Liebe Katja Kipping, lieber Bernd Riexinger,
eure Sehnsucht nach einer neuen Linken verstehe ich gut,
ohne sie zu teilen. Was jede-r sechste Ostdeutsche immer noch als vertraute
politische Heimatluft schnuppert, steigt den meisten von uns "Wessis"
wie abgestandener Mief der Party von gestern in die Nase. Der sozialistische Einheitsmief
der Plattenbausiedlungen - Klassenkampf - "die Internationale erkämpft das
Menschenrecht" - puh! Da wünscht sich mancheine-r eine Linkspartei, die
mit der Zeit geht, modern, weltoffen, wie ihr sagt.
Die Moderne - wer den Begriff zurückverfolgt, stößt auf
Erstaunliches: Die "Moderne" war ein Kampfbegriff in den Wendejahren
der DDR, als die SED nicht nur ein neues Image, sondern ein neues soziales
Bezugssystem suchte und sich zur gesamtdeutschen PDS umgründete. Blöd nur, dass
Modernisierung - im größeren Deutschland noch brutaler als vorher - zum Synonym
für die Unterwerfung alles Lebenden unter die Marktkonkurrenz wurde, für die Auflösung
aller sozialen Bindungen und Sicherheiten, für die totale Zurichtung des
Menschen auf die Logik der Kapitalverwertung. Das ist die Moderne, für die die
SED-PDS den miefigen Realsozialismus eintauschte.
Weltoffenheit - nun ja, wahrhaft weltoffen sind die
tausendstel-Sekunden-schnellen Finanzströme rund um den Globus, das
Landgrabbing der Superreichen auf allen Kontinenten, die weltumspannenden
Datennetze riesiger Kommunikationsindustrien. - Aber das meint ihr sicher
nicht. Sondern Weltoffenheit als ideologische Haltung. Früher nannte man es Konsmopolitismus.
Diese Ideologie war dem sozialistischen Internationalismus direkt
entgegengesetzt und wurde von östlichen Ideologen wütend bekämpft. Ihre
Entstehung und Funktion erklären Marxisten so:
Als vor etwa 150 Jahren der Kapitalismus sich zum
Imperialismus auswuchs und eine Handvoll Großmächte den ganzen Globus in ihre
Kolonialreiche, "Hinterhöfe" und Einflußsphären aufgeteilt hatte,
wuchs die Gefahr, dass die bürgerliche Ideologie des Nationalismus bei den
unterworfenen Völkerschaften zur Begründung nationaler Befreiungsbewegungen
umgedreht wurde. Eine neue Ideologie musste her, die die
"Arbeitsteilung" zwischen den reichen weltbeherrschenden Mächten und
den von ihnen abhängigen, ausgeplünderten Weltregionen rechtfertigte. Die ganze
Welt sei doch nur wie "ein Dorf", behaupteten nun die zeitgemäßen
Geister, am besten sei es deshalb, Nationalstaaten und deren Grenzen schnellstens
aufzuheben und das ganze Weltdorf von jeder staatlichen Bevormundung zu
befreien, indem man es sozusagen in globalen "NGO's" organisiert,
Interessengemeinschaften für alle menschlichen Bedürfnisse wie die UNO, die UNESCO,
die Weltbank, den Internationalen Währungsfonds, Freihandelszonen,
Verteidigungsbündnisse, Vereine für gegenseitige Hilfe, als Vorstufen einer künftigen Weltregierung, und die Wirtschaft
natürlich in weltumspannenden Konzernen, alles ganz frei von staatlichem Zwang.
Soweit die Ideologie des Kosmopolitismus. Wie solche
entgrenzten Dorfgemeinschaften funktionieren, können wir gut an der
Europäischen Union studieren, die ja auch ihr beide und andere LINKE-Wortführer
als scharfe Waffe gegen den Nationalismus verteidigt. Übrigens war die Macht,
die den europäischen Zusammenschluss in den 1950er bis -70er Jahren am energischsten
vorantrieb, nicht wie heute Deutschland, sondern die USA, die Europa als
starken westlichen Eckpfeiler zur Einkreisung des "Reichs des Bösen"
brauchten. Was lag da näher als die Umkehrung des nationalistischen Wahns, mit
dem die Nazis ihren Weltherrschaftsanspruch begründet hatten, ins genaue
Gegenteil, nämlich in das vorgebliche Ziel, alle Nationen schnellstens
abzuschaffen und damit in Europa sofort loszulegen.
Dass diese Fehlspekulation der Westmächte auf eine schnelle
Vereinigung Europas ausgerechnet den Nachfolgestaat des Nazireichs zur
erdrückenden Vormacht Europas beförderte, war bei der Gründung der EWG nicht
vorgesehen - aber doch eigentlich der einzig logische Ausgang dieser
Geschichte. Denn Nationen und ihre Egoismen lassen sich nun mal nicht einfach
per Weisung aus Brüssel, Washington oder Berlin auflösen, das ist ein sehr
langer historischer Prozess (weit über das Ende des Kapitalismus hinaus, siehe dazu
meine letzten Posts in diesem Blog). Im Kapitalismus führt aber die Konkurrenz
der Nationen unvermeidlich zum Sieg der stärksten Macht über die schwächeren.
Statt die Konkurrenz der Nationen aufzuheben, zerfällt nun
Europa insgesamt und jedes europäische Land immer dramatischer in
"Modernisierungsgewinner", die es verstehen, auf der
Globalisierungswelle obenauf mitzuschwimmen - überproportional gehäuft zu
finden in den "jungen urbanen Milieus" - und den Massen der
"Modernisierungsverlierer", die unter dem Druck der ihnen aufgezwungenen
Konkurrenz gegeneinander in dumpfen Nationalismus zurück drängen.
Diesen letzteren muss der ahistorische "Supranationalismus"
der EU mit seinen grenzüberschreitenden "vier Grundfreiheiten"
(grenzenloser Waren-, Dienstleistungs-, Kapital- und Personenverkehr), die
vorherrschende Ideologie der neoliberalen Eliten Europas, als Kampfansage
vorkommen. Und so ist sie auch gemeint. Ihr beide, Katja und Bernd, und alle
anderen linken Anhänger der kosmopolitischen Entgrenzung müsst euch also genau überlegen,
wessen Geschäfte ihr da unterstützt, wenn ihr heute "offene Grenzen für
Alle" fordert. Vielleicht denkt ihr nochmal drüber nach.
Mit solidarischem Gruß
Wolf Stammnitz
Die LINKE Dortmund
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