INTERNATIONALISMUS
UND RENATIONALISIERUNG
Eine linke Strategie
Renationalisierung ist ein Reizwort. Für wen? Nicht nur im deutschen
Sprachraum, vor allem aber dort, ist heute für Intellektuelle der Marker ihrer
sozialen Existenz schlechthin ein spezifischer Universalismus. Für sie wirkt
also der Begriff wie ein Fausthieb. Der Großteil der Bevölkerung hingegen ist
an diesen Auseinandersetzungen, wie am gewöhnlichen politischen Diskurs
insgesamt, wenig interessiert. Für die bedeutet somit auch dieser Slogan nicht
allzu viel. Er ist zu abstrakt.
Wozu also mit diesem Ausdruck provozieren, wenn er das
potenzielle Ziel-Publikum ohnehin kalt lässt?
Die Frage habe ich mir tatsächlich mehr als einmal
gestellt. Ich war drauf und dran, ihn aus taktischen Erwägungen aufzugeben.
Schließlich entschied ich mich doch, ihn weiter zu benutzen – wie ich glaube,
aus einer Reihe guter Gründe.
Die Linke ist in unseren Breiten auf marginale
Intellektuellen-Gruppen geschrumpft. Es wäre eine Verleugnung der Realität,
dies nicht zur Kenntnis zu nehmen. Wir sind also Teil einer mehr
intellektuellen als politischen Debatte und haben den Schritt in den politischen
Diskurs noch nicht wirklich geschafft. In diesem intellektuellen Kontext aber
macht das Konzept Sinn, gerade auch wegen seiner provokatorischen Wirkung. Es
stellt sich nämlich quer zu jenem Universalismus der Eliten, welcher das gerade
Gegenteil von Internationalismus ist, aber von vielen Linken grotesker Weise
damit verwechselt wird.
Zusätzlich bedeutet es auch einen gewissen Bruch mit
einer sozialistischen Tradition, welche in blauäugiger Weise noch immer die
Dominanz intellektueller Philosophen-Könige in der Arbeiter-Bewegung übersehen
möchte – und das nach dem Ende des 20. Jahrhunderts und seinen Katastrophen.
Denn der herrschaftliche Charakter dieser Intellektuellen-Truppe stand jenem
der globalen Elite in nichts nach. Es geht also, erstens, darum, die ständige
Tendenz zur neuen Herrschaft einer kleinen Gruppe in Frage zu stellen, indem
man auf die Gefahren verweist, welche das prinzipielle Überschreiten der
Alltags-Lebenswelt der großen Masse mit sich bringt und mit sich bringen muss.
Es geht, zweitens, auch darum, die eigene Stellung etwas zu relativieren.
Praktisch-politisch kommt dazu: Die radikale Linke des
europäischen Südens ist inzwischen weitgehend souveränistisch orientiert.
Da Souveränität ein Fetisch-Begriff der Staats-Theoretiker ist, birgt dies
durchaus auch Gefahren. Aber gleichzeitig ist es eine Orientierung auf ein
sinnvolles politisches Aktions-Feld. Eine neue politische Aktivität muss also
erst im Alltag des Kommunikationsverbunds einsetzen, den wir Nation nennen.
Die angeblich so universalistischen europäischen
Eliten sind ihrerseits ja durchaus national verankert. Sie beziehen ihre Macht
aus der herrschenden Nation und ihrer Politik. Wer sind die führenden
Bürokraten in Brüssel, und welche Interessen vertreten sie? Wenn uns Varoufakisirgend
etwas mitgeteilt hat, so ist es die gerade ängstliche Abhängigkeit der
EU-Finanzminister von jedem Mienenspiel Schäubles. Alle bemühen sich, ihm nach
dem Mund zu reden. Da kann er sich schon den Luxus leisten, das Wort zeitweise
Dijsselbloem zu überlassen. Die deutschen Eliten und Politiker haben sich also
„europäisiert“, indem sie die deutsche Ideologie und Politik auf Europa
ausgedehnt haben. In dieser Struktur eine Machtprobe gewinnen zu wollen, heißt
doch wohl, vor sich hin zu träumen. Allein aus diesen Gründen muss man diese
Struktur verlassen, um nur die geringste Chance zu haben. Griechen,
Portugiesen, Spanier und Italiener können gegen die Deutschen und ihre
Hilfstruppen schlichtweg in diesem Rahmen nicht gewinnen, selbst wenn ihre
Regierungen es wollten.
Die intellektuelle These Renationalisierung wird
auf diesem sehr kurzen Weg zur politischen These des national
organisierten sozialen Staats, des „Sozialstaats“. Den möchten die
übernationalen Eliten nämlich so schnell wie möglich auf den Misthaufen der
Geschichte verfrachten, und sie sind damit schon sehr weit gekommen. An die
Stelle einer sinnvollen Politik mit Ansätzen eines kollektiven Vorsorgestaats
im Rahmen einer Steuerung der ökonomischen Entwicklung, des Produktions- und
Verteilungs-Apparats, trat Armuts-Politik: „Politik gegen Armut und
Ausgrenzung“, wie es im EU-Programm so zynisch heißt.
Für diese Kräfte ist Renationalisierung eine
Provokation. Ihre Stärke besteht u. a. darin, dass sie auf die teils naive, zum
großen Teil aber durchaus bewusste Unterstützung von „Gutwilligen“ zählen
können. Umso dringlicher ist es, dass Tabu zu brechen. Der Paukenschlag des
Begriffs mag viele abschrecken. Aber er ist einmal notwendig, um manche
aufzuwecken. So wie es heute bereits zum politischen Akt wurde, zustimmend Marx
zu zitieren, so ist es die Berufung auf die nationale Lebenswelt der
Bevölkerung erst recht. In Wirklichkeit führen wir damit einen Kulturkampf
gegen die unerträgliche Arroganz der hegemonialen Öffentlichkeit: Wir stellen
uns damit auf die Seite der Unterschichten. Im Gegensatz zur Rechten wissen wir
aber, dass dies nur ein Schritt sein kann; dass wir an einer intellektuellen Debatte
weder vorbei kommen, noch vorbei wollen; dass wir keine Bewunderer von
primitiven Emotionen sind; dass wir einen rationalen Diskurs anstreben.
Albert F. Reiterer, 16.
Dezember 2015
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