebremst auf eine soziale Katastrophe zu.

Die Lösung? Mehr Konsum im Inland steigert auch die Investitionen im Inland. Also endlich raus aus den Armutslöhnen, weg mit der Agenda. Der Bundestagsabgeordnete Fabio de Masi von der LINKEN: "Ein Wert von 50% des BIP als Exporte1 ist völlig verrückt. Ziel muss es sein, die Ungleichheit zu verringern. Das sorgt – und das sagt mittlerweile selbst die OECD – für mehr Wachstum. Selbst die EZB sagt mittlerweile, das billige Geld kommt in der Realwirtschaft nicht an, weil es zu wenig Nachfrage gibt. Und wenn ich die Nachfrage dämpfe, dann brummt der Laden nicht und ich brauche nicht mehr Leute."

So trägt der lange Agenda-Aufschwung den Keim für die nächste, noch tiefere Wirtschaftskrise schon in sich. Und alle, die sich heute an den Exporterfolgen berauschen und eine Agenda-Partei wählen, müssen sich nicht wundern, wenn Europa uns nach der Bundestagswahl die Rechnung präsentiert.
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1 Die Exportquote am deutschen BIP betrug 2016: 38,5 % und dürfte 2017 die 40-Prozent-Marke überschreiten.

Dienstag, 1. August 2017

Emmanuel Macron und seine Freunde. Teil 4 - Schluss

Aufmerksam verfolgen die deutschen Medien, wie der neue US-Präsident seine Spitzenbeamten einen nach dem anderen entweder direkt aus dem Big Business herüber zieht oder aus dem Militär, das über die Rüstungsindustrie eng mit dem Big Business verbandelt ist. Seit Trump sehen auch bürgerliche Kreise das Weiße Haus als eine Art Zweigstelle der Wallstreet.

Ganz anders beim neuen französischen Präsidenten. Da nahm die deutsche Öffentlichkeit gerade noch wahr, dass der Liebling der Oberschicht vor seinem Wechsel in die Politik seine ersten Millionen als Investmentbanker machte. Aber wie eng seine Verbindung mit dem französischen Geldadel ist, so eng, dass seine Bewegung „En Marche“ praktisch in den Chefetagen großer Wirtschaftsunternehmen ausgeheckt wurde, darüber findet sich in unseren Massenmedien so gut wie nichts. Erst mit gezielter Suche in der Wirtschaftspresse fand ich Hinweise auf ein gutes Dutzend der reichsten Franzosen und Französinnen, die Macron’s Wahlkampf finanziell und logistisch unterstützten. Sie alle sind Multi-Milliardäre, ihre Vermögenswerte summieren sich auf fast 200 Milliarden Euro (1 Milliarde = 1.000 Millionen).

Die illustre Schar wird angeführt von Bernard Arnault, dem reichsten Mann Frankreichs, mit einem geschätzten Vermögen von 48 Milliarden Euro auf Platz 13 der FORBES-Weltrangliste. Ihm gehört die Unternehmensgruppe LVMH (Louis Vitton-Muet-Hennessy und das Modehaus Dior). Arnault hat Macron‘s Wahlkampf finanziell und mit einem persönlichen Wahlaufruf massiv unterstützt. Er ist auch Besitzer der Zeitungen Le Parisien, Aujourd’hui France und Les Echos, mit denen er die Wahl beeinflusste.
Arnaults Tochter und ihr Mann, der Internet-Milliardär und Großaktionär der Tageszeitung Le Monde, Xavier Niel, Vermögen: 8,6 Mrd. €, sind mit den Macrons befreundet.

In der Liste von Macron’s Wahlhelfer-innen folgt auf Platz 2 die reichste Frau der Welt: Liliane Bettencourt, Haupteigentümerin des Kosmetikkonzerns L’Oreal, mit einem geschätzten Vermögen von 39 Milliarden Euro.

Dem Vermögen nach an dritter Stelle (23,4 Mrd. €) stehen die Brüder Wertheimer, die gemeinsam den Chanel-Konzern besitzen und lenken.

Francois Pinaud, Eigentümer von Yves St.Laurent, Gucci und Puma (Vermögen 18 Mrd. €)…

…wird gefolgt von Serge Dassault, dem Eigentümer eines der großen europäischen Rüstungskonzerne und der Tageszeitung Le Figaro (Vermögen 17 Mrd. €).

Erwähnt sei noch Patrick Drahi, ein Medienmogul, Chef des luxemburgischen Kabel- und Telekommunikationskonzerns Altice, Hauptaktionär des zweitgrößten französischen Mobilfunkanbieters SFR (Société française de radiotéléphonie) – zum Kauf 2014 verhalf ihm Macron! – sowie mehrerer Zeitungen (La Libération, L’Express, L’Expansion), geschätztes Vermögen an die 14 Mrd. €.

Es fällt auf, dass die meisten dieser Tycoons neben ihrer Industrie- und Handelsmacht auch maßgebliche Anteile an fast allen großen Tageszeitungen und vielen Zeitschriften halten (Le Monde, Le Figaro, La Libération, Le Parisien, Aujourd’hui France, Les Echos usw.) und über sie die öffentliche Meinung beherrschen.

Über diese Namen kommen wir auch der geheimnisvollen Geburt der „Bewegung En Marche“ auf die Spur. Es ist ja nicht alltäglich, dass ein junger politischer Seiteneinsteiger fast über Nacht eine „Bewegung“ mit Hunderttausenden Anhängern aus dem Boden stampft, die ihn nach wenigen Monaten ins höchste Staatsamt trägt. Das konnte nur gelingen, weil die mächtigen Hintermänner und –frauen seine Wahl nicht nur mit vielen Millionen Euro und persönlicher Stimmungsmache beförderten, sondern ihm direkt Management und Logistik für En Marche stellten.

So stammen einige Manager von Macron’s „Bewegung“ aus den Chefetagen des Kommunikationskonzerns von Patrick Drahi. Sogar einer von Arnault‘s Direktoren „begleitete“ die Gründung von En Marche. Und schließlich hatte Sylvain Fort, Macron's PR-Chef, Redenschreiber und Architekt seiner Wahlkampagne vor dem Eintritt in den Führungszirkel der „Bewegung“ (August 2016) für die Großbank BNP Paribas, die Kommunikations-Agentur von Vincent Bolloré, einem weiteren milliardenschweren Förderer Macron‘s, und für den Multi-Milliardär Bernard Arnault (siehe oben) gearbeitet. Man darf also vermuten, dass Fort‘s Wechsel zu En Marche direkt mit den großen Gönnern abgesprochen, wenn nicht von ihnen arrangiert war.

Warum unsere Desinformationsmedien diese Hintergründe der Präsidentenwahl lieber im Dunkeln lassen, ist leicht zu verstehen. Führt doch nur ein kurzer Gedankenschritt von diesen Kenntnissen zu der Frage, für wen der Herr aus den „besten Kreisen“ Politik macht. Und wenn er sie für diese seine Kreise macht, die ihn dorthin geschoben haben, damit er ihnen nützt – dann stellt sich in einer Klassengesellschaft sofort die Frage, ob er damit auch der Mehrheit seiner Untertanen nützt – oder schadet?

Dann werfen seine Anleihen bei Schröder‘s Agenda 2010 und Merkel-Schäuble‘s „schwarzer Null“ (siehe Teil 3 dieser Serie) auch hier aufs neue peinliche Fragen an die Herrschenden auf. Das mögen unsere Meinungsmacher lieber nicht riskieren.