Sämtliche bürgerlichen Parteien zielen mit ihrer Wahlpropaganda
auf die "Mitte der Gesellschaft". Sie umfasst nicht nur das komplette
Groß- und Kleinbürgertum, sondern auch die verbürgerlichten Schichten der
Arbeiterschaft, also die "Arbeiteraristokratie" (Engels/Lenin), die
Mehrheit der technischen Intelligenz und der Wissenschaft, privilegierte
Facharbeiter sowie die Restbestände der christlichen und der
sozialdemokratischen Arbeiterbewegung. Diese bürgerliche und verbürgerte Mitte
bildet die breite Mehrheit der Wahlbevölkerung.
Einzig die LINKE hat die Bedürfnisse und Forderungen der
"Unterschicht", der einfachen Lohnarbeiter-innen, Benachteiligten und
Abgehängten zur Kernbotschaft ihres Wahlkampfs gemacht. Solange sie auf diesem
Bein steht, ist und bleibt sie Repräsentantin einer Minderheit der
Wahlberechtigten. Im Zeitverlauf nimmt die Zuordnung zur Arbeiterschicht ab.
Nach Daten von ALLBUS stuften sich 2016 noch 19 Prozent der Erwerbstätigen als
Arbeiter ein, 2000 waren es noch 30 Prozent, 1976 ordneten sich 37 Prozent als
Angehörige der »Arbeiterschicht« und 55 Prozent als der »Mittelschicht« zu.
Darüber hinaus darf jedoch eine umfassende linke Strategie
nicht darauf verzichten, die Interessengegensätze zwischen den „Großkopfeten“
und der von diesen ausgeplünderten Bevölkerungsmehrheit aufzudecken. Unser
Wahlkampf kann folglich nicht nur um die Verteidigung der Hartz-IV-Opfer gegen
Verarmung und Entrechtung durch die Agenda 2010 gehen, sondern auch um den
Nachweis, wie die Agenda-Politik die ganze Volkswirtschaft, die Lebensgrundlage
der Mehrheit tief geschädigt hat und weiter schädigt - und das nicht nur in
Deutschland, sondern in ganz Europa.
Bei genauerem Hinsehen müssen wir allerdings zur Kenntnis
nehmen, dass die Agenda-Politik nicht nur dem großen Kapital nützt, das sie in
Auftrag gegeben hat, sondern dass bestimmte Schichten und Interessengruppen des
Bürgertums und sogar des Proletariats kurzfristige Gewinne aus ihr ziehen, die
dazu verleiten, vor den gesamtwirtschaftlichen und langfristigen Schäden die
Augen zu schließen.
Vor kurzem traf ich einen mir bekannten Ingenieur eines
großen Dortmunder Technologieunternehmens. Er glaubt sich vor Hartz IV
einigermaßen sicher, auch weil die Politik der Großen Koalition den lange
anhaltenden Wirtschaftsaufschwung ermöglicht habe, mit stetig steigender
Beschäftigung und deutlicher Abnahme der Arbeitslosigkeit. Das hätten wir nicht
zuletzt Schröders Agenda zu verdanken, meinte er.
Meinen Einwand, dass der Beschäftigungszuwachs vor allem aus
der massiven Ausweitung von Leiharbeit, Befristungen, Zerlegung von Vollzeit-
in Teilzeitstellen und Minijobs besteht, was auch alles ab 2003 mit der Agenda gesetzlich
befördert wurde, ließ er nur zum Teil gelten: Zwar seien von den mehr als 4
Millionen zusätzlichen Beschäftigungsverhältnissen seit dem Start der
Agenda tatsächlich 3,2 Millionen
sogenannte "atypische" oder "prekäre" Jobs (eben
Leiharbeit, Teilzeit, befristete und Minijobs u.a.) - aber immerhin auch fast
eine Million neue Normal-Arbeitsverhältnisse entstanden. Diese seien doch
zweifellos das Ergebnis der verbesserten Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Unternehmen.
Das sehe er am wachsenden Exporterfolg des Unternehmens, in dem er arbeitet.
Auf die Frage nach den Ursachen der deutschen Exporterfolge
reicht allerdings sein berechtigter Stolz auf seine "deutsche
Wertarbeit" nicht aus. Wie mein Bekannter einräumen musste, ist am
Weltmarkt mindestens ebenso wichtig wie die Qualität der Produkte ihr Preis.
Und da wären wir wieder bei der Politik…
…Ein erklärtes Ziel der Schröder-Agenda und aller ihrer
Macher bis heute ist, deutsche Produkte am Weltmarkt preisgünstiger anbieten zu
können. Der entscheidende Hebel dafür ist die Senkung der Lohnstückkosten. Vor
allem dies versteht die deutsche Wirtschaftspolitik unter
"Wettbewerbsfähigkeit", genau dies bezweckt ihre Agenda:
Durch Absenkung der früheren Arbeitslosenhilfe auf das
ALG-2-Niveau, durch Sanktionsdruck auf Arbeitslose, vor allem aber durch die
neuen Zumutbarkeitsregeln und die enorme Ausweitung der "atypischen"
Arbeitsverhältnisse schufen Schröder und seine Nachfolger Europas breitesten
Niedriglohnsektor. Der Sozialdemokrat erpresste sogar die Gewerkschaften damit,
das Günstigkeitsprinzip im deutschen Arbeitsrecht abzuschaffen, wenn sie sich
nicht auf Öffnungsklauseln in den Tarifverträgen einließen. Die Exportstärke
der deutschen Wirtschaft wurde unterstützt durch betriebliche Bündnisse mit
Betriebsräten und durch Verzicht auf Lohnerhöhungen, der zugleich den Konsum
einschränkte.
Mehr als 15 Millionen Menschen haben seitdem zumindest
zeitweilig mit Hartz IV Bekanntschaft machen müssen. Eine Fürsorgeleistung auf
Sozialhilfeniveau, scharfe Sanktionen und Zumutbarkeitsregeln entfalten ihre
disziplinierende Wirkung auf die gesamte Arbeitnehmerschaft. Arbeit zu 1 Euro 50
die Stunde und der Zwang zur Annahme der miesesten Jobs bis an die Grenze der
Sittenwidrigkeit haben die Bereitschaft aller Beschäftigten erhöht, schlechter
entlohnte Jobs und ungünstigere Arbeitsbedingungen zu akzeptieren. Diese
Abschreckungseffekte sind auch Ursache dafür, dass freiwillige
Arbeitsplatzwechsel abnehmen. Berufliche Aufstiegschancen und die
Eintrittschancen für Arbeitslose werden so verbaut.
So wurde die von den Unternehmern gewünschte
Wettbewerbsfähigkeit erfolgreich geschaffen. Ja, Deutschland ist auf
Rekordkurs. Es hat 2016 einen Leistungsbilanz-Überschuss von über 300 Milliarden
Dollar erreicht. Das ist deutlich mehr als im Vorjahr und entspricht einem
neuen Weltrekord. (China rutschte mit einem Überschuss von 260 Milliarden Dollar
auf den zweiten Weltrang ab.)
Ist das nicht supergeil? - Leider nicht, sondern schlicht
irre. Einem Überschuss in der Leistungsbilanz steht zwingend ein gleich hohes Defizit
in der Kapitalbilanz mit dem Ausland gegenüber. Einfacher gesagt: 300
Milliarden Dollar flossen aus Deutschland ins Ausland ab. Damit baut
Deutschland laufend höhere Forderungen gegenüber dem Rest der Welt auf.
Dauerhaft hohe Leistungsbilanz-Ungleichgewichte gefährden folglich die
Stabilität des Wirtschafts- und Finanzsystems. Daher wurde innerhalb der EU der
maximal tolerierte Überschuss auf 6 Prozent des Bruttoinlandprodukts begrenzt.
- Deutschlands Leistungsbilanzüberschuss beträgt aber fast 9 Prozent des BIP,
nach 8,5 Prozent im Vorjahr. Die Folge ist: Die deutschen Exportüberschüsse
treiben die anderen Euroländer in die Defizitzone und in die Verschuldung und befeuern
einen ruinösen Wettbewerb um die niedrigsten Löhne weltweit.
Der jährliche deutsche Kapitalexport übersteigt das
komplette BIP von Dänemark, Irland oder eines jeden der 16 schwächeren unter
den 28 EU-Ländern (sogar der acht schwächsten Länder gemeinsam). Anders gesagt,
eignen sich die deutschen Gläubiger Jahr für Jahr den Gegenwert der kompletten
Wirtschaftsleistung kleinerer Länder an. Es liegt aber keineswegs im Interesse
der deutschen Bevölkerung, dass derart viel Kapital aus dem Land abfließt. Der
horrende Kapitalüberschuss besagt nämlich auch, dass die deutsche Bevölkerung
die Früchte ihrer Arbeit nicht voll genießen kann. Die inländischen Ersparnisse
sind um 300 Milliarden Dollar höher als die inländischen Investitionen und der
inländische Konsum, und diese Differenz verschwindet als Kapitalexport ins
Ausland. Ein hoher Leistungsbilanzüberschuss bedeutet nicht einfach, dass
deutsche Produkte auf dem Weltmarkt so gefragt sind, weil sie so gut sind. Er
bedeutet vor allem, dass Deutschland zu wenig investiert und zu wenig
konsumiert.
Und das liegt an der Verteilung der verfügbaren Einkommen. Deren
Ungleichheit hat in Deutschland in den vergangenen 20 Jahren gigantisch
zugenommen. Auch das begünstigt durch die Agenda-Politik. Die Unternehmer- und
Vermögenseinkommen stiegen von 2000 bis 2014 um 30 Prozent - viermal so stark
wie die Löhne. Während die zehn Prozent Bestverdiener ihr verfügbares Einkommen
um 14 Prozent steigerten, blieb in der Mitte gerade mal ein Prozent übrig - und
das ärmste Zehntel verlor neun Prozent. Der Anteil der Niedriglöhner, die
weniger als zwei Drittel des Durchschnittslohns erhalten, stieg bis 2010 auf 22
Prozent aller Beschäftigten. Höher ist er in der EU nur im Baltikum, in Polen,
Rumänien und Zypern. (Inzwischen hat sich der Anteil der Niedriglöhner
"stabilisiert", auch dank dem gesetzlichen Mindestlohn, dem bislang
einzigen größeren Bruch mit der Agenda-Politik).
Eine weitere Langzeitfolge der Agenda 2010: Stundenlöhne
unter 12 Euro erhöhen das Armutsrisiko im Alter, die Niedriglöhne haben es massiv
erhöht und treiben es fast ungebremst auf eine soziale Katastrophe zu.
Die Lösung? Mehr Konsum im Inland steigert auch die
Investitionen im Inland. Also endlich raus aus den Armutslöhnen, weg mit der
Agenda. Der Bundestagsabgeordnete Fabio de Masi von der LINKEN: "Ein Wert
von 50% des BIP als Exporte1 ist völlig verrückt. Ziel muss es sein, die Ungleichheit
zu verringern. Das sorgt – und das sagt mittlerweile selbst die OECD – für mehr
Wachstum. Selbst die EZB sagt mittlerweile, das billige Geld kommt in der
Realwirtschaft nicht an, weil es zu wenig Nachfrage gibt. Und wenn ich die
Nachfrage dämpfe, dann brummt der Laden nicht und ich brauche nicht mehr
Leute."
So trägt der lange Agenda-Aufschwung den Keim für die
nächste, noch tiefere Wirtschaftskrise schon in sich. Und alle, die sich heute an
den Exporterfolgen berauschen und eine Agenda-Partei wählen, müssen sich nicht
wundern, wenn Europa uns nach der Bundestagswahl die Rechnung präsentiert.
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1 Die
Exportquote am deutschen BIP betrug 2016: 38,5 % und dürfte 2017 die 40-Prozent-Marke
überschreiten.
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